Sera, das Dorf im Moor

36. Tag der Vizia, Jahr 2347 der Vereinigung

„Nicht schon wieder Schnee.“

Ich schaute nach oben. Der Himmel war von dicken weißen Wolken bedeckt und nun fielen schon wieder weiße Schneeflocken gen Boden. War das Wetter auf unserem Weg zum großen See zumindest sonnig und bei unserer Überfahrt sogar recht mild gewesen, so hatte die Vizia nun noch einmal alles, was sie an Kälte hatte, aufgeboten, um uns den Weg durch die Moore noch beschwerlicher zu machen. Seit wir in Kearl an Land gegangen waren, schneite es unaufhörlich und der Wind zerrte eisig an unseren Kleidern. Heute Morgen hatte es kurz aufgehört zu schneien, doch jetzt ging es schon wieder los.

„Wir können nicht so weiter machen.“, stellte Rubeen fest und drehte sich zu uns um. Tukiyan nickte. „Wenn sich unsere Lage bis heute Nacht nicht verbessert, fliegen wir als Drachen nach Weyena, Geheimhaltung hin oder her.“

Ich nickte zustimmend und Karthek brummte. Seine braune Locken hingen ihm nass im Gesicht und er hatte die Augen zusammen gekniffen. Wir alle trugen mehrere Gewänder übereinander und hatten breite Tücher um unsere Köpfe geschlungen, trotzdem war uns bitterkalt.

Ich griff nach seinem Arm und wischte im die Haare aus den Augen. Er wandte mir sein Gesicht zu und ein Hauch von einem Lächeln spiegelte sich darauf wider.

„Was ist? Wie kannst du noch so gut gelaunt sind? Ist dir dein Lächeln festgefroren?“

„Nun denk doch mal positiv. Schnee. Früher haben wir uns immer über viel Schnee gefreut und jetzt, jetzt blasen wir Trübsal.“

Er lachte und umarmte mich flüchtig, dann schob er mich weiter durch den Schnee.

„In Ordnung, dann freuen wir uns jetzt über all den Schnee.“, er breitete die Arme aus und blickte in den Himmel. „Schnee! Wir könnten eine Höhle in den Schnee bauen, ich könnte dich mit Schnee abwerfen oder dich in einen Schneehaufen werfen. Aber leider müssen wir bis zum Tag der göttlichen Geschwister in Weyena sein. Also Beeilung!“

„Du glaubst doch selber nicht, dass wir uns beeilen müssen. Ich weiß nicht genau, welcher Tag heute ist, aber wir haben noch gut und gerne 30 Tage Zeit, da bin ich mir sicher.“

Karthek zwinkerte mir zu und nickte in Richtung Tukiyan. Wir waren ein Stück zurück gefallen und hatten nun Mühe, wieder zu den anderen aufzuschließen. Rubeen drehte sich amüsiert zu uns um.

„Seid ihr fertig, ihr Liebeselfchen?“

Karthek griff in eine Schneewehe und wollte sich gerade lachend auf Rubeen stürzen, wurde aber von Tukiyan am Arm gepackt.

„Karthek, es genügt. Hat dir der Schnee so übel zugesetzt, dass du deine Aufgabe vergessen hast?“

Karthek hielt seinem Blick stand, allerdings erwiderte er auch nichts. Er befreite seinen Arm aus Tukiyans Griff und stapfte wieder schweigsam durch den Schnee.

„Mina.“, Tukiyan blickte sich nach mir um und ich kam zu ihm, um an seiner Seite weiter zu gehen.

„Warum hast du das gemacht?“, fragte ich ihn vorwurfsvoll. „Warum musst du deine Rolle als der Älteste so übertreiben?“

„Wir haben keine Zeit für Spielchen Mina. Unsere Aufgabe ist es, dich nach Weyena zu bringen, dich dort bei dem Ratstreffen zu unterstützen und dich dann zurück zu bringen.“

„Und was war auf dem Fähre? Du hast angefangen elfische Lieder über mich, als Tocher Jeorelans gesungen! Waren das auch Spielchen?“

„Das war falsch und ich stehe dazu.“, sagte er steif.

„Dann bringt mir deine übertriebene Ernsthaftigkeit auch nichts, die macht mich höchstens krank.“, antwortete ich wütend und ließ ihn hinter mir zurück, um schweigend neben Karthek her zu laufen.

