Zitamun III - Unter dem Blätterdach von Neliar

Zitamun III – Unter dem Blätterdach von Neliar

Und er kam nicht zurück. Eine Rückkehr kam für Zitamun nicht in Frage. Und trotzdem überlebte er die nächsten Jahre unbeschadet. Sobald er es in die Gebiete der Menschen geschafft hatte, wurden größere Siedlungen und Städte häufiger, wodurch es auch leichter wurden, an Essen und Arbeit zu kommen. Viele Menschen schätzten seine Arbeitsbereitschaft und seine Gerissenheit sehr.

Und er, er konnte untertauchen im Gewühl verschiedenster großer Städte. Egal wie merkwürdig ihn einige Leute fanden, wenn die Stadt nur groß genug war, gab es immer jemanden, der nach verrückter war als er selbst.

Beinahe ein halbes Jahr lang fand er Unterschlupf bei einem alten Gelehrten in einer kleinen Stadt nahe Weyena. Dieser brachte ihm Lesen und Schreiben bei und im Gegenzug half er dem Alten bei allerlei schwierigen Tätigkeiten im Haus. Zitamun lernte schnell, doch eines Morgens wachte der Gelehrte nicht mehr auf und er musste wohl oder übel weiterziehen. Doch auch das ging, denn er war bei weitem keine sesshafte Person .

Nach drei Jahren des Umherziehens jedoch, empfand er tatsächlich eine gewisse Art des Heimwehs. Nicht nach Tenorley, nicht einmal nach den Wilderlanden im speziellen. Er sehnte sich einfach wieder nach grünen Wäldern und unberührter Natur, wie er sie in seiner Kindheit so viel erlebt hatte. Und da die Menschen dazu neigten, unberührte Natur mit ihren Städten zu überbauen, machte er sich abermals auf die Suche nach dem Neuen, nach dem Unbekannten.

Neliar, das Land der Waldelfen war sein neues Ziel und von den westlichen Menschenstädten war es nur eine kurze Reise bis in die dichten grünen Wälder des magischen Waldes Neliar, der ihn beinahe sofort in seinen Bann gezogen hatte.

Die Elfen waren für ihn wunderschöne und zugleich wunderliche Gestalten, die er immer wieder gerne aus der Ferne bestaunte. Sie waren nicht sonderlich groß, aber ihre Leichtfüßigkeit und Geschicklichkeit war für ihn immer wieder wundersam und immer eine Beobachtung wert.

Seinen Fähigkeiten als Ukleenry mit Eichhörnchen-Kzu hatte er es zu verdanken, dass er unter Elfen höchsten wegen seiner runden Ohrenform auffiel. Er war nicht größer oder breiter als die Bewohner des Waldes und konnte ihnen sogar mit seiner Geschicklichkeit konkurrieren.

Auch in Neliar verspürte er nur selten den Drang, an einem Ort zu bleiben. Viel mehr jedoch reizte ihn die Reise und das immer neu Entdecken von immer neuen Wunderlichkeiten, die der Wald zu bieten hatte.

Nie hätte er gedacht, dass er gerade hier unter den faszinierenden Baumwipfeln, einem der wunderbarsten Mädchen verfallen würde. Sie war sein größter Schatz und seine größte Schwäche zugleich.

Ihr Zusammentreffen war purer Zufall. Vielleicht eher Schicksal, wenn man den Ort ihres ersten Treffens beachtete. Wäre Zitamun nur einen Tag später am großen Baum der Elfen eingetroffen, dann wäre alles anders gekommen. Mancheiner würde wohl sogar sagen, es wäre besser gekommen.

Der Baum, der tief versteckt im Wald stand, war das Heiligtum der Waldelfen, ein Symbol ihrer Göttin Lavirzinia, zu der sie zwischen den Wurzeln des gigantischen Baumes beteten. Natürlich war die Göttin für sie in allem, im Wald und im Boden. Das war schließlich der Grund dafür, dass die Elfen die Natur so verehrten und am Leben erhielten. Die göttliche Macht steckte in jeder Faser der Natur, aber der große Baum war das ultimativer Symbol der Göttlichkeit des Waldes.

Zitamun besuchte den Baum nicht aus religiösen Gründen, auch wenn er nicht an den Göttern zweifelte. Er besuchte dieses Wahrzeichen der elfischen Kultur aus reinem Interesse und wurde sofort in den Bann der Magie des Ortes gezogen.

Das Geäst hing wie ein grünes Dach über den teils staunenden, teils betetenden Gestalten und der Stamm wirkte eher wie ein massiger Turm, so hoch und dick war er. Und während Zitamun so dastand, den Kopf in den Nacken gelegt und den Blick in das dunkle Grün gewandt, trat ein Elfenmädchen von hinten an ihn heran und tippte ihm schüchtern auf die Schulter.

„Entschuldigung?“

Erschrocken fuhr er zusammen und wandte sich auf der Stelle herum. Einige Sekunden später errötete wegen dieser völlig übertriebenen Reaktion. Er mochte einfach keine Überraschung. „Ja?“, fragte er deshalb vielleicht etwas grober, als nötig gewesen wäre.

„Tut mir Leid, dass ich dich erschreckt habe“, erklärte sie sofort entschuldigend. „Ich wollte nur fragen, ob du lesen kannst. Wir würden gerne ein paar Worte an die Göttin wenden, aber … wir können leider nicht lesen, was auf den Tafeln geschrieben steht.“ Gegen Ende wurde ihre Stimme immer leiser und ihr Gesicht nahm einen noch intensiveren Rotton an, als das von Zitamun.

„Oh … natürlich ...“, kam seine gestotterte Antwort, diesmal um einiges freundlicher.

Er folgte dem blonden Mädchen zu einer weiteren Elfe, die nahe einer steinernden Gebetstafel stand und nervös lächelte. Die Zweite war dunkelhaarig, aber an ihren Gesichtern konnte man ihnen deutlich ansehen, dass sie Schwestern sein mussten.

„Das ist meine Schwester Liana“, stellte die Blonde leise vor. Die andere nickte ihm freundlich zu und wandte ihren Blick dann wieder dem Baum zu. „Würdest du uns vielleicht eines der Gebete hier auf der Tafel übersetzen? Wir wären dir wirklich dankbar.“

„Selbstverständlich“, antwortete er lächelnd und beugte sich über den Stein. Mit kleinen, in den Stein geritzten Zeichen wurden allerlei mögliche Rituale beschrieben und er suchte sich einfach das erstbeste aus und las den Schwestern die Ritualabfolge und die Gebetsworte vor, ehe er sich zurückzog und die beiden ihren Gebeten überließ. Er wollte sie dabei lieber nicht stören, außerdem kam er sich inmitten der Betenden etwas unpassend vor – auch wenn er gar nicht ahnen konnte, wie sehr er sich damit irrte.

