Zitamun I - Der Clan der Ost-Wölfe

Zitamun – Der Clan der Ost-Wölfe

Im Jahr 2163 erblickte der Erbe des mächtigsten Wolfclans der Wilderlande im schroffen Ostgebirge das Licht der Welt.

Der Ukleenry Zitamun war das zweite Kind des Clanführers Tamunka und sein erster und einziger Sohn. Über elf Generationen hinweg war das Rudel von Mitgliedern Tamunkas Familie angeführt worden und auf kaum etwas anderes war er so stolz. Von anderen Clans abgeschirmt zogen die etwa dreidutzend Ukleenry über die schroffen Felsen und begaben sich einzig und allein für die Findungszeremonien ihrer Töchter und Söhne in den Westen nach Tenorley.

Die Frage, wie man Teil des Rudels wurde war leicht beantwortet. Im Clan des Ostwölfe lebten alte Greise und junge Kinder, sie einte einzig, dass sie allesamt stets von vierbeinigen Jägern in dickem Wolfspelz begleitet wurden.

Tamunkas wölfische Begleiterin war pechschwarz, hieß Dea und war sein Spiegelbild in Tierform. Listig und klug, ein wenig kleiner als andere Wölfe und mit Sicherheit ungemein gefährlich, wenn es denn darauf ankam. Sie war seine Seelenbegleiterin und überstieg für ihn alles, sein Rudel, seine Frau Herria und seine Kinder.

In allem was er tat vertrat er die stolzen Traditionen, die für das jahundertelange Überleben seines Rudels gesorgt hatten. Kinder, die in den Clan geboren wurden, waren automatisch Teil der Gemeinschaft … vorrausgesetzt natürlich sie hatten Wolf-Kzu, aber das war der absolute Regelfall. Ukleenry von außerhalb mussten schwierige Aufnahmeprüfungen bestehen, um den Ostwölfen beizutreten. Manchmal, wenn kein hohes Clanmitglied in der Nähe war, flüsterten einige der moderner denkenden Ukleenry, dass wohl die wenigsten der in den Clan hinein geborenen Ostwölfe diese Prüfungen noch bestehen würden.

Alle fünf Jahre zog ein Teil des Rudels nach Tenorley, um alle neugewonnen jungen Mitglieder der Findungszeremonie zu unterziehen. So kamen alle fünf Jahre neue Wölfe mit zurück ins Revier des Clans und wurden offiziell Teil des Rudels.

Zitamun wurde kurz nach einer solchen Wanderung gen Tenorley geboren, weshalb es beinahe fünf Jahre dauerte, bis er selbst seinen Kzu kennenlernen würde. Seine ältere Schwester Kassa hingegen nahm kurz vor seiner Geburt an diesem Ritual teil. Zusammen mit anderen jungen Clankindern, ihrem Vater dem Rudelführer und einigen anderen älteren Ostwölfen wanderte sie nach Westen und kam mit Sheyla zurück. Einer silbergrauen Wölfin, die ebenso wild wie schön war.

Die Stadt war für Tamunka ein geradezu widerwärtiges Konzept. Ein Ort, an dem Wölfe in friedlicher Koexistenz mit Bären und Adlern lebten und jeder Ukleenry mit kleinerem Kzu ebensoviel Wert war, wie Ukleenry mit Raubtier-Kzu. Solch ein Ort schien unnatürlich, undenkbar. Das Rudel tat sein bestes, um diesen Ort außerhalb der Ritualzeiten zu meiden.

Und so verbrachte Zitamun fünf, beinahe sechs Jahre glücklich in Gesellschaft seines Rudels, seiner Wölfe, das ihn als potentiellen Erben durchaus zu schätzen wusste, auch wenn er hin und wieder etwas zurückgezogener und schüchterner war, als es seinem Vater vielleicht lieb gewesen wäre.

Ein kleiner Rotschopf, wie auch schon seine Mutter, und nicht besonders groß, womit er wohl seinem Vater nachkam. Sein größtes Idol und zugleich die Person, mit der er wohl am meisten Zeit verbrachte, war von frühster Stunde an seine Schwester Kassa,, furchtlos und ungezähmt und mit Sicherheit eine geborene Führungspersönlichkeit. Sie war für ihn das strahlende Gestirn, um das sich seine kleine Welt drehte. Sie brachte ihm bei wie man kämpfte, Feuer machte und an den schroffsten Felswänden entlang kletterte.

Sicherlich brachte der Sohn des mächtigen Clanoberhaupts Tamunka auch ganz eigene Fähigkeiten mit. Wie auch schon sein Vater vor ihm, war Zitamun seinen Altersgenossen im Rudel geistig deutlich überlegen. Außerdem konnte er trotz seiner kurzen Beine überraschend schnell rennen und bewegte sich im Geäst von Bäumen sogar noch flinker als auf dem Boden. Er war kein typischer Wolf, aber gerade das war es, was oft den Unterschied zwischen einfachem Wolf und Clanoberhaupt ausgemacht hatte. Sein Vater war ein lebender Beweis dafür. In seiner Jugend war Tamunka immer unterschätzt worden. Er war nicht groß oder muskelös, hielt sich eher im Schatten und blieb lieber unter denen, die er bereits kannte. Doch als sein Vorgänger, der Anführer Zerdak verstorben war, hatte er alle anderen potentiellen Nachfolger haushoch übertrumpfen können, denn er war gerissen und schlau. Zum ersten Mal riss jemand den Posten des Clanoberhauptes mit Rhethorik und Taktik an sich. Und innerhalb weniger Jahre brachte er die Ost-Wölfe zu dem, was sie heute waren. Gefürchtet und mächtig mit einem riesigen Revier und einem ungemeinen Andrang an jungen Wölfen, die gerne aufgenommen werden wollten. Tamunka hatte die Wölfe an die Spitze gebracht und alle erwarteten, dass sein Sohn, so unscheinbar er jetzt auch war, diese Tradition fortsetzen würden.

