Sovine I


Sovine I

„Sovine! Kind, bleib nur von den Tieren weg! Nein, wenn dein Vater dich dabei erwischt … ach, warum rede ich eigentlich mit dir? Du bist unmöglich!“ Die alte Frau stützte sich auf ihren Gehstock und betrachtete kopfschüttelnd das kleine Mädchen, das zwischen den gewaltigen Pferden ihres Onkels herum tollte. Warum hatte man sie auch nicht in den Stall gebracht, nach dem sie von der Kutsche gespannt worden waren. Jeder hier wusste, dass die zwölfjährige Tochter des Gutsherren jedes große Tier ihren Nähstunden vorzog. Und am Ende würden auch wieder jeder darunter leiden. Das Kleid des blonden Mädchens, die Amme, die ihr hinterher humpeln musste und der ganze Hofstaat, der für den Rest des Tages die schlechte Laune des Herrens ertragen musste.

 Timotheus von Norderfels war der wohlhabendste Gutsherr im ganzen Peor-Gebirge. Er verfügte über weite, bergige Landstriche und über das Tor von Norderfels, das für die Händler der einzige Weg durchs Gebirge war. Er schätzte Sitten und Gebräuche und hatte sieben Kinder, zwei Töchter und fünf Söhne, die er streng nach jenen Sitten erzog. Bloß bei einem Kind schien diese Erziehung vollkommen sinnlos zu sein. Sein jüngstes Kind, Sovine. Sie hatte ihre Mutter im Kindalter verloren und wehrte sich von jeher gegen alles, was ihr zu schicklich oder zu weiblich war. Doch das schlimmste war für den Vater ihr tatsächliches Talent. Sie konnte besser mit dem Schwert umgehen, als ihre beiden nächstältesten Brüder und ritt störrischere Pferde, als sein ältester Sohn. Wäre sie ein Junge, wäre sie perfekt gewesen, so aber war sie genau das Gegenteil von dem, was er schätzte und förderte.

 Auch dieses Mal, als er sie zwischen den riesenhaften Tieren spielen sah. „Sovine! Mach das du von den Tieren da wegkommst!“, rief er erbost von seinem Fenster aus. Er stand im Salon seines Hauses. Hinter ihm kam besorgt seine ältere Tochter Imogen heran. „Alles in Ordnung, Vater?“, fragte sie besorgt. Dieser fuhr zu ihr herum. „In Ordnung? Nichts ist in Ordnung. Deine Schwester ist schon wieder unten bei den Pferden. Such einen deiner Brüder und sag ihm, er soll diese verdammten Viecher in den Stall schaffen!“

 Er hatte selten solche Ausbrüche. Nur seine Jüngste konnte ihn so zur Weißglut bringen, das wussten alle. Und trotz alledem war der blonde Wirbelwind von Norderfels der Sonnenschein für alle, die hier lebten. War schlechte Stimmung, sorgte sie für bessere, war jemand traurig, munterte sie ihn wieder auf. Vom Kleinkindalter an tobte sie durch das riesige Herrenhaus und sorgte bei seinen Bewohnern und Bediensteten für sowohl Freud als auch Leid. Doch je älter sie wurde, desto griesgrämiger sah der Herr dieses Verhalten. Und das bekam auch Sovine zu spüren.

 „Geh hinauf in dein Zimmer, Sovine. Beschäftige dich sinnvoll. Nähe, zeichne, lese oder musiziere. Beschäftige dich – aber nicht so!“ Damit schloss er das Fenster geräuschvoll und ließ sich in einen seiner Sessel sinken.