Doch anstatt die Lichtung, in deren Mitte der Baum stand, zu verlassen, blieb er an ihrem Rande stehen und betrachte die beiden Elfen, die nun zwischen den dicken Wurzeln des Baums knieten. Die jüngere, blonde Schwester hatte etwas seltsam kindliches an sich, auch wenn sie sicherlich nicht jünger war als Zitamun selbst. Vielleicht waren es die spitz zulaufenden Ohren, die bei ihr etwas weiter abstanden als bei ihrer Schwester oder das lockige Haar, dass ihren Kopf beinahe wie eine Mähne umgab. Er mochte sie und war zugleich verunsichert, denn nie zuvor hatte er etwas auch nur ansatzweise Vergleichbares empfunden.

Mit Mühe zwang er sich, den Blick wieder in das Astwerk über seinem Kopf zu richten, schließlich wollte er nicht beim Starren entdeckt werden. Zwischen den Blättern und Zweigen racshelte es in einem fort und er sah Vögel und Kleintiere gleichermaßen, die geschäftig von einem Baum zum anderen huschten. Es war wie eine eigene kleine Metropole, die die Größe des Waldes hatte. Ein großes zusammenhängendes Gebilde der Natur, dass nur von denjenigen Bewohnt werden konnte, die geschickt genug klettern konnten.

Nach einigen Augenblicken erkannte er auch Sabii. Das Eichhörnchen hockte beinahe direkt über ihn und knabberte eine kleine Nuss. Zitamun betrachtete seinen Kzu einige Sekunden lang eingehend. Der Wald tat dem Nagetier gut. Nie zuvor hatte Sabii sich besser gefühlt, das konnte er durch ihre Verbindung spüren, auch wenn diese nur mäßig ausgeprägt war. Das Eichhörnchen war ihm zwar auf seiner Reise gefolgt, näher gekommen waren sie sich trotz allem nicht wirklich. Dem stand schlicht und ergreifend noch immer der Verlust seiner Wolfsfamilie gegenüber und er konnte es einfach nicht vergessen, auch wenn es vielleicht für beide sehr viel besser wäre.

„Von wo kommst du eigentlich?“ Zum zweiten Mal an diesem Tag zuckte Zitamun erschrocken zusammen und senkte seinen Blick auf das Gesicht des blonden Mädchens, das ihn nun etwas schuldbewusst anschaute. „Ich habe dich schon wieder erschreckt, oder? Tut mir wirklich, wirklich Leid, ich mache das ganz bestimmt nicht mit Absicht!“ Sie lächelte schief. „Oh, und ich glaube, ich habe mich gar nicht selbst vorgestellt … Ich bin Analie.“

Er erwiderte schluckte und stellte erstaunt fest, dass es gar nicht so schwierig war, ihr Lächeln zu erwidern. „Mein Name ist Zitamun …“ Er überlegte kurz, wie viel er ihr verraten wollte und entschied sich dann für die Wahrheit. „Ich komme ursprünglich aus den Wilderlanden.“

„Ein Ukleenry? Wirklich? Ich habe gesehen, dass du kein Elf bist, aber damit habe ich nicht gerechnet.“ Mit den Worten kam ein strahlendes Lächeln und eine geradezu kindliche Freude. „Hast du auch einen Kzu? Liana hat mir immer erzählt, dass die Ukleenry alle einen Tierbegleiter haben … Und ich glaube, sie hat nicht gelogen … das macht sie nur selten.“

Er lachte und deutete nach oben. „Er sitzt da oben. Das Eichhörnchen.“

Analie legte den Kopf in den Nacken und bestaunte das Tier, als hätte sie nie zuvor ein Eichhörnchen gesehen. Irgendwie war es niedlich, auch wenn es bei jeder anderen Person gestellt gewirkt hätte. „Ich hätte auch gerne ein Tier, das mich mein Leben lang begleitet, glaube ich“, stellte sie verträumt fest. „Ich stelle es mir beruhigend vor, immer jemanden dabei zu haben, der einen versteht, egal was passiert.“

„Wenn du meinst ...“ Zitamuns Blick wanderte ebenfalls zu seinem Kzu, doch er konnte höchstens erahnen, was das Elfenmädchen mit ihren Worten wirklich meinte. Nein, Sabii hatte für ihn nie eine Beruhigung dargestellt … nicht wirklich.

„Und wo wohnst du jetzt?“, fragte Analie weiter, nachdem sie noch einige Momente lang das kleine Tier in den Ästen bestaunt hatte.

Er zuckte nur mit den Schultern und grinste auf ihren entgeisterten Gesichtsausdruck hin. „Seit einigen Jahren wandere ich nun schon einfach durchs die Gegend und suche mir jeden Abend einen neuen Schlafplatz … Und bis jetzt hat das wirklich immer ganz gut so funktioniert“, gestand er unberührt. „Als ich noch mit einem Rudel in den Wäldern im Osten gelebt habe, war mein Leben diesem hier sehr ähnlich.“

„Aber die Wälder sind gefährlich!“, kam es entsetzt von der Elfe, die ihn mit großen Augen anstarrte. „Und ich meine damit nicht nur Tiere, sondern auch schwarze Magier und Halunken, die nachts Ahnungslose überfallen, die sie auf ihrem Weg finden. Es gibt kaum Elfen, die die Einwohner des Waldes vor den dunklen Gestalten beschützen. Du kannst doch nicht einfach allein da draußen sein, wenn jederzeit jemand angreifen könnte.“

„Also bis jetzt wurde ich noch nicht angegriffen“, stellte er unbesorgt fest. „Vielleicht steht meine Reise durch die Wälder einfach unter einem guten Stern oder diese Verbrecher von denen du da sprichst verschmähen Ukleenry.“ Er lachte und als er einen geradezu finsteren Blick von Analie ernennte, lachte er nur noch stärker.

„Weißt du was, du wohnst jetzt einfach mit Liana und mir zusammen.“

Sofort verstummte sein Lachen und er starrte sie ungläubig an. „Ich komme wirklich allein zurecht, es hat bis jetzt immer funktioniert, warum sollte es plötzlich schief gehen?“

Ihr Gesicht nahm einen geradezu flehenden Ausdruck an. „Bitte, komm mindestens für diese Nacht mit uns mit. Wir haben ein kleines Haus gar nicht weit von hier und seit wir nur noch zu zweit dort wohnen, haben wir mehr als genug Platz dort.“

„Nein, deine Schwester würde das bestimmt nicht wollen“, wandte Zitamun ein und sie verzog das Gesicht.

„Liana wird nichts dagegen sagen.“

„Nur weil sie zu höflich wäre.“

„So ist Liana nicht, bitte!“

Er starrte sie an, während er verzweifelt nach weiteren Gegenargumenten suchte. Dabei wusste er nicht einmal, warum er nein sagte. Vielleicht wollte er ihnen nicht zur Last fallen oder die Aussicht, plötzlich wieder in Gesellschaft anderer Leute zu leben, verunsicherte ihn. Er wusste es nicht und weitere Argumente dagegen wollten ihm auch nicht einfallen, also starrte er sie einfach weiter an.

