Mina - Drachenmädchen

Mina - Drachenmädchen

Eramon:

Ein junger Drache, selbst aus menschlicher Perspektive jung, fand viele Jahre später den Weg hinab ins Tairasy. Nicht allein, denn keiner fand den Weg ohne Anleitung. Ein alter Elf mit vom Kampf gezeichneten Gesicht hatte sich seiner angenommen.

Und wie jeder, der das Reich der Unsterblichen betreten wollte, musste er an einem Wächter vorbei. Hochgewachsen und bleich stand er dort inmitten von Weiß. Neugierig betrachtete der Drache die Gestalt, die auf den ersten Blick aussah, wie ein normaler Mensch. Zwei Beine, zwei Arme, ein Kopf. Alles in für Menschen typischen Proportionen aufeinander abgestimmt. Trotzdem merkte man ihm an, dass er in Wahrheit kein Mensch war … zumindest nicht mehr. Eine Aura des Übernatürlichen umgab ihn. Ein Schein von Perfektionismus und Emotionslosigkeit.

Der Blick des Wächters war ausdruckslos, aber nicht leer. Die Haltung zu gerade, um als locker bezeichnet zu werden.

Als er jedoch den jungen Drachen erblickte, stahl sich ein Lächeln auf die Lippen des Fremden.

„ICH HABE BESUCH, WIE WUNDERBAR.“ Seine Stimme klang in seinen Ohren seltsam, allerdings konnte er selbst nur schlecht einschätzen, wie sich etwas in dieser seltsamen Welt normal anhörte. „OHNE ZWEIFEL WUSSTE ICH SCHON IMMER, DASS DU EINES TAGES HIER VOR MIR STEHEN WÜRDEST. ALLERDINGS MUSS ICH ZUGEBEN, DASS ICH NICHT SO FRÜH MIT DIR GERECHNET HABE. DU ÜBERRASCHST MICH, KLEINER DRACHE!“

Verwirrt folgte er den Worten des Wächters. „Woher wusstest du, dass ich kommen würde?“

„OH, IN DER TAT BLEIBEN WENIGE DINGE VOR MIR VERBORGEN“, erklärte der Wächter abschätzig, doch seine Augen funkelten. „ICH BIN ÜBERALL, WO ZWEIFEL IST. UND – ZU MEINEM GROẞEN GLÜCK – IST ZWEIFEL BEINAHE ÜBERALL.“

Du kennst also das Leben jeder einzelnen Person, die schon einmal gezweifelt hat?“, fragte der Drache neugierig und voller Staunen.

Der Wächter lachte und es klang weniger kühl, als man es vielleicht von einem der seinen erwartet hätte. „SICHERLICH KÖNNTE ICH DAS LEBEN JEDES EINZELNEN KENNEN … WENN ICH ES WOLLTE. DOCH DIE MEISTEN WESEN, EGAL OB DRACHEN ODER MENSCHEN, ELFEN, WALEEN ODER UKLEENRY, FÜHREN DOCH EIN RECHT EINTÖNIGES UND UNINTERESSANTES LEBEN.“ Ein kurzes Zögern … Zweifeln … dann: „DU ABER BIST EINE AUSNAHME. ICH GEBE ZU, DASS ICH MICH FÜR DEIN LEBEN IM BESONDEREN INTERESSIERE.“

Die Neugier des Drachens war nun entgültig geweckt. Es war eine Eigenschaft, die bereits seine Eltern gehabt hatten. Die Begierde zu wissen. Vergessen war das Bestreben, ins Tairasy zu kommen. Stattdessen legte er den Kopf schief und ein schiefes Drachenlächeln schlich sich auf die Züge des jungen Traumwanderers. „Wieso interessiert sich jemand wie du für mein Leben?“

„NUN ...“, begann der Wächter geheimnisvoll. „DAS IST EINE GUTE FRAGE, DIE NACH EINER LANGEN GESCHICHTE VERLANGT. ICH BIN MIR NICHT SICHER, OB DIES DER RICHTIGE ORT UND DIE RICHTIGE ZEIT IST, UM DERMAẞEN AUSZUSCHWEIFEN.