 Als sie sicher war, dass er nicht mehr aus dem Fenster sah, schnitt Sovine eine Griemasse in seine Richtung und stapfte ins Hausinnere. Dort stieß sie mit ihrem ältesten Bruder, Kenneth von Norderfels zusammen. Er war fünfzehn Jahre älter als sie und ihr geheimer Verbündeter. „Du hast es also wieder geschafft, ihn zu erzürnen“, stellte er schmunzelt fest. „Du bist wirklich unmöglich. Also dann, ich darf nun deinetwegen die Pferde in den Stall bringen.“ Sovine machte ein noch finstereres Gesicht. „Aber warum nur, komm doch lieber mit mir nach oben, damit wir etwas sinnvolles machen können“, antwortete sie verdrießlich. „Wir könnten Vater sein hundertstes Schnupftuch besticken oder musizieren, damit uns jeder sagt, wie toll wir spielen.“

 Kenneth schüttelte lachend den Kopf. „Ach Elfchen, du wirst einmal den Titel zur undamenhaftesten Dame erhalten.“

 Sie verbeugte sich. „Vielen Dank, Sir. Nun entschuldigen Sie mich, ich muss musizieren.“ Damit polterte sie die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Raum, bevor sich die Amme oder ihr Vater über den Krach beschweren konnten. Auch wenn man es als Außenstehender vielleicht nicht verstand, diese Familie hätte nicht glücklicher sein können.

 Bis das Feuer die Familie zerstörte. Es war bereits später Nachmittag. Sovine hatte den Rest des Tages in ihrem Zimmer verbrachte, nicht lesend, nicht musizierend, aber lesend. Abenteuerromane, die sie aus der Bibliothek ihres Vaters … ausgeliehen hatte. Sie hielt sie sorgfältig in ihrem Kissenbezug versteckt und las sie nur, wenn sie sich sicher sein konnte, dass niemand zu ihr kommen würde. Heute war sie sich sicher. Kenneth und Edwin wollten ausreiten, Imogen kam nie zu ihr ins Zimmer und von ihrem Platz am Fenster hatte sie einen guten Blick auf Byron, Ramon und Balian, die sich im Garten im Fechten übten. Ja und ihr Vater, der würde sie den Rest des Tages nicht beachten, damit sie aus ihren Fehlern lernte. Theoretisch. Praktisch würde sie sich einfach morgen früh in den Stall schleichen. Sie hörte die kräftige Stimme ihres Onkels im Garten. Thedorian von Norderfels lebte mit seiner Frau auf einem Anwesen eine Tagesreise entfernt und kam nur selten zu Besuch. Zum Leidwesen seines Bruders vergötterte Sovine sowohl ihn, als auch seine riesigen Pferde, die er auf seinen Ländereien züchtete. Sie waren größer und kräftiger als normale Pferde, hatten aber trotzdem ein hitziges Gemüt, weshalb Timotheus es nicht gerne sah, wenn seine Tochter zwischen den Hufen der riesigen Tiere herumsprang.

 Und wäre sie nicht so in ihr Buch vertieft, hätte Sovine von ihrem Platz am Fenster sicher auch als erste die Flammen im Wald gesehen. So aber brauchte es erst den entsetzten Ausruf ihres Onkels, damit sie aufschaute. Ein Schauer überlief sie, als sie in die feurige Glut sah. Der Rest ihrer Familie, ausgenommen ihre beiden ältesten Brüder, war im Garten. Imogen ließ ihr Nähzeug fallen, rannte zum Eingang und läutete wild die Dienstbotenglocke, während die Brüder mithilfe ihres Onkels die Pferde aus dem Stall holten. Timotheus aber rannte ins Haus. Er nahm einen Sack Gold vom Kamin und steckte es in sein Wams, griff sich ein Bild seiner toten Frau von einer Kommode und rannte die Treppe hinauf. Als er das Zimmer seiner jüngsten Tochter öffnete, saß diese wie versteinert auf dem Fensterbrett und hielt ein Buch in den Händen. Ihr Blick ging nach draußen zu den immer näher kommenden Flammen.
„Sovine!“, rief er laut und riss sie damit aus ihrer Trance. Er durchquerte den Raum und nahm das Mädchen auf den Arm, wie ein kleines Kind. Er lief mit ihr die Treppe hinunter und hinaus in den Garten, wo bereits Pferde gesattelt und beladen wurden. Ein Bediensteter wollte noch einmal hinein, doch der Gutsherr schüttelte den Kopf. „Dafür bleibt keine Zeit. Auf die Pferde, alle! Beten wir zu Utrias, dass Kenneth und Edwin das Feuer früh genug bemerkt haben!“ Damit ging er zu einem der riesigen Tiere seines Bruders hinüber und setzte seine Tochter darauf. „Reite Kind, reite. Tu das, was du sowieso immer machen willst!“ Und sie ritt. Die anderen Pferde konnten ihr nur mit Mühe folgen. Es ging durchs Unterholz in die bewaldeten Ländereien hinein, nur weg von dem Feuer. Plötzlich bäumte sich ihr Tier auf. Noch mehr Feuer, direkt vor ihnen. Es schnitt ihnen den Weg ab!