„Also kommst du mit uns mit? Das ist wunderbar. Ich muss sofort Liana Bescheid sagen!“ Damit rannte sie zurück zu ihrer Schwester, um ihm jede Gelegenheit des Widerspruchs effektiv zu nehmen.

Seufzend schüttelte der den Kopf und folgte ihr mit etwas Abstand. Der Gedanke, die Nacht seit langer Zeit wieder in einem richtigen Haus zu verbringen, war seltsam, aber willkommen. Warum eigentlich nicht, es war ja nur für diese eine Nacht.

Aus einer Nacht wurde weit mehr, denn sobald er einmal eines der freien Zimmer im Haus bezogen hatte, ließ ihn Analie bestimmt nicht mehr davon kommen. Um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, war sie eine Art Handel mit dem unsicheren Ukleenry eingegangen. Er brachte den beiden Schwestern das Lesen und Schreiben bei und im Gegenzug durfte er bei ihnen wohnen. Außerdem half er beim Beschaffen von Essen, was für ihn, dank seiner zahlreichen Erfahrungen, kaum ein Problem darstellte. Zitamun konnte hart arbeiten, er hatte es mehr als einmal getan, immer dann wenn es nötig geworden war. Und der Wald bot mehr als genug Nahrung für seine Bewohner, da änderte es nichts daran, dass da nun einer mehr war, der nach Beeren, Knollen und Wurzeln suchte.

Und Analie … sie war Wohl oder Übel das Einzige, was ihn wirklich an einem Ort hielt, auch wenn Liana sich ihm gegenüber ebenso freundlich verhielt. Er wurde einfach förmlich in den Bann gezogen, von der Lebenslust der jungen Elfe. Es war immer wieder erstaunlich, für wie viel sie sich begeistern konnte. Jedes noch so gängige Naturphänomen brachte sie immer wieder zum Staunen und ihrer Gegenwart erlernte auch Zitamun wieder, sich über die Kleinen Dinge zu freuen, egal wie unbedeutend sie ihm früher erschienen wären.

An seiner Beziehung zu Sabii konnte allerdings nicht einmal Analies geradezu unheimliche Begeisterung für den kleinen Kzu etwas ändern. Das Eichhörnchen und der Ukleenry blieben einander zwei Unbekannte, obwohl sie nun schon seit so vielen Jahren gemeinsam die Welt bereist hatten.

Außerdem war seine elfische Freundin begeistert von allem, was mit den Traditionen der Ukleenry zutun hatte und er konnte ihr stundenlang aus seinem alten Leben in Tenorley erzählen, ohne dass sie sich ein einziges Mal langweilte. Nur von den ersten Jahren seines Leben, seinen Wolfsjahren erwähnte er nie etwas. Dieser Teil gehörte ihm alleine und wenn er diesem alten Leben nachtrauerte, dann nur insgeheim und wenn er alleine war. Auch wenn er sonst alles andere mit Analie teilte, dieses Detail nicht.

Sonst aber verbrachte er so viel Zeit wie nur irgendmöglich mit dem blonden Wirbelwind, egal ob im Wald oder über einem Buch. Das Gefühl der Unbefangenheit, dass ihn immer dann umgab, wenn er Zeit mit dem Mädchen verbrachte, verunsicherte ihn zu Beginn. Dann aber, begann er sich danach zu sehnen, wann immer er alleine war. Es war eine Art der Abhängigkeit, auch wenn es ganz gewiss nichts Negatives war.

„Kannst du klettern?“, fragte Analie ihn eines Tages und er nickte, weil dies die Wahrheit war. Wenn er eines konnte, dann war es klettern. „Wunderbar! Da drüben der Baum … weißt du welchen ich meine?“ Sie zeigte mit dem Finger auf einen besonders knorrigen Baum, der ein Stück größer war als die umliegenden Bäume.

„Meinst du die Eyche?“

Sie nickte und lachte, das Gesicht unter blonden Haaren versteckt. „Wer zuerst ganz oben ist gewinnt!“

Damit war sie auch schon los gerannt und er setzte ihr nach, sobald er die Überraschung überwunden hatte. Das war etwas, was sie immer wieder schaffte. Sie konnte ihn überraschen, immer und immer wieder, egal wie gut er sie mittlerweile schon kannte. Und je öfter er so überrascht wurde, desto weniger störten ihn die Überraschungsmomente. Vielleicht war es hin und wieder doch nicht ganz so schlecht, unvorbereitet zu sein. Diese Erkenntnis hatte er nur in Gesellschaft der Elfe erlangen können.

Als er den Baum erreicht hatte, zog sich Analie über ihm schon weiter ins Geäst und das mit einer Leichtigkeit, die er sonst nur selten bei anderen Personen gesehen hatte. Trotzdem war es für ihn kaum eine Schwierigkeit, die Elfe auf dem Weg in die obersten Teile des Baumwipfels zu überholen. Nicht ohne Grund war sein Kzu ein Tier der Bäume und nicht ohne Grund war er jahrelang über die Dächer Tenorleys geklettert, ohne damit Probleme zu haben. Für ihn war diese Art der Fortbewegung ebenso natürlich, wie das Laufen auf festem Grund und selbst die junge Waldelfe musste das neidlos anerkennen.

Sie schaute zu ihm hinauf, als er schon auf einem der letzten Äste saß, die noch stark genug waren, um ihn zu halten. Sein Blick wanderte über das Baumkronenmeer, in dessen Mitte er saß, und dann zurück zu dem Elfenmädchen. Analie lachte und verfiel gleich darauf in Husten, wodurch sie beinahe den Halt verlor und für einige Augenblicke nur noch mit einer Hand Halt hatte.

„Analie!“ Erschrocken beugte er sich vor und streckte ihr eine Hand hin, die sie dankbar ergriff. Während Zitamun noch immer geschockt dreinschaute, lachte sie schon wieder und ließ sich von ihm das letzte Stück nach oben ziehen.

„Mach sowas bloß nie wieder“, erklärte er mit blassem Gesicht.

Sie zuckte nur mit den Schultern. „Es ist ja nichts passiert.“

„Du wärst beinahe heruntergefallen.“ Er konnte nicht glauben, wie locker sie das hier nahm.

„Das kann schon passieren, wenn man einen Baum hinaufklettert“, erwiderte sie kichernd und klopfte ihm spielerisch auf die Schulter. „Das Risiko geht man ein.“ Er verdrehte die Augen, doch sie ließ sich nicht beirren. „Wie kommt es, dass du so unheimlich gut kletterst?“

„In Tenorley war ich immer auf den Dächern der Stadt unterwegs, um auszuspähen, wo in der Stadt es gerade ungemütlich wurde“, begann er und erzählte ihr von den Tagen, die er über der Straße verbracht hatte, von Personen, die er unbemerkt beobachtet hatte.

Und Sabii saß nur einige Äste entfernt und betrachtete die beiden eingehend.