Nun schlich sich ein geradezu listiger Ausdruck auf die Züge des Drachens. Er war nicht dumm. Ganz im Gegenteil. „Ich bezweifle, dass es je einen besseren Zeitpunkt geben könnte.“

Wieder ertönte das Lachen des Wächters und er strich sich über das perfekte Gesicht. „NUN … SO ENTSCHLOSSEN … ICH SCHÄTZE ENTSCHLOSSENHEIT, AUCH WENN ICH GERADE ZWEIFEL BIN … JA, WARUM NICHT ERZÄHLEN, WAS DU OHNEHIN IRGENDWANN ERFAHREN WIRST. ES GAB EINE ZEIT, IN DER ICH KEIN WÄCHTER WAR … ICH WAR EIN MENSCH, EIN SEHR MÄCHTIGER MENSCH, ABER EIN MENSCH ...“

Volkum:

Tief im Großen See, vor den Ruinen der geheimen Stadt Oziim-Dwa, hatte sich eine kleine Versammlung eingefunden. Sie bestand zum größten Teil aus Drachenschlangen, doch auch ein Waleen hatte sich ihnen angeschlossen. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren, gab es kein dringendes Ereignis, keine drohende Katastrophe und keine kriegerische Auseinandersetzung, die nach einem solchen Treffen verlangt hätte. Stattdessen trafen sie sich, um diesen neuen Frieden ein wenig zu genießen, um die abgewendete Zerstörung zu feiern.

Die Neskevou waren erleichtert. Die meisten von ihnen hatten Jahrhunderte, gar Jahrtausende erlebt und doch … die Ereignisse der letzten paar Jahre waren besonders gewesen und hatten selbst solch uralte Wesen berührt. Die Drachenschlangen hatten keine Angst vor dem Tod. Die meisten von ihnen hatten so lange gelebt und in diesen Lebensjahren so viel Tod und Neuanfang gesehen, dass die Vorstellung des Ablebens keinerlei Bedrohung für sie bot. Nein, die Neskevou hatten um diese Welt gefürchtet, um den Verlust mehrerer vielschichtiger Zivilisationen.

Auch Volkum fürchtete den Tod nicht mehr. Als zweiter Oldiin hatte er nun die Stelle des ältesten Oldiin eingenommen, da Eramon nun als Zweifel das Tairasy bewachte. Doch anders als bei Eramon zuvor, war dieser Titel nur noch mit wenigen Verantwortungen verbunden.

Das Zeitalter der Gotteskinder war vorüber. Sern-Minos und Eramon hatten ihre Position als Vertreter ihres Volkes bereits hinter sich gelassen. Mina und Sovine würden ihrem Beispiel folgen, sobald ihre sterblichen Lebensjahre gezählt waren. Die drei Verbleibenden, Zitamun, Tekmea und Volkum waren nicht länger einzelne Botschafter. Vielmehr waren sie ein Bindeglied für alle Völker. Eine Verbindung zu den Göttern und unparteiische Vermittler zwischen den vereinten Reichen.

Wenn man es genau nahm, dann hatten alle Völker ihre Einzelvertreter mit dem Tag der Rettung verloren.

Ein kleiner Verlust, nachdem die völlige Zerstörung abgewandt worden war.

Reyefkailerchersokarnivo musste zugeben, dass er einige der Gotteskindchen vermisste. Vor allem seine jüngste Bekanntschaft, das kleine Drachenmädchen. In seinem so langen Leben war sie nur für den Bruchteil eines Augenblickes präsent gewesen. Doch das hatte gereicht, um die Zuneigung des mächtigen Wasserwesens zu ergattern. Außerdem war da ja noch der junge grüne Drache gewesen, der ihnen von der Mentalität her so ähnlich gewesen war. - Vielleicht lag es an der Verwandschaft … an den Drachengenen, die die Neskevou noch immer von anderen Schlangenwesen unterschieden.