 Sie drehte sich im Sattel zu den anderen um, die von hinten noch nicht das Feuer gesehen hatten. Sie gestikulierte wild in eine andere Richtung und riss auch ihr eigenes Pferd herum. Es ging weiter, einen kleinen Abhang hinab, einen anderen hinauf. Das Feuer kam immer näher. Sovine spürte, das ihr Pferd das Tempo nicht mehr lange halten konnte. Hektisch schaute sie sich nach einem Ausweg um und sah den Ast nicht, der sie im nächsten Augenblick aus dem Sattel riss. Die Flammen hatten sie nun beinahe erreicht. Sovine landete hart auf dem Boden und ihr wurde für einen kurzen Moment lang schwarz vor Augen. Als sie wieder sehen konnte, sah sie, wie ihr Vater kehrt machte und auf sie zu ritt – und sie spürte die heißen Flammen in ihrem Rücken. Sie versuchte sich aufzurichten, aber ihr Körper rebellierte. Ihr Vater war nur noch einige Längen von ihr entfernt, er würde es nicht schaffen, nicht, wenn er bis zu ihr ritt. Sie schüttelte flehend den Kopf, rief ihm etwas zu, das vom Tosen der Flammen verschluckt wurde. Dann bahnte sich das wütende Feuer den Weg zu dem Mädchen und sie schlug nur noch die Hände schützend vor ihr Gesicht, als Funken auf sie herab regneten. Ein lautes Knacken, dann fiel unter lautem Krachen und Rascheln ein brennender Baum zwischen Vater und Kind. Das Pferd unter dem Vater bäumte sich auf und er konnte sich nur mit Mühe im Sattel halten. Das Tier unter ihm tänzelte schnaubend vor Angst ein paar Schritte zurück, während er angestrengt in die Flammen starrte. Er konnte seine Tochter nicht mehr sehen. Wo war Sovine?

 „Vater!“ Ein angsterfüllte Ausruf von Imogen. Ein letzter hoffnungsvoller Blick in die Flammen, aber da war nichts. „Vater!“

 Er drehte sein Pferd herum und ritt seiner Familie hinterher. Seiner verbliebenen Familie. Als sie sahen, dass er alleine kam, fing Imogen an zu weinen. Sie ritten weiter nach Norden. An einem breiten Bach konnten sie das Feuer fürs erste hinter sich lassen, trotzdem ritten sie noch weit ins Land hinein, bis der Wald lichter wurde. Erst, als sie genug Abstand zu den Bäumen hatten, brachten sie die Pferde zum Stehen. Imogen weinte nicht mehr. Sie starrte nur noch mit roten Augen an den Horizont, wo man das feurige Inferno noch erkennen konnten. Byron, Ramon und Balian ließen sich ins Gras sinken. Sie weinten, aber leise und für sich alleine. Und Timotheus … er zog das Bild seiner verstorbenen Frau aus dem Wams. Das Deckglas des Rahmens war gesplittert, aber er konnte ihr Gesicht trotzdem gut erkennen. Feine Gesichtszüge eingerahmt von dunkelblondem Haar. Dem Haar, das nur Sovine geerbt hatte. Seine Finger begannen zu beben und das Bild glitt ihm aus den Händen. Er verschränkte die zitternden Hände ineinander und schloss die Augen. Sein Bruder legte ihm eine Hand auf die Schulter. So trauerten sie um den kleinen blonden Wirbelwind von Norderfels.