Diesen plagten zu dieser Zeit jedoch ganz andere Probleme und Fragen. Fragen, die sich eigentlich jeder junger Ukleenry einmal in seinem Leben stellte, wenn er seine Findungszeremonie noch nicht durchlaufen hatte. Es war eigentlich die essentielle Frage und für ihn gab es nur eine Person, der er sich in diesen Momenten der Schwäche anvertraute.

Nur Kassa, seine Schwester, sein leuchtendes Vorbild fand die richtigen Worte, um ihn zu beruhigen und ihm Mut zu machen.

„Was, wenn ich gar kein Wolf bin, Kassa?“, fragte er seine Schwester einmal an einem kleinen Bergsee mit glasklarem Wasser, während er kleine Kieselsteine über die Wasseroberfläche hüpfen ließ.

„Kein Wolf?“, fragte sie lachend. „Schau Sheyla und mich an. Natürlich wirst du ein Wolf!“ Sie schenkte ihm ein schiefes Grinsen und schleuderte einen Stein weit auf die Mitte des Sees hinaus. „Mach dir deshalb mal keine Sorgen!“

„Aber was wenn ...“ - „Nichts 'wenn'! Das wird nicht passieren. Vertrau' mir!“

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„Nur mal angenommen, bei meiner Findungsritual kommt plötzlich ein Reh-Kzu oder eine Maus angelaufen. Würdet ihr mich dann aufressen?“, fragte er am Rande eines kleinen Waldstücks, während sie gerade Beeren von den Büschen pflückten und Sheyla gelangweilt um ihre Beine herumschlich.

„Red' keinen Unsinn!“, erwiderte Kassa schroff und warf sich lässig eine Hand voll blauer Beeren in den Mund. „Wir würden dich nicht fressen. Warum auch, an dir ist ja eh nichts dran.“ Sie piekste ihm spielerisch zwischen die Rippen und schwang sich dann auf einen der untersten Äste eines nahestehenden Baums. „Außerdem wirst du ein Wolf, das ist klar!“

„Es ist auch schon passiert, dass Nicht-Wölfe in den Clan geboren wurden.“

Jeder andere hätte dieses Thema sofort im Keim erstickt. Es war ein Tabu, über die Verlorenen zu reden. Für gewöhnlich tat man einfach so, als hätten sie niemals existiert. Das funktionierte erfahrungsgemäß immer am besten. Kassa hingegen winkte nur locker ab und zog sich auf den nächsthöheren Ast.

„Ja bestimmt. Mein Bruder der Verlorene. Vertrau' mir und hör' einfach auf, darüber nachzudenken. Du machst dir zu viele Sorgen. Ich spüre, dass in dir ein ganz mächtiger Wolf steckt, um den dich noch viele beneiden werden. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche.

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„Aber nur mal so. Was würdet ihr tun?“

Kassa seufzte theatralisch und legte die Klinge beiseite, die sie gerade geschliffen hatte. Sie wusste selbstverständlich sofort, wovon er sprach. „Das Thema beschäftigt dich wirklich, oder?“, fragte sie leise, während sie sich neben ihn auf den Boden setzte.

Er nickte bedrückt. „Ich habe Angst davor!“, gab er flüsternd dazu.

Seine Schwester zog ihn eine grobe Umarmung und verwuschelte ihm die roten Haare. „Ach Zitamun … dabei soll das doch eigentlich ein schöner Tag werden, der Tag deiner Findung. Ich habe mir damals gar nicht so viele Gedanken darüber gemacht ...“ Sie seufzte nochmal. „Bei dieser Sache musst du mir einfach einmal vertrauen, auch wenn es schwierig ist. Ich glaube ganz fest daran, dass du ein Vollblut-Wolf bist, so wie wir alle. Vertrau' mir, dir passiert am Tag deiner Findung nichts. Vertrau' mir.“

„In Ordnung.“

Als es dann endlich soweit war und eine große Gruppe Wölfe von ihrem Revier aus westwärts nach Tenorley zog, beruhigte er sich immer wieder mit diesen beruhigenden Worten seiner Schwester. Kassa begleitete ihn und auch sein Vater war Teil der Gruppe. Die Reise durch die Natur war lustig gewesen und er hatte wahrscheinlich mehr Zeit mit seinem Vater verbracht als je zuvor. Er war glücklich, wirklich glücklich. Und sobald sie die Stadttore von Tenorley durchschritten, konnten sich alle kleinen Mitglieder der Gruppe nur noch staunend umschauen. Keiner von ihnen hatte je zuvor eine Stadt gesehen, geschweige denn eine Metropole wie Tenorley es war.

Wann immer die Gesandten des Wolfsclan die unsicheren Straßen von Tenorley betraten, verstummten die Gespräche allerorts und in der Stadt, in der sonst immer geschäftiges Treiben herrschte, zogen sich die Ukleenry in Häuser und Nebenstraßen zurück. Kleine Kzu versteckten sich und größere Raubtier-Kzu legten die Ohren an und knurrten, sobald sie die Anwesenheit der stolzen Wölfe spürten. Für wenige Stunden lag über der Stadt eine ungewohnte Aura der Unsicherheit und Feindseligkeit.