„Sag Gotteskind, was passiert in der Welt?“, fragte die Älteste aller Drachenschlangen, Ri, nachdem die Versammelten mehrere Stunden in zufriedenem Schweigen verbracht hatten.

Volkum lehnte sich gegen die Felswand und lächelte. „Die Menschen, Elfen aller Art, Drachen, Waleen, Magier und Ukleenry leben in Frieden und Harmonie … hoffentlich wird das auch erst einmal so bleiben.“

„Hat man die Schäden der Zerstörung verkraften können?“

„Was heute neu errichtet wird, steht morgen in Ruinen da. Wenn wir Wesen der Ewigkeit wären, dann würden wir im Tairasy leben, bei unseren Göttern. Es gibt keine Wunden, die nicht heilen und in Vergessenheit geraten werden.“

Ri lachte ein dröhnendes Lachen. „Dennoch hinterlassen Wunden manchmal Narben.“

„Zum Glück!“, rief der Waleen mit geschlossenen Augen aus. „Dann haben wir mindestens eine Sache, die auch in Jahrmillionen noch an uns erinnern wird.“

„Weise Worte … Sag, Volkum, was soll in Erinnerung bleiben, aus unserer Zeit?“

„Das Drachenmädchen.“

Sovine:

Eine alte Frau wanderte mit einem Wanderstock ausgestattet durch das Neue Gebirge im Osten der Feuermenschenstämme. Ihre Schritte waren schwer und ihr Gang war gebeugt, doch trotz ihrer gebrechlichen Erscheinung legte sie jeden Tag beträchtliche Strecken zurück und brauchte kaum Pausen.

Um ihre Füße schlich stets ein alter Wolf mit silbrigem Fell und klugen Augen. Nach ihrer Rückkehr aus dem Tairasy hatte sie Fuoco zu ihrem ständigen Begleiter bestimmt. So war es nun einmal bestimmt, das war der ureigene Sinn der Kzu. Das war, zum Teil, auch Grund ihrer jetzigen erschwerlichen Reise durch die schroffen Berge, die die Zerstörung geschaffen hatte. Darsa folgte ihr in einiger Entfernung, immer ein wenig abseits der Wege, auch wenn der Weg dadurch nur noch schwieriger zu bewältigen war. Sie war scheu gewesen und sie war es immer noch, aber zumindest hatte die Füchsin erkannt, dass Fuoco und Sovine ihr den Weg zu Mina zeigen wollten.

Mittlerweile konnte es nicht mehr weit sein. Sie waren bis in die Mitte der neu geschaffenen Bergwelt gewandert und eigentlich müssten sie noch heute die Höhle finden, in der Karthek sich mit seiner kleinen Oldiin versteckt hatte, als das Chaos um sie herum hereingebrochen war.

„Sovine!“

Sie schaute auf und entdeckte die grüne Gestalt eines Drachens, dessen Schuppen im Sonnenlicht leuchteten. Karthek. Er stand nur wenig oberhalb von ihrer Position auf einem Felsvorsprung und sah ihr mit leuchtenden Augen entgegen. Ihr schien es unterdessen, als wäre der Drache noch größer geworden … nun ja, es war genauso gut möglich, dass ihre Menschengestalt einfach immer weiter zusammenschrumpfte, je weiter ihr Alter voranschritt.

Das letzte Stück weg war im Nu getan und auf den letzten paar Metern wurde sie sogar von Darsa überholte, die wie ein roter Blitz den Pfad hinaufpflitzte – und dann verwirrt vor Karthek Halt machte. Offensichtlich konnte sie nur zu gut spüren, wer dieses große Wesen dort war, trotzdem hatte die Füchsin verständliche Zweifel, nun wo sie dem großen grünen Drachen direkt gegenüber stand.

Karthek lächelte. „Hallo Kleine“, flüsterte er und trotzdem dröhnte seine Stimme zwischen den Felsen.

Doch anstatt zu erschrecken, schien die Kzu den Drachen nun endgültig zu erkennen und schmiegte sich ohne weiteres Zögern an die warmen Drachenschuppen. Sovine lächelte.