Später, als sie wieder den moosigen Erdboden unter den Füßen hatten, war es unter den Bäumen bereits sehr dämmrig, weshalb sie sich schon bald auf den Heimweg machten. Über den 'Beinahe-Absturz' verloren sie kein weiteres Wort, vor allem weil sich Zitamun schon alleine beim Gedanken daran der Magen herumdrehte. Es entsetzte ihn, was alles hätte passieren können, nur weil sie einmal auf diesen Baum hatten klettern wollen.

Im Haus der Schwestern wartet bereits Liana auf die beiden Jüngeren. Sie hatte allerlei gefundene Knollen und Wurzeln des Waldes zu einer Suppe verarbeitet, die sie hier beinahe jeden Tag zum Abendessen aßen. Es war nichts besonderes, aber keiner erwartete etwas Außergewöhnliches, Hauptsache war, dass man genug zum Leben hatte und das hatten sie allemal.

„Habt ihr noch ein paar Beeren im Wald gefunden?“, fragte die ältere Schwester über ihre Schulter hinweg.

Die beiden wechselten einen schuldbewussten Blick. Binnen weniger Stunden hatten sie tatsächlich völlig vergessen gehabt, was der Grund für ihren Spaziergang durch den Wald eigentlich gewesen war. Liana musste ihre Gesichter nicht einmal sehen, ihr reichte schon die Stille, damit sie ihre Schlüsse ziehen konnte. Seufzend brachte sie die Suppe zum Tisch hinüber.

„Nicht? Na schön.“ Sie reichte ihrer Schwester drei Teller. „Dann müssen wir morgen vor dem Frühstück entweder noch einmal kurz in den Wald oder wie kommen mit dem Bisschen Brot zurecht, das noch im Schrank ist.“

„Klar“, willigte Analie eilig ein. „Wir machen uns morgen früh einfach noch kurz auf den Weg nach draußen. Die Büsche hier hinterm Haus sind alle vollbeladen mit Früchten, da werden wir mehr als genug finden.“

Liana lächelte mit hochgezogenen Augenbrauen. „Umso seltsamer, dass ihr nicht jetzt schon welche dabei habt.“

Die beiden liefen rot an und die Ältere ließ sie in Ruhe essen, während sie die Fensterläden zuzog und verriegelt. Was die Sicherheit des Waldes anging, teilte sie offenbar die Meinung ihrer Schwester, auch wenn Zitamun noch immer keinen einzigen schwarzen Magier und Räuber im Wald gesehen hatte, nichtmal bei Nacht.

„Wollt ihr heute Abend noch ein wenig lesen?“, fragte Zitamun beiläufig. Zwar war mittlerweile klar, dass sein Aufenthalt zu Lehrzwecken einem Platz in der kleinen Familie gewichen war, trotzdem wollte er weiter an seinem Versprechen festhalten und den beiden das Lesen beibringen.

Analie schüttelte hastig den Kopf und verschwand dann hustend unter ihrer blonden Mähne. „Bloß nicht!“, hustete sie mit hochrotem Kopf. „Ich bin todmüde, wahrscheinlich kippe ich um, sobald ich auch nur in die Nähe meines Bettes komme.“

„Ist irgendwas mit der Suppe nicht in Ordnung?“, fragte Liana mit zusammengezogenen Brauen, doch ihre Schwester winkte nur ab.

„Wunderbar wie eh und je, Schwesterchen.“

„Manchmal könnte man glauben, du würdest mich nicht ganz ernst nehmen, Ana“, erwiderte die ältere Schwester grinsend und nahm sich nun selbst einen Teller Suppe. Zu Zitamun gewandt sagte sie: „Lass uns lieber morgen Vormittag noch ein wenig durch diese Bücher blättern, ich glaube jetzt ist es schon ein wenig spät.“

Er nickte. Dafür dass die Schwestern nicht hatten lesen können, besaßen sie eine ganze Menge Bücher auf dem Dachboden. Liana hatte einmal erzählt, dass ihre Eltern viel gelesen hätten, aber sie hatten nie die Gelegenheit gehabt, von ihnen lesen zu lernen, weil beide Elternteile früh aus dem Leben geschieden waren.

Analie sprach nicht gerne darüber, sie war damals noch wirklich jung gewesen, aber einmal hatte sie etwas von einer Krankheit erzählt, für die ihre Familie von jeher besonders empfindlich war. Zitamun fand den Gedanken unheimlich.

„Es ist spät, lass uns ins Bett gehen“, schlug Analie vor.

Er schaute auf und lächelte, auch wenn man ihm trotzdem ansah, dass seine Freundin ihn wieder einmal aus den Gedanken gerissen hatte. Sie lachte und gähnte, was nur schlecht zusammen funktionierte und dann verließen sie die Wohnstube in Richtung der Schlafzimmer, die im einzigen Obergeschoss des Hauses lagen.

Die Schwestern schliefen gemeinsam im alten Zimmer der Eltern, während Zitamun eines der alten Kinderzimmer ganz für sich allein hatte. Wenn er sich richtig erinnerte, dann war dies Lianas alter Raum.

Er war nicht groß, allerdings hatte Zitamun auch kaum Eigentum, mit dem er das Zimmer hätte füllen können. Beinahe alles, was das Zimmer füllte, hatte zuvor einer der beiden Schwestern gehört. Und trotzdem – oder gerade deswegen – war dieses Zimmer mehr, als er je zuvor besessen hatte. Nie zuvor, hatte er einen Raum für sich allein gehabt. In den ersten paar Nächten hatte er sogar die ganzen Nebengeräusche des Waldes oder der Stadt vermisst. Nie zuvor hatte er überhaupt in einem Haus gewohnt, dass nicht halb verfallen war. Für seine Verhältnisse war das bescheidene Leben ein Paradies und schon sehr bald war er zu dem Schluss gekommen, dass er dieses Paradies bis zum letzten Moment genießen würde.

Am nächsten Morgen erwachte er von Analies leisem Geflüster. Das blonde Elfenmädchen lag Stück von seinem Bett entfernt bäuchlings auf dem Holzboden, Auge in Auge mit Zitamuns kleinem Kzu. Als sie bemerkte, dass der Bewohner des Zimmers ebenfalls wach war, schenkte sie ihm ein schiefes Lächeln.

„Ich glaube, Sabii mag mich.“

Er erwiderte ihr Lächeln verschlafen. „Wirklich? Dann bist du weiter als ich.“

Sie stützte sich auf die Ellenbogen und warf ihm einen unergründlichen Blick zu. „Wie meinst du das?“

Er zuckte mit den Schultern. „Sabii und ich … wir kommen einfach nicht so klar. Muss an mir liegen.“ Er stand auf und streckte sich ächzend, ehe er sich ein lockeres Leinenhemd überwarf.