Als kleiner Junge bekam Zitamun von alle dem nur äußerst wenig mit. Er staunte über die Stadt, über die weiten Gassen, deren Straßen nicht so matschig und ungemütlich waren wie Waldpfade und über die hohen Häuser, die so anders waren als alles, was er bisher gesehen hatte. Seine Schwester war bei ihm und auch sein Vater hatte sich der Gruppe angeschlossen, schließlich ging es um die Findungszeremonie seines Sohnes, des potentiellen nächsten Clananführers.

Sie hatten die Nacht etwas abseits der Stadt im Wald verbracht, da sie sich für gewöhnlich dagegen sträubten, den negativen Eigenschaften der Stadt länger als irgend nötig ausgesetzt zu sein. Alle Kinder trugen ordentlichere Kleidung als sonst … wahrscheinlich besaß jedes Clankind nur dieses einzige ordentliche Kleidungsstück.

Der Platz, an dem die Ost-Wölfe für gewöhnlich ihre Rituale abhielten, lag im Westen der Stadt und so war der Marsch durch ausgestorbene Straßen und an angstvoll schweigenden Passanten vorbei lang. Der kleine Zitamun schenkte einer Frau mit Habicht-Kzu ein schüchternes Lächeln, doch sie beschleunigte nur ihre Schritte und senkte den Blick auf ihre Füße. Verwirrt schaute der kleine Junge ihr nach, bis Kassa ihm ungeduldig auf die Schulter tippte und den Kopf schüttelte. Sheyla wandte ihren großen Wolfkopf kurz der von dannen eilenden Frau zu und knurrte leise.

Während des restlichen Weges begegneten sie niemandem mehr, dafür wurden sie jedoch an ihrem angestammten Zeremonieplatz von einer hochgewachsenen Gestalt erwartet. Neugierig stellte er sich auf die Zehenspitzen. „Wer ist das, Kassa?“

Seine Schwester folgte seinem Blick und ihre Augen wurden groß. Aufgeregt stupste sie den anderen Kindern in die Seite und Getuschel wurde laut.

„Kassa!“

Sie schaute wieder auf ihren kleineren Bruder hinab, als hätte sie ihn in all der Aufregung glatt vergessen. „Das ist Sovine! Die Tochter des Ukleenry-Gottes!“, erklärte sie flüsternd. Trotzdem waren ihre Worte laut genug, um nun auch alle anderen Kinder auf den Plan zu bringen.

„Sie hat ja einen Wolfskzu!“, rief ein kleines Mädchen und deutete aufgeregt auf den grauen Wolf, der neben der Frau auf den Steinen lag.

Tatsächlich kam Sovine hin und wieder zu den Findungszeremonien größerer Clans und wurde somit ihrer Rolle als Vertreterin der Ukleenry gerecht. Selbst die Ost-Wölfe akzeptierten sie, auch wenn das wohl auch vorrangig an ihrer Kzu-Gestalt lag. Es war kaum vorstellbar, dass sie jemanden mit kleinem Kzu als Oldiin anerkennen würden.

Als sie nur noch wenige Schritte entfernt waren, verbeugte sich Sovine erfürchtig vor dem Clananführer und dieser erwiderte die Geste ebenso respektvoll. Seine Wölfin Dea beäugte Sovines Fuoco mit neugierigen Silberaugen, doch der Wolf der Oldiin hielt lieber sicheren Abstand. So ähnlich sich Tamunka und Sovine auch in ihrer Kzu-Gestalt waren, so unterschiedlichen waren doch ihre Ansichten. Wahrscheinlich wären die Ost-Wölfe der mächtigen Frau gegenüber weit weniger wohlgesinnt, wenn sie gewusst hätten, was diese wirklich von den strengen Clans hielt.

Zitamun betrachtete die mächtigste Frau der Wilderlande mit Interesse und Ehrfurcht. Sein Clan hielt nicht viel von Autoritätspersonen außerhalb der eigenen Reihen. Sovine aber … ihre Augen wanderten über die kleinen Kinder mit oder ohne Kzu, die sich neugierig auf dem Ritual-Platz umsahen. Für einige Sekunden lag ihr Blick auf dem kleinen Sohn des großen Wolfes Tamunka und ihre Augen wurden schmal. Es war, als wollte sie etwas aus ihm heraus locken. Etwas, das er nicht preisgeben wollte, auch wenn es plötzlich unheimlich verlockend war. Er hätte einfach der Versuchung nachgeben können. Und vielleicht … nein sogar mit großer Sicherheit wäre viel … sehr vieles ganz anders gekommen.

Er wandte den Blick und schaute stattdessen zu Kassa und seinem Vater. Und – ohne es zu wissen – blieb er denjenigen treu, denen er mehr vertraute als allen anderen. Sein Clan, seine Familie. Bis ins Verderben durch Vertrauen und Treue gebunden.

Zitamun konnte spüren wie Sovine langsam den Kopf wandte und ihre Aufmerksamkeit anderen schenkte. Es fühlte sich an, als würden besonders aufdringliche Sonnenstrahlen, die bis in sein Innerstes hatten sehen wollen, hinter einer Wolke verschwinden.

„Ich möchte Euch nicht im Weg stehen, Tamunka. Wenn ihr es wünscht, werde ich selbstverständlich gehen.“

Der schwarzhaarige Ukleenry betrachtete sie nachdenklich, schüttelte aber dann den Kopf und schenkte Sovine ein knappes Lächeln, das nicht bis zu seinen Augen reichte. „Nein … Oldiin Sovine. Es wäre uns eine Ehre, wenn ihr diesem wichtigen Tag unserer jungen Wölfe beiwohnen würdet. Bittet bleibt, wenn ihr es mit Eurem sicherlich sehr engen Zeitplan vereinen könnt.“

„Das kann ich alle mal, vielen Dank“, erwiderte sie mit einem Lächeln, das ebenso so frostig war wie das seine.