Einige Stunden später stiegen sie wieder auf die Pferde. Es war mitten in der Nacht, aber sie wollten den nächsten großen Ort namens Tawi schnellstmöglich erreichen. Keiner sprach ein Wort. Die jüngsten Söhne Balian und Ramon sahen so aus, als könnten sie sich kaum noch in den Sätteln halten, doch sie hielten erst wieder im Morgengrauen, als sie die Stadtmauer von Tawi erblickten. Hier waren sie nur eine von vielen flüchtenden Familien. Einen Sack Gold hatten sie bei sich, sonst besaßen sie nur, was sie am Leibe trugen und ein paar wenige Güter, die sie aus dem Haus gerettet hatten. Sie hielten an einem der Gasthöfe, die bereits völlig überlaufen waren und Timotheus bezahlte das dreifache des gewöhnlichen Preises, um seinen Kindern ein Dach über dem Kopf zu ermöglichen. Er schickte sie zu Bett, blieb aber selbst am offenen Fenster stehen und starrte über die Dächer hinweg dorthin, wo er die Berge von Peor vermutete.

„Vater!“ Er sah nach unten und ihm wurde etwas leichter um sein trauriges Herz. Dort im Gedränge standen Kenneth und Edwin, sein Erst- und Zweitgeborener.

Sie betraten das Gasthaus und er kam ihnen im Schankraum entgegen. „Ich bin so froh, euch lebend zu sehen!“, sagte er leise und umarmte beide. Kenneth nickte. „Und wir erst. Wo sind die anderen? Sind sie schon oben?“ Der Vater nickte, aber während Edwin hinauflief, hielt er Kenneth am Arm zurück. Er hatte Sovine immer am nächsten gestanden. Nun warf er seinem Vater einen fragenden Blick zu. „Was ist Vater?“

Timotheus holte zitternd Luft. „Wir haben Sovine verloren, Kenneth. Im Feuer meine ich.“ Er schloss die Augen, denn er konnte das Entsetzten in den Augen seines Sohnes nicht ertragen. „Wie?“

„Sie ist vom Pferd gefallen und … ich war nicht schnell genug bei ihr.“ Er löste seine Finger und Kenneth zog seinen Arm zurück. Er zögerte kurz, dann durchquerte er den Schankraum und rannte wieder hinaus auf die Straße. Entsetzt stellte der Vater ihm nach. „Kenneth! Nein, bleib hier!“ Doch da war der Junge bereits im wilden durcheinander der Flüchtlinge verschwunden.

Das erste, was sie realisierte, waren die Schmerzen. Ihr ganzer Körper schmerzte, aber am meisten ihr Rücken und ihr Kopf. Sie versuchte sich aufzurichten, doch ihr Körper verwehrte ihr diesen Dienst. Sie hatte Durst und ihr war kalt. Sie hustete und spürte ein ekelhaftes Kratzen im Hals. Wo war sie? Und warum war es so still? Im Herrenhaus war es nie so still gewesen. Tagsüber hatte man immer irgendwo das Lachen ihrer Brüder oder das Arbeiten der Bediensteten gehört. Nachts war das Schnarchen ihrer Brüder immer durch die Wände zu ihr gedrungen. Hier aber fehlten solche Geräusche.

Etwas stupste gegen ihr Bein und sie zuckte zusammen. Ein scharfer Schmerz durchlief ihren Körper und sie schnappte nach Luft. Ein Winseln, dann berührte das Wesen wieder ihr Bein. Mühsam öffnete sie ihre Augen und starrte hinauf in einen blauen, beinahe wolkenlosen Sommerhimmel. Sie versuchte erneut sich aufzurichten … ohne Erfolg. Wieder erklang das Winseln und etwas dunkles Schob sich in ihr Sichtfeld. Eine lange graue Schnauze und eine schwarze Nase, konnte sie erkennen. Und ein paar bedrohliche Zähne. Das Wesen winselte erneut und schob sich an ihre Seite. Sie spürte den warmen Körper neben sich und sank zurück in die Dunkelheit, aus der sie eben erst erwacht war.