Sie richtete sich unterdessen noch ein wenig weiter auf und starrte ihn mit zusamengekniffenen Augen an. „Du weißt, woran es liegt, dass ihr beide nicht so gut miteinander auskommt, oder?“

Er nickte, doch bevor sie die offensichtliche Frage stellen konnte, schüttelte er den Kopf. „Nimm es mir nicht übel, aber ich möchte nicht darüber sprechen.“

Sie zog eine Grimasse, warf einen letzten Blick auf das Eichhörnchen und stand dann auf. „Wirst du mir irgendwann erzählen, was passiert ist?“

Er nickte. „Irgendwann bestimmt. Können wir jetzt die Beeren pflücken gehen?“

„Ich verlass mich auf dein Wort, Ukleenry-Junge“, verkündete sie mit erhobenem Zeigefinger, ehe sie durch die Zimmertür in Richtung Wohnstube verschwand.

Zitamun schüttelte nur seufzend den Kopf und folgte ihr, ohne seinem Kzu auch nur einen weiteren Blick zuzuwerfen. Er war sich nicht sicher, ob er sein Wort wirklich halten wollte. Es gab Dinge … Dinge, die er selbst vor Analie geheimhalten wollte.

Beim Beerenplücken verschwand die Hälfte der Ernte selbstverständlich direkt im Mund und nur verräterisch violette Flecken auf Fingern und Kleidung blieben.

„Ein paar Beeren sollten es zumindest auch zu mir ins Haus schaffen“, rief Liana durch eines der Stubenfenster hinaus und ihre Schwester lachte mit dem Mund voller Beeren.

„Ja sicher! Wenn du auch was haben willst, musst du schon rauskommen.“

„Warum? Das Beerensammeln ist eindeutig eure Aufgabe!“

Analie warf der Älteren eine Kusshand zu, ehe sie sich weiter an den Büschen bediente. „Ich habe die Aufgabe erfüllt. Heute darf jeder Essen, soviel er mag. Ich habe alles hier draußen vorbereitet.“ Sie deutete auf die vollbeladenen Büsche und brach dann in hustendes Gelächter aus.

Am Ende brachten sie doch zwei volle Schüsseln mit ins Haus, auch wenn dazu viel Überredung vonseiten Liana nötig gewesen war. Und – wie sie es sich am Vorabend vorgenommen hatten – setzten sie sich nach der Ernte an den kleinen Tisch im Haus und Zitamun zeigte ihnen weitere Buchstaben und Zeichen in einem der alten Bücher.

„Aber wieso sieht hier dieses Zeichen ganz anders aus als hier?“, beschwerte sich Analie gerade. „Wenn es schon ein festes Schriftsystem gibt, an das man sich halten soll, dann kann man doch auch erwarten, dass die Verfasser der Schriften alle in etwa die gleichen Zeichen benutzen.“

Geduldig erklärte Zitamun es ihr, doch sie hatte sich bereits hustend abgewandt und bekam kaum etwas davon mit.

Insgesamt war – wenn es ums Schreiben ging – Analies Aufmerksamkeitsdauer eher gering. Liana hingegen konnte schon nach kurzer Zeit selbst kurze Texte entziffern. Glücklicherweise brachte Zitamun genug Geduld für beide Schwestern mit und gerne bereit, Dinge auch sehr oft hintereinander wiederzuerklären, solange er sich nützlich vorkam.

Den Rest des Tages verbrachten sie im Zimmer der Schwestern, weil es draußen angefangen hatte zu regnen. Es kam zwar kaum Regen durch das dichte Blätterdach des Waldes, angenehm war draußen jedoch trotzdem nicht.

Zitamun las den Schwestern aus einem der Abenteuergeschichten vor, die er unter dem reichen Büchervorrat der verstorbenen Eltern gefunden hatte. Und außer dem ein oder anderen Husten von Analie gab es auch keine Unterbrechungen, bis er irgendwann einfach partout nicht mehr weiterlesen konnte. Sonst verlief der Abend ruhig und beinahe wieder der vorhergegangene. Sie gingen früh ins Bett und Zitamun lauschte am Abend noch stundenlang dem Regen, der über ihren Köpfen auf die Blätterschicht trommelte. Es war ein ungemein beruhigendes Geräusch.

Und am nächsten Morgen wachte er diesmal ohne Besucherin im Zimmer auf. Nur Sabii und er, die sich gegenseitig kaum beachteten. Gähnend zog er sich an. Noch immer war Regen zu hören, was wirklich ungewöhnlich für dieses Zeit des Jahres war. Er wunderte sich nur kurz darüber, ehe er nach unten trat, wo Liana bereits das Frühstück vorbereitete. Analie war nicht zu sehen.

„Guten Morgen, Zitamun“, wurde er im Vorbeigehen begrüßt, während Liana den Tisch deckte.

„Wo ist Ana?“, fragte er neugierig, während er ihr die Teller abnahm und auf dem Tisch verteilte.

„Als ich aufgestanden, hat sie noch geschlafen“, erklärte die Schwester beiläufig. „Sie klang ein wenig kränklich. Vielleicht hat sie sich erkältet.“

„Ich geh' mal gerade nach ihr schauen.“

„In Ordnung, aber wecke sie nicht, wenn sie noch schläft. Wenn sie wirklich krank ist, dann brauch sie ihren Schlaf, um sich zu erholen.“

Er nickte und schlich wieder die Treppe hinauf ins Obergeschoss, wo Sabii ihn mit kleinen schwarzen Augen anstarrte. „Was ist?“, fragte er flüsternd. Das Eichhörnchen antwortete nicht, ein Fakt an den er sich gewöhnt hatte.

Zaghaft klopfte er einmal an die Tür und schob sie dann einen winzigen Spalt breit auf, um einen Blick in das Zimmer zu werfen, indem seine Freundin schlief. Sie war tatsächlich und schenkte ihm ein kleines Grinsen, als er die Tür weiter aufschob und ins Zimmer kam.

„Alles in Ordnung?“

Sie schüttelte den Kopf und ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter, als sie bemerkte, wie Zitamuns kleiner Kzu aufs Bett gehuscht kam. Das Eichhörnchen setzte sich direkt auf ihren zugedeckten Baum und starrte ihr ins blasse Gesicht.

„Er scheint dich wirklich zu mögen“, stellte Zitamun neidlos fest.

Sie nickte. „Ich glaube, ich habe mich irgendwie erkältet.“ Ihre Stimme klang leicht heiser. „Kann ich eigentlich Eichhörnchen mit einer Erkältung anstecken?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe noch nie von so etwas gehört, aber ich habe offen gesagt auch nur wenig Ahnung von Eichhörnchen.“

„Es ist eine Schande, dass ihr beiden nicht miteinander klarkommt“, stellte Analie fest. „Ihr passt so gut zusammen … und irgendwie treib ich euch die Feindseligkeit auch noch aus.“ Sie lächelte selbstbewusst, aber irgendwie hatte ihr Lächeln mehr Wirkung, wenn sie gesund war und nicht im Bett lag.

„Brauchst du irgendwas?“, fragte Zitamun besorgt. „Hast du Hunger oder Durst? Liana macht gerade Essen. Ich bring dir gerne etwas hoch.“ Sie lachte und musste gleich darauf husten, weshalb der junge Ukleenry gleich ein schlechtes Gewissen bekam, auch wenn er nicht wusste, warum genau die Elfe gelacht hatte.