„Dann wird es Zeit!“ Tamunka warf einen Blick über seine Schulter, wo die Sonnen gerade erst über die Dächer der Stadt stiegen. „Lasset uns dieses Ritual hinter uns bringen, bevor die Stadt vollständig erwacht ist. Die Mädchen zuerst!“

Um neun Kinder war das Rudel in den letzten fünf Jahren gewachsen. Eine gute Zahl für die Ost-Wölfe, vor allem zu Zeiten, in denen die traditionelleren Clans immer weniger Zuwachs bekamen. Moderne Gedanken gefährdeten ein Konzept, an dem die Konservativen nur zu gerne festhalten wollten. Nicht dass Tamunka sich selbst wohl als konservativ bezeichnet hätte. Nein, ganz sicher nicht.

Fünf Mädchen waren Teil der Gruppe. Das Jüngste von ihnen noch immer in den Armen der Mutter. Sie war noch kein Jahr alt, vielleicht nicht einmal ein halbes Jahr. Zitamun versuchte sich zu erinnern, wie die Mutter die Kleine genannt hatte. Er hatte in den Nächten immer gehört, wie die Kleine beruhigt worden war, wenn sie aus dem Schlaf hochschreckte. Luzy. Ja, ihr Name war Luzy gewesen.

Nun trat ihre Mutter nach vorne und setzte die kleine in der Mitte des Platzes ab. Das kleine Mädchen trug ein Kleidchen, das wohl einmal weiß gewesen war. Nun war es grau, nur ein klein wenig dunkler als die bleiche Haut des Kleinkindes. Das Licht der Morgensonnen spielte mit dem Haarflaum auf dem runden Kopf des Mädchens. Es war ganz hell … blond oder rothaarig, auf jeden Fall passte es zu der bleichen Haut der Kleinen. Zitamun versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl aussehen würde, in zehn oder zwanzig Jahren. Ihre Mutter, die sich nun an den Rand des staubigen Runenfeldes zurückgezogen hatte war groß und ein wenig zu muskulös, um noch als attraktiv durchzugehen. Selbst für eine Wölfin.

Selbstverständlich waren dies keine Schlussfolgerungen, die der fünfjährige Zitamun machte. Er beobachtete lediglich, wie das kleine Mädchen mit dem Dreck spielte, der nach so vielen Jahren über den Runen-verzierten Steinplatten lag. Dann schien Luzy genug davon zu haben und verlangte laut und unartikuliert nach ihrer Mutter. Diese schüttelte nur den Kopf. Sie hatte dickes dunkles Haar, das sie in vielen kleinen Zöpfen trug, die nach allen Seiten abstanden. Es war schwer vorzustellen, dass ihre Tochter einmal auch nur annähernd so aussehen würde wie sie.

Ein seltsames Rauschen schien die Luft zu erfüllen, als Tamunka am Rand der Runenplatten feierlich die Hände hob. „Shekka Nuntke Dko!“, rief er. Worte einer Sprache, die längst niemand mehr sprach. Worte, die man einfach weiter getragen hatte, ganz ohne ihre wahre Bedeutung zu kennen. Sie waren Teil des Ritus, ebenso wie der Wind, der den Staub von den Stein trug und an Luzys grauem Kleidchen zerrte. Und wie das Sonnenlicht, das plötzlich viel stärker auf die gespannt Wartenden hinab schien.

Sovine wandte den Kopf zur Seite und starrte in eine der verlasseneren Gassen, eine nahezu übersinnliche Vorahnung auf das, was in wenigen Augenblicken geschehen würde. Ein Geräusch, das den allen Ukleenry mit Wolfskzu nur zu bekannt war, durchbrach die gespannte Stille. Wolfsklauen auf Stein. Ein seltsam scharrendes Geräusch. Fuoco, der Wolf zu Sovines Füßen, hob zum ersten Mal interessiert den Kopf und Luzy verstummte ganz plötzlich. Ihre kleinen Kinderaugen begannen zu leuchten. Zwei wässrig blaue Perlen, die sich auf eine kleine sandfarbene Gestalt im Schatten der Straße richtete. Sie deutete mit einer kleinen ungeschickten Hand in die Richtung und lachte, frei und unbeschwert und man konnte kaum glauben, dass sie eben noch vor sich hin genörgelt hatte.

Die Lichtverhältnisse waren wieder wie zuvor. Wer zum ersten Mal ein Findunsritual sah, dachte sich vielleicht, dass es sich dabei nur um einen seltsamen Zufall oder eine Täuschung gehandelt hatte. Eine Wolke, die gerade im richtigen Moment zur Seite geschwebt war, um dem kleinen Mädchen unten im Dreck etwas angemessenes bieten zu können. Aber da waren keine Wolken am Himmel und die meisten Anwesenden kannten die seltsamen Dinge, die während der Findungen passierten nur zu gut.

Der Wolf trat aus dem Schatten der Straße heraus und lief zu seiner kleinen Begleiterin hinüber, die er ohne weiteres überragte. Bald würde sie dem kleinen Wolf über den Kopf wachsen, aber noch war er um einiges größer als die kleine Luzy, die ihm nun tollpatschig durch das helle Fell strich.

„Korri!“, rief sie lachend. Immer wieder. „Korri!“ oder „Orri!“ Und jeder wusste, dass sie wohl den Wolf meinte. Ob er nun Korri oder Orri hieß würde sich herausstellen, wenn Luzy größer werden würde. Nur sie konnte den Namen ihres Kzus wissen.