„Wo ist Mina?“

Karthek blickte auf und deutete dann mit der Flügelspitze ins Innere der Höhle. „Dort drinnen. Warte, ich komme mit dir.“

Mit großen, donnernden Schritten führte er sie hinein in die schattige Höhle, die er während all seiner freien und ansonsten ungenutzten Zeit hier verschönert hatte. Verschlungene Ornamente zierten die Steinwände. Einige von ihnen mit Krallen in den Fels gearbeitet, andere mit Drachenfeuer gebrannt.

Und im Zentrum dieser Muster lag Mina in ihrer Menschengestalt. Der kleine Körper wirkte beinahe verloren im riesigen Höhlenraum und erst Recht, wenn Karthek sich in seiner monströsen Drachengestalt um ihren Körper herum einrollte. Während Darsa sich ebenfalls zu den beiden gesellte, setzte sich Sovine leise ächzend auf einen kleinen Fels und strich ihrem Fuoco zärtlich durch das seidige Fell.

„Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, Mina“, begann sie nach einiger Zeit der Stille. Die Mädchengestalt rührte sich nicht, doch daran störte sie sich nicht. Sie war sich ziemlich sicher, dass Mina zumindest einen Teil ihrer Geschichten hören würde. „Ich habe dir einmal versprochen, dass ich dir all die Geschichten erzählen werde, die du wissen möchtest. Damals wolltest du von Zitamun wissen und von meiner Kindheit.“ Sie lächelte. „Als Oldiin der Ukleenry stehe ich zu meinem Wort, egal was kommen mag … also wo fange ich an?“ Sie überlegte kurz. „Am besten, erzähle ich erst einmal von mir selbst, bevor ich zu anderen komme. Mein Vater ist zwar eigentlich Kosk, aber der Mann, den ich immer als meinen Vater ansehen werde, war Timotheus von Norderfels . . .“

Tekmea:

Wieder war eine Nacht voller langer Verhandlung vorbei und trotzdem waren sie nur an einigen wenigen Punkten vorangekommen. Eine kleine Frau mit langem dunklem Haar verließ die Herrscherhöhle in Inur-Entora und machte sich auf den Weg zur Botschaft der Elfen.

Nachdem die Drachen Jahunderte lang nur in ihrem eigenen Land regiert hatten, wurde es endgültig Zeit, sie wieder in die Entscheidungen von Weyena einzubinden. Doch es war einfacher gesagt als getan. Es mussten allerlei Verhandlungen stattfinden, damit der Standpunkt der Drachen in allen wichtigen Angelegenheiten geklärt werden konnte. Alles in allem war es mühsam aber notwendig.

„Tekmea ...“

Die bekannte Stimme ließ sie innehalten. Eine halbe Ewigkeit lang hatte sie mit dieser Stimme verhandelt und diese Verhandlungen waren sehr viel mühsamer gewesen.

„Was möchtest du Meladon?“

Der machtlose König der Drachen saß in einem der Höhleneingänge und starrte auf sie hinab. Seine rote Schuppen wirkten irgendwie matter als früher. Ganz so, als hätten sie bei seinem Machtverlust ebenso gelitten wie sein Ego. Und wer weiß … vielleicht stimmte das sogar. Schließlich waren es eben diese roten Schuppen, die es einem Drachen nach den alten Regeln erst möglich gemacht hatten, König zu werden.

„Wie geht es bei den Verhandlungen voran?“, fragte er, ohne sich von der Stelle zu rühren.

„Besser als ich es erwartet hätte“, antwortete sie knapp.