„Nein Danke, es wäre gelogen zu sagen, dass es mir gut geht, aber ich brauche momentan nichts.“

Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu. „Ich bring dir irgendwas zu trinken! Tee oder Wasser?“

„Zitamun ...“, stöhnte sie, doch er war nicht zu Verhandlungen aufgelegt. „Na schön … Tee.“

„Und vielleicht ein paar Beeren?“

„Zitamun!“

Er lachte. „Schon gut, nur Tee.“

Der Tee half für den Moment und gegen Abend zwang Liana ihre jüngere Schwester förmlich, auch ein paar Löffel Suppe zu essen. Als die Schwestern kurz darauf ins Bett gingen, zog auch Zitamun sich in sein Zimmer zurück, von wo aus er seine Elfenfreundin die ganze Nacht lang husten hören konnte.

Am darauffolgenden Tag sah Liana so aus, als hätte sie die ganze Nacht keine Auge zugemacht und zu Zitamuns großem Missfallen, ging es auch Analie nicht besser und sie hatte noch weniger Hunger als zuvor. Den ganzen Tag lang saß er im Schneidersitz auf Lianas Hälfte des Bettes und las seiner Freundin aus allen erdenklichen Büchern vor, wobei er nur dann Pausen machte, wenn Analie während der Geschichte eingeschlafen war.

Gegen Nachmittag betrat Liana das Zimmer mit etwas Tee und Suppe und Zitamun machte ihr Platz, damit sie sich um ihre Schwester kümmern konnte.

„Sollten wir sie nicht lieber zu einem Heiler bringen?“, fragte er besorgt, doch die ältere Elfe schüttelte nur den Kopf.

„Es ist nichts weiter. Es ist nur eine Erkältung, die sie voll erwischt hat. In ein paar Tagen geht es ihr besser. Wir können nur dafür sorgen, dass sie genug isst und trinkt, alles andere übernimmt ihr Köper von ganz allein. Zitamun nickte und schaute dann auf Sabii hinab, der wieder auf Analies Bett saß. Irgendwie wirkte das Eichhörnchen unglücklich.

Entgegen Lianas Behauptung wurde es nicht besser, eher schlechter. Nach dem dritten Tag der Krankheit verlor Analie auch noch das letzte Bisschen Appetit und Zitamuns kleiner Kzu wich bald gar nicht mehr von ihrer Seite.

„Du musst nicht die ganze Zeit an meinem Bett sitzen, weißt du ...“, erklärte die kleine Helfe eines Abends. Ihre Stimme war heiser und schon allein das Sprechen schien sehr anstrengend für sie zu sein.

„Wenn es dich nicht stört, würde ich aber gerne weiter bei dir sein“, erklärte er leise, ohne von dem Buch aufzuschauen, aus dem er ihr gerade vorgelesen hatte. „Ist das in Ordnung für dich?“

„Natürlich … Es ist wunderbar, dass du hier bist.“ Sie brach wieder hustend ab und schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln.

Stirnrunzeln legte er das Buch zur Seite. „Ich glaube wirklich, dass wir einen Heiler aufsuchen sollten. Du hast doch erzählt, dass in der Nähe des großen Baumes viele von ihnen leben würden.“

Analie lachte heiser. „Du hast Liana doch gehört. In ein paar Tagen wird es mir wieder wunderbar gehen. Und bis dahin solltest du dir wirklich keine Sorgen machen.“

„Aber es sollte dir schon längst besser gehen. Wenn es wirklich nur etwas einfaches und ungefährliches wäre … warum geht es dir dann jeden Tag schlechter?“, wandte er ein.

Seine Elfenfreundin zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist mein Körper ein wenig langsamer als man es von anderen gewohnt ist.“

„Analie ...“

„Schh...“ Sie lächelte schwach. „Kannst du weiter vorlesen, Zitamun?“

Er nickte niedergeschlagen und hob das Buch wieder auf.

Zwei Tage später, wurde er von Liana geweckt. Sie rüttelte ihn sanft an der Schulter, bis er es endlich schaffte, seine müden Augen aufzuschlagen. Stöhnend wandt er sich aus ihrem überraschend festen Griff und setzte sich auf den Rand seines Bettes. „Was ist los?“

Liana legte einen Finger auf die Lippen. „Nicht so laut, ich will nicht, dass Ana gleich wieder aufwacht.“ Sie horchte kurz, es war aber nichts von ihrer Schwester zu hören, also fuhr sie fort. „Ich werde mich auf den Weg machen und ein paar bestimmte Kräuter und Knollen suchen. Ich bin mir sicher, dass sie ihr helfen werden, ich brauche nur ein wenig Zeit, um sie zu finden. In zwei Tagen müsste ich spätestens wieder da sein. Kannst du so lange auf Ana aufpassen?“

Er schaute sie aus großen Augen an. „Wie schlimm ist es, Liana?“

„Schlimmer als ich angenommen habe“, antwortete diese knapp.

„Brauchen wir einen Heiler?“

„Ich habe alles unter Kontrolle ...“

„Aber ...“

Die Elfe stöhnte. „Bitte Zitamun. Lass mich diese Kräuter sammeln. Ich weiß, dass sie helfen werden. Unten ist noch Suppe, sogar mehr als genug davon und wie man Tee macht, weißt du ja selbst. Du kannst nichts gegen die Krankheit machen, aber du kannst für Ana da sein. Vertrau mir. Ich bringe diese Kräuter her und es wird ihr bald schon wieder wunderbar gehen. Du kannst dich auf mich verlassen. Kann ich mich auf dich verlassen?“

Er nickte mit zusammen gepressten Lippen und sie verschwand nach unten. Er hörte, wie sie in der Stube hantierte und schließlich schlug die Haustür zu. Jetzt waren da nur noch Zitamun und Analie … und vielleicht Sabii, der die Nacht bei der Kranken verbracht hatte. Er wich gar nicht mehr von der Seite der kleinen Elfe und Zitamun fragte sich des öfteren, was er davon halten sollte. Es berührte ihn nicht und das konnte eigentlich nicht richtig sein.

Nach einigen Augenblicken der Grübelei verließ er sein Zimmer und bereitete Tee und Suppe vor, wie Liana es ihm aufgetragen hatte. Liana, die ihm gesagt hatte, er solle die Sache ihr überlassen. Nie zuvor war es ihm so schwer gefallen, einfach nur zu warten, ohne auch nur das geringste tun zu können. Er fand dieses Gefühl der Untätigkeit einfach schrecklich, erst recht wenn er sah, wie schlecht es seiner kleinen Freundin mittlerweile ging.

Es war der erste Tag der Krankheit, an dem er ihr nicht vorlas, sondern einfach nur bei ihr saß und schwieg. Sie schlief die meiste Zeit und hustete ununterbrochen. Eine bleiche kalte Hand lag nun immer über dem kleinen Eichhörnchen auf ihrem Bauch.