Zitamun fragte sich unwillkürlich, wie es sich wohl anfühlen würde. Diese Gewissheit, dieser Name des Kzus, den man zum ersten Mal in seinem Leben vor sich sah. Vielleicht würde eine Stimme in sienem Kopf den neuen Tierbegleiter vorstellen … das war eine schöne Vorstellung. Oder es würde einfach eine Tatsache sein. Eine Gewissheit, die zwar zuvor noch nicht da gewesen war, die aber beinahe sofort ein fester Teil des Denkens wurde. So, als hätte man es schon sein ganzes Leben lang gewusst.

Luzys Mutter eilte in den Kreis und hob ihre Tochter hoch. Ihre eigene Wölfin schnupperte neugierig an dem neuen Familienzuwachs. Korri. Tamunkas Blick lag bereits auf dem nächsten Mädchen. Ein ein wenig älteres diesmal mit dunkler Haut und schwarzem Haar. Sie trat selbstbewusst in den Kreis. Es war beneidenswert, dachte Zitamun zu sich selbst. Wenn jemand so von sich selbst überzeugt war, dass er mit keinerlei Sorgen in dieses Ritual gehen konnte. Vielleicht war das Mädchen auch einfach noch zu jung um die Tragweite des Momentes zu erfassen.

Ihr Name war Tanee, soviel wusste er. Mehr aber auch nicht. Er verbrachte nicht so gerne seine Zeit mit den anderen Kindern in seinem Alter. Lieber rannte er seiner Schwester und deren Freunden hinterher. Diese nahmen ihn selten ernst, aber das störte ihn nur selten. Kassa nahm ihn immer ernst … oder zumindest meistens. Das war genug, um ihn zufrieden zu stellen. Kassa konnte er vertrauen.

Kaum hatte sein Vater die Arme für Tanee gehoben, wiederholte sich auch schon das Schauspiel. Ihr Wolf war noch größer als Korri und viel dunkler. Er sah gefährlich aus und wenn sie neben ihm stand, sah auch Tanee plötzlich dunkler aus … unberechenbarer.

Das gefiel Zitamun von jeher am besten an den Kzu. Sie waren Spiegelbilder der Seele. Sie zeigten, dass er sich lieber nicht vorstellen wollte, wie Tanee wohl in zwanzig Jahren seien würde, egal wie unschuldig sie nun aussah mit gerade einmal vier Jahren. Sie lachte und ein weiteres Mädchen nahm ihren Platz ein. Diesmal kannte der kleine Sohn Tamunkas noch nicht einmal ihren Namen … es war schon beinahe peinlich. Sie musste genauso alt sein wie er selbst … ihre Wölfin war beinahe weiß. Einige der Erwachsenen wechselten verstohlene Blicke.

Es folgten Lai und Kamira. Zwei gute Freundinnen. Mindestens kannte er diesmal Namen. Die Wölfe, die durch die Straße zum Runenkreis kamen sahen sich sehr ähnlich. Ein gutes Zeichen für ihre Freundschaft, nahm Zitamun an. Nicht, dass es ihn wirklich interessierte.

Tamunkas dunkle Augen fielen auf seinen Sohn. Alle Mädchen hatten die Zeremonie hinter sich gebracht. Sicherlich hatte die helle Wölfin einige der Anwesenden beunruhigt. Es hielt sich nach wie vor der eiserne Glaube, dass weiße Wölfe schwächer seien als andere. Nichts als Unsinn natürlich. Tamunka war bei solchen Sachen moderner. Schließlich sah man auch seiner menschlichen Gestalt nicht sofort an, wie mächtig er in Wahrheit war. Dabei war er stark und listig. Ein Wolf, deren unscheinbares Äußeres die größte Geheimwaffe war. Ein Wolf im Schafspelz. Welch ein gelungenes Wortspiel.

Es machte Tamunka stolz, seinen Sohn dort stehen zu sehen. Man sah ihm bereits jetzt an, dass die Unscheinbarkeit für ihn ebenso nützlich werden konnte, wie schon für seinen Vater. Dabei sahen sie sich kaum ähnlich. Vater und Sohn waren auf ganz unterschiedliche Art und Weise unauffällig. Zitamun hatte die meisten seiner äußerlichen Merkmale von seiner Mutter geerbt. Eine geheimnisvolle Frau, die ebenso schnell gekommen war, wie sie wieder verschwunden war. Stolz und mit einer rötlichen Wölfin im Schlepptau hatte sie den Clananführer der Ost-Wölfe verführt und ihm einen Sohn geschenkt, als dieser noch dem frühen Tod seiner ersten Frau, Kassas Mutter, hinterher trauerte.

Nun lebte er mit seiner dritten Gemahlin, hatte weitere Töchter. Zitamun aber blieb sein einziger Sohn, sein potentieller Nachfolger. Ein wenig schmal und mit rötlichen Haaren, die im Licht der Morgensdämmerung zu leuchten begannen. Er war ohne Frage ein stolzer Vater.

Zitamun warf seiner Schwester einen unsicheren Blick zu, als er sich in die Mitte der verzierten Runensteine stellte und sie hielt ihm breit grinsend beide Daumen in die Luft. Er entschied sich dafür, den Blick auch weiterhin auf sie zu richten, denn sonst hätte er in die Gesichter der anderen schauen müssen. Da waren die dunklen Augen seines Vater und viele andere gespannte Blicke. Ukleenry- und Wolfsaugen, die auf den großen Augenblick warteten. Der Kzu der Oldiin hatte sich wieder aufgerichtet. Die Ohren aufmerksam aufgerichtet und er spürte schon wieder den stechenden Blick Sovines auf sich selbst.