Als sie wieder erwachte, war es Nacht. Sie starrte in die gespenstischen Antlitzer des Vollmonde hinauf und versuchte sich an die vergangenen Ereignisse zu erinnern. Da war ein Feuer gewesen und ihr Vater, der sie aus ihrem Zimmer trug. Er hatte sie auf ein Pferd ihres Onkels gesetzt und war vorrausgeritten, bis ihrem Pferd langsam die Kräfte geschwunden waren und dann … dann war sie gefallen. Sie erinnerte sich noch dunkel an das Gesicht ihres Vaters und an Flammen, die über ihr emporschossen, doch das war unmöglich. Niemand hätte das überlebt, aber sie war zwar verletzt, aber den Schmerzen nach zu schließen noch am Leben.

Etwas drückte gegen ihre Seite. Das winselnde Wesen! Jetzt winselte es nicht. Der warme Körper bewegte sich langsam und gleichmäßig. Auch diesmal versuchte sie sich zu bewegen und diesmal hatte sie Erfolg. Sie richtete sich keuchend in eine sitzende Position auf und stützte sich auf ihre verkratzten Handflächen. Das erste, was ihr auffiel war, dass sie keine Kleidung am Körper trug. Das zweite war der kleine Wolf, der sich nun verschlafen aufrichtete und zu ihr hinaufstarrte. Und das dritte … das war der kühle Lufthauch, der über ihren Kopf hinweg zog. Zitternd hob sie eine Hand und fuhr über ihren kahlen Schädel.

Der kleine Wolf winselte wieder, lief um sie herum und stupste sie von hinten an. „Was willst du?“, fragte sie ihn mit kratziger Stimme und ließ ihre Hand wieder sinken. Das Tier antwortete nicht, natürlich, und nahm ihre Hand vorsichtig zwischen seine Zähne. Erst wollte sie sie sofort zurückziehen, aber sie hielt inne, als sie merkte, dass er ihr nichts tat. Er zog lediglich leicht an ihrem Arm. „Willst du, dass ich mitkomme?“, riet sie. Vorsichtig machte sie ihre Hand los und stand schwankend auf. Beinahe wäre sie sofort wieder umgekippt, aber sie schaffte es, die Balance zu halten und sah sich in diesem Schlachtfeld um. Überall ragten schwarze, scharfzackige Stümpfe nach oben und der Boden war mit grauer Asche bedeckt, ebenso wie Sovine.

Der Wolf sprang vor ihr auf und ab, umrundete sie einmal und lief dann ein Stück in den verkohlten Wald hinein.

„Warte!“ Ihre Stimme klang noch immer rauchig und sie hustete. Auch wenn sich jede Faser ihres Körpers dagegen wehrte, machte sie einen wackeligen Schritt vorwärts, dann einen weiteren. Schritt für Schritt kämpfte sie sich vorwärts, immer dem Wolf hinterher, wohin auch immer er sie führen würde. Dann sah sie zwischen den Bäumen eine Lichtung, auf der etwas großes, von Asche überzogenes stand. Sie kämpfte sich noch ein wenig weiter und erblickte schließlich das Herrenhaus ihrer Familie. Fasziniert und entsetzt zugleich betrachtete sie die rußgeschwärzten Wände und humpelte weiter darauf zu. Vom Stall war kaum noch etwas übrig. Zitternd fuhr sie mit den Fingern über den nun schwarzen Rahmen ihrer Eingangstür. Von den Flügeltüren selbst war wenig übriggeblieben. Vorsichtig stieg sie über den Schutt hinweg und diesmal folgte der Wolf ihr. Sie warf einen Blick auf die ramponierte Treppe in die Obergeschosse und entschied, dass es zu riskant war, hinaufzusteigen. Stattdessen ging sie umsichtig zur steinernen Kellertreppe hinüber. Wieder winselte der Wolf. „Keine Angst, ich komm gleich wieder!“, flüsterte Sovine, ehe sie langsam die von Holzspänen übersäte Treppe hinab kletterte.