„Wo ist Liana?“, fragte sie leise.

„Unterwegs … sie möchte irgendwelche Kräuter sammeln, die dir helfen sollen.“

„Das ist gut. Liana kennt sich gut aus mit Kräutern und Heilung. Du kannst dich auf sie verlassen“, stellte Analie beruhigend fest.

„Brauchst du irgendwas?“

Sie schüttelte den Kopf und hustete wieder. „Ich bin nur müde … was seltsam ist, weil ich eigentlich die ganze Zeit schlafe. Es muss furchtbar ...“ Sie hustete schon wieder. „Es muss furchtbar langweilig sein, neben mir zu sitzen, wenn ich doch nur die ganze Zeit schlafe.“

Die nächsten zwei Nächte verbrachte er auf Lianas Seite des Bettes und stellte fest, dass er vor lauter Sorge und Gehuste tatsächlich kaum ein Auge zu tun konnte. Aber langweilig war es deswegen nicht.

„Liana sollte bald wieder da sein ...“ Er sagte es eher zu sich selbst, als zu seiner Freundin, weil diese sowieso kaum noch erwachte. Sabii schaute ihn aus schwarzen Äuglein an und irgendwie kam ihm der Blick des Kzu vorwurfsvoll vor. Zum ersten Mal schien ihm das Eichhörnchen etwas sagen zu wollen. Etwas wie: 'Tu' doch endlich etwas.'

„Ich sollte einen Heiler holen gehen“, beschloss er flüsternd und rappelte sich auf, doch da packte plötzlich die eiskalte Hand Analies sein Handgelenk.

„Du darfst mich jetzt nicht allein lassen!“, rief sie mit kratzender Stimme, die Augen groß und angstvoll.

„Aber dir geht es so schlecht und ich kann dir nicht helfen!“ Er war verzweifelt. Viel zu lange hatte er schon gewartet, er wusste nicht einmal, ob man noch etwas tun konnte. Sie brauchte sofort die Hilfe eines guten Heilers, der etwas von seinem Handwerk verstand. Tee und Suppe hatten schon lange ihre belebende Wirkung verloren.

„Liana wird bald wieder da sein und dann wird alles wieder gut.“ Ihre kalten Finger verloren schon wieder an Kraft und er nahm ihre Hand behutsam und legte sie wieder unter die Decke. „Bitte las mich nicht allein, nicht jetzt.“

„Ich kann das nicht, Ana“, flüsterte er und merkte erst jetzt, dass er tatsächlich den Tränen nah war. „Bitte … Ich muss hilfe holen!“

„Wenn sie morgen noch nicht wieder da ist, in Ordnung?“ Sie schaute ihn mit großen flehenden Augen an. Augen, denen er nie etwas hatte ausschlagen können. Dazu war er bereits zu abhängig von diesem kleinen Elfenmädchen, das scheinbar alle seine Lebendigkeit eingebüßt hatte.

„In Ordnung … aber wenn sie morgen nicht da ist, mache ich mich sofort auf den Weg und du wirst nicht versuchen, es mir auszureden!“

„Ach Zitamun ...“ - „Versprich' es mir, Ana!“ Er war verzweifelt und die Untätigkeit war für ihn ebenso tödlich wie die Krankheit es für Analie.

„Versprochen ...“ Sie lächelte schwach. „Kannst du mir noch etwas vorlesen?“

Er erfüllte ihr den Wunsch, so wie er ihr jeden Wunsch erfüllt hätte. Alles, damit sie wieder glücklich und gesund und lebensfroh sein würde. Aber er war nicht so wirklich bei der Sache, übersprang immer wieder Zeilen und konnte sich nicht richtig auf die Worte vor seinen Augen konzentrieren. Immer wieder verschwammen sie und erst, als Analie ihm mit zittrigen Fingern das Buch aus der Hand nahm, bemerkte er, dass er Tränen in den Augen hatte.

„Ich wünschte, du müsstest mich nicht so sehen ...“

„Sag sowas nicht.“ Wütend wischte er die unwillkommenen Tränen weg. Er fühlte sich schwach und widerlich dafür, dass er noch immer hier saß und ihr Geschichten vorlas, auch wenn er eigentlich Hilfe holen sollte. Natürlich sprach er das nicht aus, aber seine elfische Freundin konnte ihm jeden Gedanken ansehen, selbst jetzt in ihrem geschwächten Zustand. Sie wusste immer, was er dachte.

„Es war mein Wunsch, dass du hier bist. Mach dir also keine Vorwürfe“, flüsterte sie und zog ihn mit ungeschickten Bewegungen zu sich nach unten. „Und du hast mir meinen Wunsch erfüllt. Ich könnte nicht glücklicher sein, Zitamun. Vergess' das nie!“

Sabii befand sich nun auf Augenhöhe mit seinem Ukleenry und Zitamun konnte dem kleinen Tier deutlich ansehen, dass es ihm trotz allem Vorwürfe machte. Vorwürfe, die er sich sein ganzes langes Leben lang auch selbst machen würde und gegen die Analie rein gar nichts tun konnte.

„Wenn wir mindestens wüssten, was das für eine Krankheit das ist“, flüsterte er leise der Decke entgegen.

„Ich glaube, es ist die Krankheit, die meine Eltern damals hatten ...“, gestand Analie und Zitamun schüttelte vehement den Kopf.

„Sag sowas nicht!“

„In Ordnung.“

Er wachte diese Nacht immer und immer wieder auf und fragte sich jedes Mal wieder, warum er sich überhaupt die Mühe macht, zurück in den Schlaf zu finden. Analie hustete in einem Fort und er hasste sich dafür, dass er einfach nur zuhörte und nichts weiter tun konnte.

Unglücklich warf er einen Blick durch die Fenster. Er sah den finsteren Wald dort draußen, wo irgendwo in der Ferne ein Heiler wohnen musste. Ein Heiler, der ihnen helfen konnte, auch wenn die beiden Schwestern es sich nicht eingestehen wollten. Sicher, sie waren immer allein klargekommen, aber es gab immer einen Moment, andem die eigenen Fähigkeiten nicht genügten. Für Zitamun war dieser Moment schon lange erreicht.

Analies Husten war es, dass ihn aus dem Schlaf gerissen hatte und trotzdem tat er nichts. Er blieb untätig und lag einfach nur da, bis Erschöpfung und Schlafmangel wieder Macht über ihn erlangten.

Das Erste was ihm auffiel, als er das nächste Mal erwachte, war, dass nun helles Tageslicht durchs Fenster fiel. Gähnend setzte er sich auf und schaute zu seiner schlafenden Freundin hinüber. Das blonde Haar war ungewaschen und sie hatte viel Gewicht verloren in all der Zeit, die sie nun schon krank war. Trotzdem war sie für ihn wunderschön. Sie war immer wunderschön, egal was mit ihrem Äußeren passierte. Es war egal, so egal.