Plötzlich wollte er es nur noch ganz schnell hinter sich haben.

Es begann ganz anders, als er es erwartet hatte. Es war nicht etwa sein Kzu, den er zuerst sah, sondern die Gewissheit in seinem Kopf. Sabii. Als hätte ihn jemand dort hinein gebrannt. Sabii. Eine Gewissheit, die ihn atemlos zurückließ. Sabii.

Als Zweites kam die Enttäuschung. Ähnlich intensiv wie die Gewissheit. Eigentlich war es ein ganz ähnliches Gefühl. Es war die Gewissheit, dass er gleich die größte Enttäuschung seines jungen Lebens erleben würde. Sein Blick wanderte zu Sovine, ohne dass er sich selbst kontrollieren konnte. Er sah es auf ihrem Gesicht. Eine Bestätigung. Es war nicht Enttäuschung … bloß Überraschung. Ihre Augen bohrten sich in seine und er wusste, was sie wusste.

Es wird kein Wolf.

Kassa hatte nicht Recht gehabt. Nicht ein einziges Mal. In keiner ihrer kindlichen Reden. Es war kein Wolf. Es war auch nicht groß und bedrohlich. Einmal hatte er sie gefragt, ob sie ihn fressen würden, wenn es eine Maus werden würde. Es war keine Maus, aber es war nah genug an einer Maus, um seine Beine in Bewegung zu setzen, bevor er seinen Kzu auch nur gesehen hatte.

Er wusste von wo das Tier kommen würde. Alle Wölfe waren durch die dunkle Gasse vor ihm gerannt gekommen. Es war nur ein natürlicher Reflex in die anderere Richtung zu fliehen. Über das unregelmäßige Steinmuster der Straße hinweg und zwischen den Häusern hindurch, bevor die erschrockenen Aufschreie seines Clans überhaupt an seine Ohren drangen.

Zitamun machte nicht Halt. Ohne zu wissen, wo lang es ging, suchte er die nächstbeste Nebenstraße und stieß beinahe mit einem Hunde-Kzu zusammen, der ihn neugierig betrachtete, während der dazugehörige Ukleenry mit einer dicken Frau redete.

Der Junge war flink genug, um dem Hund auszuweichen. Er war schon immer flink. Flink zu Fuß und noch flinker im Geäst der Bäume. Wie ein Eichhörnchen. Es widerte ihn an.

Mit Mühe schob er sich durch das geschäftige Treiben, denn dort, wo keine Wölfe entlangliefen, dort brummte die Stadt bereits voller Leben. Anders als zuvor, eilte niemand davon oder wich aus. Weil du kein Wolf bist! , hämmerte es in seinem Kopf, während er wieder abbog. Bei der nächsten Gelegenheit schlitterte er in eine Nebengasse, die er atemlos hinabeilte. Sackgasse. Behändig kletterte er über Fensterbretter und Mauervorsprünge auf ein niedriges Dach und rannte weiter. Gejagt von seinem eigenen Schatten auf der Flucht durch eine Stadt, in der er das erste Mal in seinem Leben war. Auf der Flucht vor dem eigenen Kzu. Auf der Flucht vor Sabii, auch wenn es Unsinn war. Kzu fanden ihre Ukleenry überall. Es gab kein Entrinnen. Nicht für ihn.

Er schwang sich auf eine höher gelegene Dachfläche und sprintete geschickt weiter. Wie ein Eichhörnchen, geschickt und schnell. Aber nicht gefährlich. Kein bisschen wölfisch.

Bei der nächstbesten Gelegenheit verschwand er wieder im Gewühl. Dort war es einfacher, weil die Menschen ihn für einen einfachen Straßenjungen hielten. Man sah nicht, dass der kleine Junge von einem rötlichen Schatten verfolgt wurde. Klein und unauffällig. Leicht zu übersehen. Auch das hatten sie gemein. Es widerte ihn an!

Der kleine Rothaarige fiel tatsächlich keinem der Händler und Hausfrauen ins Auge. Die Stadt wimmelte von Straßenkindern, klein und dreckig. Sie saßen in dunklen Ecken, ihre Kzu an die schmächtige Brust gedrückt. Alt genug, um von ihren Geburtsclans verstoßen zu werden, aber noch bei weitem zu jung, um in einem neuen Clan um Aufnahme zu bitten. Auf sich allein gestellt in einer Stadt, die nicht freundlich war mit denjenigen, die sich ihr Brot noch nicht selbst verdienen konnten.

Zitamun begegnete vielen auf seiner Hetzjagd in alle Richtungen. Und er schreckte vor ihnen zurück. Kleine Geister ihrer selbst. Die meisten waren in derselben Situation wie er. Maus-Kzu, Vögel, Hasen, einer trug einen kleinen Frosch in den bleichen Fingern, als wäre er der größtmögliche Schatz. Vielleicht war er das. Der Anblick erfüllte den kleinen … ehemaligen Ost-Wolf mit Grauen und Entsetzen. Er war nicht dumm. Ihn erwartete das gleiche Schicksal. Er konnte es spüren und rannte noch schneller, obwohl seine Beine bereits so schwer waren, dass er über jeden zweiten Stein zu stolpern drohte. Er war noch nie in seinem ganzen Leben so lange so schnell gerannt. Sicherlich hätte nicht einmal Kassa es so lange durchgehalten.