Tatsächlich war der Kellerraum beinahe unbeschadet geblieben. Natürlich, auch hier war alles von einer feinen dunklen Schicht Ruß bedeckt, aber das Mobiliar war noch so gut wie unbeschadet. Ihr Ziel war ein hoher Wandschrank mit Spiegeltüren. Ihr eigenes Spiegelbild war geradezu angsteinflößend. Ein kahler, bleicher Schädel, der zu einem Kopf gehörte, der ganz anders ohne Haare wirkte.

Nach eingehender Betrachtung zog sie die Flügeltüren des Schrankes auf. Er war über und über mit Frauenkleidern gefüllt. Alte Kleider ihrer Mutter und Kleider, aus denen Imogen herausgewachsen war. Sie fuhr mit den Händen durch die Kleider und suchte nach einem, dass ihr vielleicht passen könnte, doch alle Kleider, die ihr nicht viel zu lang gewesen waren, hatten in ihrem Schrank im ersten Stock gehangen. Viel war davon sicherlich nicht mehr übrig. Unter gewaltiger Anstrengung zog sie eine Truhe unter dem Schrank hervor und öffnete sie. Sie war gefüllt mit Hosen und Hemden ihrer Brüder. Sie zog eine möglichst kurze Hose, ein Hemd und ein Wams aus der Truhe, fand noch etwas Wäsche im Wandschrank und kleidete ihren schmerzenden Körper ein. Dann humpelte sie durch den Keller und suchte Dinge zusammen, die sie vielleicht brauchen konnte. Einen Lederbeutel, ein paar Stiefel, die ihr nur ein wenig zu groß waren, eine Wollmütze, ein kleines Messer und einen breiten schweren Mantel aus der alten Garderobe ihrer Mutter. Danach stopfte sie noch ein paar weitere Kleider in den Beutel und suchte nach etwas essbarem. In den Regalen des Kellers standen ein paar eingestaubte Gläser und ein Beutel mit altem Brot für die Pferde. Von beidem nahm sie sich so viel wie möglich, ehe sie die Treppe wieder hinaufstapfte.
Der Wolf knurrte überrascht und legte die Ohren an, dann rannte er einmal um Sovine herum, legte den Kopf schief und winselte wieder. „Ich bin es nur, keine Angst!“, flüsterte sie mit ihrer kratzigen Stimme und lächelte. „Ich brauche nun mal Kleidung, ich habe kein Fell wie du, nicht einmal mehr Haare.“ Der Wolf sprang nur hin und her. Sie ging vor ihm in die Hocke und zog einen Streifen Trockenfleisch aus dem Beutel. „Hier, dafür dass du mir den Weg hierher gezeigt hast.“ Sie hustete und sah zu, wie der Wolf das Fleisch neugierig beäugte. Er schnupperte daran, wich zurück, umkreiste Sovine, ging wieder zum Fleisch und berührte es vorsichtig mit der Schnauze. Dann verschlang er es in einem Bissen und hüpfte aufgeregt um Sovine herum. Sie grinste und schob sich selbst etwas Brot in den Mund. „In Ordnung. Das nächste bekommst du, wenn du mich zu Wasser geführt hast. Ich sterbe vor Durst.“

Überraschenderweise lief das Tier sofort los, als hätte es den Befehl tatsächlich verstanden. Sovines müde und geschundene Beine hatten Mühe, mit dem flinken Wolf Schritt zu halten. Er lief wieder mitten in den Wald hinein. Zögernd blieb Sovine stehen und drehte sich noch einmal zum Haus um. Sie wollte nicht wirklich von hier weg, aber was sollte sie hier machen? Sie ging langsam durch die öde Landfläche, die einmal ein stattlicher Garten gewesen war. Im Boden festgetreten fand sie etwas. Ein Buch … ihr Abenteuerroman! Erstaunt hob sie das Buch auf. Es war zwar dreckig wie alles hier und an der Seite leicht verkohlt, aber man konnte es noch gut lesen. Glücklich steckte sie dieses Erinnerungsstück in ihr Wams und folgte dem Wolf in den Wald hinein.