Er setzte sich auf und lauschte. Von Liana war nichts zu hören. Also würde Analie ihr Versprechen halten müssen und er würde sich auf die Suche nach einem Heiler machen. So hatten sie es abgemacht.

Stirnrunzelnd schaute er sich nach Sabii um und entdeckte, dass er das Bett zum ersten Mal seit Tagen verlassen hatte. Er hockte nun auf dem Fensterbrett und starrte ihn groß und vorwurfsvoll an. „Du hast uns doch gestern gehört. Ich suche ihr heute einen Heiler!“, zischte er dem Kzu zu, doch das Tier reagierte kaum. Schulterzuckend drehte er sich wieder zu seiner kranken Elfenfreundin zu. Er sollte zumindest noch etwas Essen in sie bekommen, bevor er sich auf den Weg machte.

„Ana ...“ Behutsam griff er nach ihrer von der Decke versteckten Schulter. „Wach auf!“ Sie rührte sich nicht. „Analie, du musst etwas essen. Liana ist nicht da, also mache ich mich gleich auf die Suche nach jemandem, der dir helfen kann.“ Er strich ihr das blonde Haar aus dem Gesicht und streifte dabei ihre eiskalte Wange.

Ihr ganzer bewegungsloser Körper war eiskalt. Ihr Gesicht war friedlich und entspannt. Sie hustete nicht. Sabii betrachtete ihn vom Fensterbrett aus.

„Ana ...“ Seine Stimme brach und wieder verschwamm die Welt vor seinen Augen. Tränen tropften von seinen Wangen auf ihre, doch sie wachte nicht auf. Sie wachte nicht mehr auf. Es war eine Gewissheit, die sich in seine Gedanke brannte und auf eine groteske Art erinnerte es ihn an die Erkenntnis, dass sein Kzu kein Wolf war.

„Analie!“

Er hatte länger geschlafen als sonst. Schließlich war er nicht mehr von ihrem Husten geweckt worden. Vielleicht, wenn er gestern trotz ihres Widerspruchs gegangen wäre. Reue fraß ihn förmlich auf und er hieß das Gefühl willkommen.

Mit zittrigen Finger zog er die Decke bis zu ihrem eisigen Kinn und strich alle Haare aus dem eingefallenen, wunderschönen Gesicht seiner kleinen Elfe Analie.

Er hielt es keinen weiteren Moment in einem Zimmer mit der toten Elfe aus. Selbst im gleichen Haus zu sein, konnte er nicht über sich bringen. Er wusste, dass er eigentlich auf Liana warten sollte. Die ältere Elfe würde am Boden zerstört sein. Trotzdem verließ er das Haus fluchtartig. Barfuß und nur in den dünnen Sachen, die er stets im Bett trug.

Es war früher Morgen draußen, aber nicht kalt. Zitamun wusste nicht, wohin er gehen sollte … nur weg. So weit wie nur irgend möglich. Weg von dem kalten Mädchen, dass aussah, als würde es nur schlafen. Weg von dem Mädchen, dass er vielleicht hätte retten können, wenn er nicht so untätig gewesen wäre. Seine kleine Elfenfreundin.

Ohne dass er es wirklich geplant hatte, trugen ihn seine unbekleideten Füße zu der Lichtung, auf der sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Damals, zwischen den gewaltigen Wurzeln des alten, heiligen Baums der Elfen. Dem Wahrzeichen Neliars. Selbst in dieser Frühe beteten schon viele Elfen zwischen den knorrigen Wurzeln. Einige warfen ihm seltsame Blicke zu, die meisten ignorierten ihn jedoch einfach. Niemand von ihnen konnte ja wissen, was Zitamun soeben passiert war. Trotzdem hasste er sie für ihre teilnahmslosen Gesichter. Der Wald hatte eben schließlich seine wunderbarste Gestalt verloren.

Er fand sich neben der Gebetstafel wieder und fuhr mit den Fingern die Worte des Gebets nach, das er den Schwestern damals vorgelesen hatte. Wenn man nur das Schild und den Baum sah, denn hätte es gestern gewesen sein können. An Orten wie diesem blieb die Zeit einfach stehen.

Kurzentschlossen warf er einen Blick auf das Gebet und trat dann zwischen die mächtigen Wurzeln. Damals hatte er Analie und Liana beim Beten zugesehen, heute würde er es selbst tun. Hätte man ihm das damals gesagt, hätte er darüber gelacht … wie über vieles, was während seiner Zeit im Haus der Elfen passiert war.

Er schloss die Augen. Die Welt um ihn herum wurde weiß. Lavirzinia, die große Mutter des Waldes und Göttin der Elfen hatte ihren Sohn anerkannt. Oldiin Zitamun.

Viele Jahre später, als er einmal als Gesandter nach Tenorley zurückkehrte, war er kaum wiederzuerkennen. Nur noch selten sah man ihn damals in seiner Ukleenrygestalt. Für gewöhnlich wanderte er rotblonder Elf durch die Welt. Hochgewachsen, jedenfalls für einen Elfen, und immer mit einem distanzierten Gesichtsausdruck. Mit Sabii wurde er nur noch selten gesehen.

Damals, bei seinem Besuch in der Stadt seiner Jugend, schlenderte er mit Sovine durch die Straßen. Es waren die Tage des Kosks, weshalb überall Findungszeremonie abgehalten wurden. Er beobachtete als das mit scheinbar wenig Interesse, bis sein Blick auf eine Gruppe fiel, die etwas abseits von allen anderen die Findung ihrer Kinder abhielt.

Ein Runenfeld, das er selbst nur zu gut kannte. Anführerin der Gruppe war ein klein Frau mit faltigem Gesicht und schwarzem Haar, welches hier und da bereits von weißen Strähnen durchzogen wurde. Ihr Gang war leicht gebeugt und die Wölfin, eine silbergraue Schönheit, humpelte ein wenig, wenn sie lief.

Als Kassa den Blick hob, wurden ihre Augen groß und ihr Blick ungläubig. Er erwiderte ihr Starren teilnahmslos, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er dachte darüber nach, wie alt seine Schwester aussah, während er scheinbar in seinen besten Jahren war. Die Kleidung sauber und gepflegt, das Haar lang und glatt. Ein Elf durch und durch.

Kassa hatte das Rudel übernommen, aber Krisen erschütterten die Clans. Nicht, dass er sich noch dafür interessierte. Die Elfen hatten eigene Probleme, um die er sich kümmern musste.

Sovine warf ihm einen unsicheren Blick zu. Kassa machte einen Schritt auf sie zu. Unsicher und ungelenk. Zitamun schüttelte den Kopf.

„Wir müssen sicher weiter, Sovine.“

Seine Worte ließen keinen Widerspruch zu. Die alte Frau kam ihnen nicht nach.

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Immer wenn ich dieses Kapitel lese, will ich Analie wieder lebendig machen ... Sie tut mir wirklich, wirklich Leid. :(

Nächstes Mal geht es in der Handlung weiter. Ich hoffe, dass ich bis nächste Woche damit fertig bin.

lg. magicstarlight

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