Der Gedanke an seine Schwester war es, der ihn schließlich ins Straucheln brachte. Er lag der Länge nach im kalten Dreck der Gasse, während das geschäftige Leben um ihn herum weiterging. Straßenjungen und -mädchen gab es genug. Dieser hier war gestolpert. Für sie war es kaum einen Blick wert.

Langsam und zu müde für die weitere Verfolgungsjagd richtete er sich auf und stolperte zum Straßenrand hinüber. Dort saßen ein paar dreckigen Jungen und spielten mit zerknitterten Karten. Er ging weiter, obwohl seine Beine protestierten. Sein Blick wanderte hinauf in den Himmel. Hier und da stieg Rauch ins klare Blau. Störte die Perfektion.

Tenorley war ein Labyrinth für jeden. Selbst für denjenigen, der nur ziellos die Straße entlang stolperte, ganz ohne die Absicht irgendetwas zu finden. Nein, er war nicht auf der Suche. Er war auch nicht mehr auf der Flucht. Es war laut hier draußen. Händler bewarben ihre Ware und allerlei Frauen und Männer tauschten die Neuigkeiten des Morgens aus. Die Wölfe seien in der Stadt, hörte man da. Man habe sie gesehen, wie sie in Richtung Westen gezogen seien. Ihr üblicher Ritual-Platz. Alles wie sonst. Außerdem sei die Oldiin in der Stadt. Kaummehr eine Neuigkeit, man wohnte schließlich in der Hauptstadt der Wilderlande. Tenorley war die einzige richtige Stadt, wo sollte Sovine wohl sonst ihre Zeit verbringen. Sonst sei der Morgen ereignislos gewesen.

Es war geradezu ohrenbetäubend laut für einen Jungen, der nie mehr Leute um sich herum gehabt hatte, als in seinem Rudel … Nicht dein Rudel!

Es hinderte ihn jedoch nicht daran, das leise Getappel winziger Pfoten zu hören. Es war ohne Zweifel eigentlich unmöglich. Er hörte es trotzdem. Hinter sich. Dauerhaft. Wenn er nicht so müde gewesen wäre, wäre er weiter gerannt. So konnte er nur weitergehen. Leicht humpelnd. Bei seinem Sturz hatte er sich die Knie aufgeschlagen. Egal. Weiter gehen. Immer geradeaus und immer ohne sich umzuschauen. Mehr ging nicht mehr. Und auch das wurde immer schwieriger.

Vor einem alten Haus … wohl eher vor der Ruine eines alten Hauses … verlor er ein weiteres Mal das Gleichgewicht. Ein Sturz. Noch einmal auf seine bereits blutigen Knie. Zornige Tränen rollten seine Wangen hinab, bevor er wusste, was überhaupt geschehen war. Er machte sich nicht die Mühe wieder aufzustehen. Ohne auf den schmerzhaften Protest seiner Knie zu achten, kroch er zum Eingangsbereich der Ruine hinüber. Selber Schuld, wenn man zu einem Eichhörnchen gehörte. Die Stufen zur Tür hinauf waren noch intakt, die Tür war es weniger. Nicht dass er vorhatte, in das Haus zu gehen. Er hockte sich auf die erste Stufe und zog die malträtierten Beine an die Brust. Ein leises Trippeln, ein kaum hörbares Rascheln. Für ihn waren die Geräusche lauter als jeder Krach. Scheußlich und gleichzeitig erfüllte ihn die Anwesenheit des kleinen Tieres mit einer bis zu diesem Augenblick unbekannten Zufriedenheit.

Sabii kam überraschend von oben und nicht von der Straße. Natürlich hatte das Eichhörnchen den sichereren Weg gewählt. Kletternd, von Dach zu Dach huschend.

Er starrte in kleine dunkle Augen. Das Tier hockte auf seiner Hose, die kleinen Pfoten im Material des Kleidungsstücks verankert. Buschiger Schwanz und mit Haarbüscheln besetzte Ohren.

„Du bist kein Wolf!“, zischte er dem kleinen Kzu unglücklich zu. „Ich will dich nicht!“

Sabii antwortete nicht … er reagierte nicht einmal. Die Augen wirkten plötzlich unnahbar. Zitamun schlug frustriert die Hände vor die Augen. Er wusste alles über Wölfe. Er konnte sehen, ob Dea wütend oder zufrieden war, er konnte ohne Probleme in den großen Augen Shaylas lesen, wie es gerade um die Gemütslage seiner Schwester stand. Wölfe waren kein Problem, Wölfe waren logisch und natürlich. Die Stellung der Ohren, die Kopfhaltung. Aus alle dem konnte man schließen, was man wissen musste.

Wie konnte er sehen, was Sabii dachte? War das Eichhörnchen auch enttäuscht? Sicherlich hatte es erwartet, mit offenen Armen empfangen zu werden. Hatte es überhaupt etwas erwartet? Wer wusste schon, wie klug Eichhörnchen waren. Wölfe, da war er sich sicher, erwarteten starke Ukleenry und ein Rudel. Ein Wolf wäre zufrieden bei ihm gewesen. Über das Nagetier konnte er keine solche Aussage machen.

Wieder drohten die Tränen ihn zu übermannen, also ließ er die Augen lieber geschlossen. „Warum kannst du nicht einfach weggehen?“

Sabii antwortete nicht. Das Tier rollte sich in seinem Schoß zusammen. Offensichtlich war sein Kzu ebenso erschöpft wie er selbst. Nach einer solchen Verfolgungsjagd war das kein Wunder. Einmal durch die ganze Stadt. Er beschloss, einen Moment lang auszuruhen. Nur für einen kurzen Augenblick, ganz sicher!