Die Stunden strichen an uns vorbei, das Wetter wurde nicht besser, es wurde langsam dunkel und, wenn das überhaupt möglich war, noch kälter. Und mit den Temperaturen fiel auch meine Stimmung. Karthek merkte das natürlich sofort. Er merkte immer, was in mir los war. Er griff nach meinem Arm, zog mich sanft an sich und beschleunigte seine Schritte, bis wir ein gutes Stück zwischen Tukiyan und uns gewonnen hatten, dann begann er leise zu summen. Er summte die Melodie, des „Mina-Liedes“. Und hier, mitten in den vereisten Mooren von Tanerm war die Melodie passender. Sie harmonierte mit dem Wind und den untergehenden Sonnen, mit unseren Schritten durch den Schnee und mit den Wasserflächen, denen wir auswichen und aus denen tote Bäume und zarte Pflanzen ragten, die mit glitzerndem Eis bedeckt waren.

Leise, ganz leise begann ich den Text zu singen. Doch diesmal konzentrierte ich mich nicht auf die Bedeutungen der Worte, sondern nur auf die seltsame Harmonien, die alle Worte verbanden.

Ule kinro haykes lut eru,

Gesar kinro olderat lut seyek,

Ule vurdel jelniat lut ku,

Ritour fessa tenji gesar kinro tortenjek.

Niasar tor kinro telsar, nielko Widuur,

Seka tellkar sultera tulu sitsha,

Ritour tellkar sultera sorltulu,

Nel merno,

Niasar tor zek kinro tortenjek Minya.“

Hier ging mir der Text aus. Wie ging es nochmal weiter? Irgendetwas über Straßenkinder und die Menschenstadt...

„Da ist ein Dorf! Dort, seht!“

Ich riss den Kopf hoch und starrt in die Richtung, in die Kartheks ausgestreckter Arm wies. Tatsächlich. Zwischen den kahlen Bäumen ragte ein hoher Holzzaun empor und nicht sehr weit von uns entfernt befand sich, von einigen Fackeln erhellt, ein beeindruckendes Tor, mit atemberaubend Schnitzereien verziert. Auch Rubeen und Tukiyan hatten den Zaun entdeckt und holten uns jetzt auf.

„Dieses Dorf hat Jeorelan geschickt. Das kann einfach nur ein Gottesgeschenk sein.“, sagte Rubeen.

Im Laufen erreichten wir das Tor. Ehrfürchtig strich ich über die Schnitzereien. Ich entdeckte geschnitzte Menschen, freie Moorlandschaften, Flüsse und die Himmelskörper. Tukiyan hatte keinen Blick für die Kunst übrig. Er schob sich an mir vorbei und pochte mit der Faust gegen das alte Holz. Dreimal, dann noch dreimal. Endlich regte sich etwas im Inneren des Dorfes und ein kleines Fenster ein gutes Stück über uns öffnete sich. Ein Mann streckte den Kopf zu uns heraus.

„Wer ist da?“, fragte er ein wenig feindselig.

„Hier sind Wanderer, die Zuflucht und Vorräte benötigen und die Nacht nicht im Schneetreiben und ungeschützt vor wilden Tieren verbringen wollen.“, rief Tukiyan hinauf und auch, wenn ich noch immer wütend auf ihn war, musste ich ihn im Stillen für seine Formulierung bewundern.

„Es ist spät.“, rief der Mann. „Normalerweise lassen wir so spät keinen mehr in unser Dorf.“

Diesmal antwortete Karthek: „Lasst mich raten, normalerweise reist so spät auch keiner mehr durch die Moore vor euren Toren.“

Der Mann lachte. „Ich werde schauen, was ich für euch tun kann. Wartet, ich frage Oberst Telsin.“

Sein Gesicht verschwand vom Fenster und es dauerte ein wenig, bis wir seine Schritte hinter dem Tor vernahmen. Wir hörten, wie einige Riegel zur Seite geschoben wurden, dann wurde das ein Torflügel mit lautem Scharren geöffnet. Wir sahen den Mann, er hatte ein altes Gesicht, war klein und mager, hatte lockiges weißes Haar und graue Augen, die beinahe auf eine gruselige Art und Weise hell waren. Er musterte uns prüfend, dann nickte er einigen mit Äxten und Kurzschwertern bewaffneten Männern zu. Ein großer Mann mit einer mächtigen Axt in der Hand, langen braunen Locken und stechenden weißgrauen Augen trat vor.

„Wir müssen euch bitten, eure Waffen hier abzulegen!“, sagte er mit tiefer Stimme. Es klang jedoch weniger nach einer Bitte, als nach einem Befehl. Tukiyan trat einen Schritt vor und ich wusste er würde widersprechen. Auch dem alten Mann schien die Situation nicht zu gefallen, also wandte er sich an Karthek und Rubeen.