Die daraufhin folgende Wanderung war keine leichte. Jeder Muskel appellierte an sie, sie solle doch einfach aufgeben, doch sie lief weiter, schwankend und immer wieder stürzten. Gerade als wieder einmal über eine einsame Wurzel gestolpert war und mit dem Gedanken spielte, einfach liegen zu bleiben, hörte sie es. Das belebende Geräusch von fließendem Wasser. Sie rappelte sich auf und folgte dem Geräusch. Der Wolf spornte sie an, zog an ihren Kleidern, wenn sie stürzte und sprang um sie herum. Ein kleiner Bach! Sie bahnte sich die letzten paar Meter einen Weg durch die spitzen, verkohlten Holzreste und fiel am Ufer des Baches erleichtert auf die Knie. Sie tauchte ihre Hände in das kalte Wasser und trank aus der hohlen Hand. Sie hatte noch nie etwas besseres getrunken, es war ein unbeschreibliches Gefühl. Der Wolf legte den Kopf schief und sie lachte überschwänglich. „Natürlich bekommst du noch Fleisch! Du bist meine Rettung gewesen!“ Sie kramte mit ihren feuchten Fingern im Beutel herum und warf ihm gleich zwei Streifen Trockenfleisch hin. „Hier, mein kleiner Retter.“ Dann trank sie wieder.

Da sie keine Gefäße hatte, in die sie das Wasser füllen konnte, außer die mit Trockenfleisch gefüllten Gläser, blieb sie einfach am Ufer des Baches sitzen. Wahrscheinlich wäre sie sowieso nicht mehr weit gekommen. Sie war mitten in der Nacht aufgewacht und nun war es schon wieder später Nachmittag. Sie war todmüde und nutzte ihre letzte Kraft, um sich ein kleines Lager am Bach zu errichten. Als es abends wurde, zog sie den schweren Mantel hervor und wickelte sich darin ein, auch die Mütze zog sie über den kahlen Kopf. Den Lederbeutel nahm sie als Kopfkissen und das Messer legte sie griffbereit darunter. Der kleine Wolf legte den Kopf schief und stupste mit der Schnauze gegen den Beutel. Sie lächelte müde. „Morgen gibt es wieder was davon, ja? Geh jagen, wenn du hier überhaupt was finden kannst. Wir müssen versuchen sobald es geht wieder in nicht verkohlten Wald zu finden. Dort könnte ich Beeren sammeln und du könntest jagen.“ Der Wolf legte nur den Kopf auf die Pfoten und schloss die Augen. „Gute Idee“, murmelte Sovine und legte den Kopf auf den Beutel. Binnen weniger Augenblicke glitt sie in den Schlaf, hinein in eine Welt weit weg von den verkohlten Baumstümpfen des Waldes.

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So hallo, hier wieder ein kleines Einschubkapitel ;) Ich muss ja zugeben, dass ich Sovine als Charakter wirklich gerne habe, fast so gerne wie Ti-Lien und Berion. Nächste Woche kommt dann noch der zweite Teil ihrer Geschichte, ich habe bei Volkum I + II bemerkt, dass es einfacher ist, wenn man eine Pause in der Mitte macht =)

Ach ja, wenn ihr schöne Namen für Wölfe kennt, schreibt sie doch mal in die Kommentare, noch ist der kleine nämlich namenlos! :D

Ich hoffe, euch gefällt das Kapitel,
lg. magicstarlight

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