Kassa stand neben ihrem Vater, als ihr Bruder plötzlich auf der Stelle Kehrt machte. Sie wollte seufzen oder die Augen verdrehen. Zitamun hatte einfach so schwache Nerven, es war beinahe peinlich. Und sicherlich hätte sie genau das gemacht. Das genervte Seufzen beherrschte sie wie kaum ein anderer. Aber es blieb ihr in der Kehle stecken. Ihr kleiner Bruder war bereits in der Straße verschwunden, als der winzige rotbraune Blitz über ihnen entlanghuschte, von einer Dachkante zur anderen. Es gab eigentlich keinen Zweifel … nein, nicht den geringsten. Trotzdem riss sie den Blick von dem Nagetier los und richetete ihre Augen stur auf die Gasse. Es konnte nicht sein … es durfte nicht sein.

Es kam kein Wolf. Tamunkas Hand zitterte, als er sie auf die Schulter seiner Tochter legte. Sein Griff war fest und durchaus schmerzhaft. Sie schaute in sein Gesicht, halb verborgen hinter seinem zottigen Bart.

„Antwortete jetzt und ohne nachzudenken“, begann er, die Stimme zitternd und voller unterdrückter Emotionen. Kassa schluckte. „Wenn du ihm nachrennen willst, dann tu es jetzt. Willst du ihm hinterher laufen?“

Ihr Blick wanderte zögernd zu der Gasse, in der ihr Bruder verschwunden war. Ein Ukleenry mit Eichhörnchen-Kzu. Ihr Bruder. Natürlich dachte sie trotzdem nach. Ihr blieb kaum etwas anderes übrig. Sie hatte ihm so viel versprochen und nun lagen all die kindlichen Versprechen vor ihr ausgebreitet. Zerschmettert von der Realität. Zitamun konnte kein Ost-Wolf sein, noch viel weniger ein Clananführer. Er war ein Eichhörnchen, verdammt nochmal. Ein kleiner Nager. Auf eine niedliche Art und Weise passte es zu ihm, aber gleichzeitig war es widerlich. Ein Eichhörnchen.

„Tamunka!“, kam es von Sovine. Ihre Stimme klang seltsam gepresst, ihre Augen sprühten vor Wut. Der schmerzhafte Griff um ihre Schulter wurde nocheinmal stärker. Sovine hätte anders gehandelt, aber Kassa war nicht Sovine.

„Haltet Euch aus den Angelegenheiten des Clans heraus!“, bellte ihr Vater und alle zuckten zurück, ausgenommen Sovine und seine Tochter (der bei seinem mörderischen Griff kaum etwas anderes übrig blieb). „Deine Antwort, Tochter.“

Sie schaute abermals zu ihm herauf und traf eine Entscheidung, die sie ebensooft bereuen wie gutheißen würde. „Ich bleibe hier, Pa.“

Seine Züge wurden weich. Nicht ganz so weich, wie vorhin, als er seinen Sohn voller Stolz betrachtet hatte, aber es war genug, damit Kassa sie gut fühlte. Vielleicht war es besser so …

„Ich verkünde hier und in Anwesenheit von Zeugen, dass meine Tochter nach meinem Tod an meiner Stelle das Rudel führen soll. Sie ist absofort meine Nachfolgerin und Rechte Hand. Sie hat in meiner Abwesenheit alle Autorität. Und nun ...“ Er winkte die letzten beiden Jungen ungeduldig heran. „Lasst uns das hier hinter uns bringen, ich will diese Stadt hinter mir lassen, bevor die Sonnen im Zenit stehen. Beeilt euch!“

„Tamunka!“, unterbrach ihn Sovine ein weiteres mal.

„Wenn ihr die Zeremonie weiter unterbrechen wollt, dann bitte ich euch zu gehen, Oldiin!“ Seine Stimme war eisig und tropfte voll Missfallen, als er sie mit ihrem Titel ansprach.

„Es geht um euren Sohn!“

„Ich habe nur Töchter, Sovine, nur Töchter. Gesunde Wölfinnen mit Ehre und Geschick. Ihr seht, ich halte nich an alten Traditionen fest. Bei mir kann jedes tüchtige Familienmitglied Anführer werden. Ich unterscheide nicht nach Geschlecht. Ich. Habe. Nur. Töchter.“

Kassa konnte die Abscheu in den grauen Augen der jungen Frau lesen, die in Wahrheit gar nicht jung sondern schon furchtbar alt war. Dann drehte sie um und verschwand in die Richtung, in die auch schon ihr Bruder verschwunden war …

… Nein, verbesserte sie sich selbst, sie hatte keinen Bruder, nur Schwestern. Viele kleine Schwestern. Sie schluckte wieder und wagte es nicht zu ihrem Vater hinauf zu schauen. Vielleicht würde er ihr die innere Zerissenheit vom Gesicht ablesen können. Sie hatte nur Schwestern, nur Schwestern.

Trotzdem würde sie in ihren Träumen für den Rest ihrer Kindheit von einem kleinen Jungen verfolgt werden, der ihr Fragen stellte.

„Was passiert, wenn ich keinen Wolfskzu habe, Kassa?“, fragte der kleine Traumjunge.

„Dann renne, so lange du noch kannst!“, riet die Kassa im Traum. „Denn ich habe keinen Bruder.“

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Wie versprochen: Es geht voran! Die Zitamun Kapitel haben sich, als ich dann erst einmal im Schreiben drin war, mehr gezogen als erwartet. Es sind jetzt sogar drei Stück geworden! Heute gab's Nummer 1, morgen gibt's 2 und am Samstag Teil 3. Ich hoffe, es gefällt euch so wie es geworden ist.

lg. Magicstarlight

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