„Wie einer der Herren bereits festgestellt hatte, haben wir hier selten Besuch und schon gar nicht nachdem die Sonne Yriske untergegangen ist. Und, wenn ich das erwähnen darf, ohne unhöflich zu erscheinen, sehen wir hier selten so fremde Gesichter, versteht mich nicht falsch, aber der große Herr dort und die junge Dame haben für uns beinahe exotische Gesichtszüge.“

Karthek nickte. „Natürlich, das verstehen wir. Mein Name ist Karthek und das ist mein Bruder Rubeen. Der große Herr ist Tukiyan aus Iyotea. Er ist Händler. Und das Mädchen heißt Mina und sie kommt aus den Feuermenschenstämmen. Wir nahmen sie bei uns auf, als sie vor Ausgestoßen geflüchtet war, die ihre Heimatstadt überfallen haben.“

Einer der Bewaffneten kam einige Schritte näher. „Ausgestoßene? Meint ihr jene, die in den verstoßenen Landen leben sollen?“

„Ja, eben diese meinen wir.“, meldete ich mich zu Wort. „Farakehner, Ausgestoßene, Ratten aus den Einöden im Osten. Sie haben die Menschenstadt Septim überfallen und herrschen seit nunmehr drei Jahren über die Stadt.“

Der Bewaffnete rieb sich mit der behandschuhten Hand müde über sein Gesicht. „Diese verfluchten Bastarde nehmen sich eindeutig zu viel heraus. Utrias verzeihe mir für diese Ausdrucksweise, aber es ist so.“

Nun trat auch der Anführer mit der Axt beiseite. „Mir scheint, ihr habt viel zu berichten und nicht nur Gutes. Ich bitte euch nur, legt eure Waffen ab. Wir sind kein starkes Dorf und es lässt uns besser schlafen, wenn wir um unsere Sicherheiten wissen. Und sonst können wir euch gewiss ein Zimmer anbieten. Hier in Sera gibt es kein Gasthaus, aber dafür leere Häuser. Im letzten Jahr sind zwei Familien nach Lumbrea gezogen. Ihre Häuser stehen leer.“

Ich nickte Tukiyan zu und er legte wenn auch ungern seine Dolche auf den Boden. Karthek und Rubeen taten es ihm nach.

„Habt Dank.“, sagte der Anführer. „Mein Name ist Eldan, ich bin Schmied. Folgt mir bitte. Ihr werdet vom Obersten von Sera erwartet. Sein Name ist Telsin.“

Wir folgten dem Schmied auf einem ausgetretenen Pfad auf den Marktplatz von Sera und von dort aus ging es eine breitere, gepflasterte Straße zum Haus des Oberst entlang. Überall schauten Leute aus ihren Fenstern. Überall sah man, mit Locken eingerahmte Gesichter, aus denen stechende, helle Augen zu uns herüber starrten. Vor dem mehr oder weniger imposanten Haus des Oberst wurden wir von einem zierlichen Mädchen erwartet. Sie hatte schwarzes Haar, das ihr in wilden Locken vom Kopf abstand und große, helle, silberne Augen.

„Eldan! Es sind also keine Feinde?“, fragte sie und musterte uns neugierig. Vor allem mich.

„Nein, Rica. Es sind Händler auf der Durchreise. Bitte meine Liebe, wir müssen zu deinem Vater. Unsere Gäste haben vieles zu berichten und einiges davon ist unerfreulich und wichtig.“

„Natürlich Eldan. Vater erwartet euch in der Stube. Mutter kocht gerade Suppe. Soll ich ihr sagen, dass wir noch für vier weitere Personen decken sollen?“

„Bitte tu das. Aber zuerst laufe zu Hevan und Geras und sage ihnen, dass die Gäste wichtiges zu berichten haben. Und sage Fessa, dass sie das alte Haus von Zegan und Valentina heizen soll. Die Gäste werden die Nacht hier verbringen.“

„Das mach ich sofort!“, rief das Mädchen und rannte mit wehendem Lockenkopf an uns vorbei zurück Richtung Marktplatz.

„Bitte, wir wollen euch keine Umstände bereiten.“, wandte Karthek schnell ein.

„Aber nicht doch, ihr seid Gäste und es war Utrias Willen, dass ihr hier seid. Und wenn die Götter es so wollen, dann seid ihr bei uns immer willkommen.“

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