Seine Augen waren traurig. „Die Schuld liegt bei mir, nicht wahr?“, fragte er bitter. „Sie liegt immer bei mir. Die Drachen sind ein selbstständiges Volk voller Individualisten, aber wenn etwas zur Fehlentscheidung verdonnert wird, dann ist nicht das Volk schuldig sondern der Herrscher.“

„Das ist ein Risiko, dass jeder König eingeht. Man nennt es Verantwortung!“

„Die Drachen standen hinter meiner Entscheidung, Tekmea. Niemand hat ein Wort gesagt, als wir den Kriegszustand ausgerufen haben. Niemand hat sich gemeldet, als wir in der Wüste waren.“

Die Elfe betrachtete ihn mit hochgezogenen Brauen. „Es gab eine Rebellion, Meladon. Es sind genug Drachen gegen deine Politik aufgestanden, um deine Unterstützer zum Schweigen zu bringen. Ich weiß nicht, wie du das nennen würdest, aber ich würde sagen, dass sich durchaus Drachen in der Wüste gemeldet haben.“

„Es waren die jungen … Die Drachen, die die Welt mit anderen Augen sehen. Wie soll jemand der alten Generation so viele andere Meinungen unter einen Hut bringen?“

„Da hast du Recht“, stimmte Tekmea zu, doch kein Mitleid schwang in ihrer Stimme mit. Manchmal konnte sie so kalt seien wie ihre göttliche Mutter. „Ein Volk, dass so alt wird … mehrere tausend Jahre alt … Meladon, als Herrscher eines solchen Volkes muss man umdenken können, denn eine Politik, die seit tausend Jahren veraltet ist, ist selten eine gute Politik. Ich traue Byna zu, dass sie umdenken wird, auch wenn ihre Jugend vorbei geht. Es ist eine Qualität, die nicht jedem gegeben ist. Und nicht jeder sollte König der Drachen werden.“

„Es gab Zeiten, da hat ein roter Schuppenpanzer genügt ...“

Sie lächelte und setzte ihren Weg fort. „Und ich bin sehr froh, dass diese Zeiten nun vorbei sind!“

Sern-Minos:

Ein dunkelhaariger Mann saß im Schneidersitz inmitten von weißen Wolken unter deren bauschiger Oberfläche ein stetiges Glühen zusehen war. Hin und wieder wandte er den Blick nach oben, wo die Gesichtslosen trieben. Sie würden niemals einen Blick auf die Pracht werfen können, die er nun tagtäglich bewohnte. Und das nur, weil sie schlicht und ergreifend nicht dazu auserwählt worden waren, das Tairasy zu sehen.

Es war traurig und unfair die Wesen so aufzuteilen, wo doch ihre Götter ihr ganzes unsterbliches Leben hier verbrachten. Und nun … nun war er einer von ihnen. Einer derjenigen, die immer im Tairasy waren und es nicht mehr verlassen würden.

Doch es machte ihm nichts aus, solange er nur vorausschauen konnte. Sovine hatte die Sterblichkeit gewählt, so wie er es insgeheim schon erwartet hatte. Sie war niemand, der eine Ewigkeit überdauern würde – zumindest nicht, ohne ernsthaft Schaden zu nehmen. Jeder Tod war für sie eine neue Tragödie, bloß ihren eigenen würde sie feiern, sobald er sie beide wieder zusammenbringen würde. Und dann, dann konnte die Ewigkeit gerne kommen, wenn sie denn wollte. Gemeinsam waren sie unsterblich.

Und so wartete Sern-Minos. Im Schneidersitz inmitten von bauschigen, schneeweißen Wolken und mit einer früher unbekannten inneren Ruhe.

Er wartete.

Zitamun:

Eine hochgewachsene Gestalt mit aristokratischen Gesichtsausdruck betrat schweigend eine versteckte Lichtung im westlichen Waldgebiet der Wilderlande, die Schritte wie immer kaum hörbar, wie es Elfen nun einmal an sich hatten. Es war Nacht und während die Baumwipfel im fahlen Silberlicht zu leuchten schienen, schenkte er seiner Umgebung nur wenig Beachtung. Um Zitamun herum knackte es immer wieder im Unterholz oder es raschelte im Geäst, aber auch daran störte er sich nicht wirklich. Sein Blick schwebte über die Bewohner der Lichtung.

Es waren weniger geworden. Angesichts ihrer neugewonnen Sterblichkeit hatte sich Sovine dafür entschieden, Fuoco nun überall hin mitzunehmen. Auch Darsa hatte man an den Ort gebracht, an dem sich Mina und Karthek momentan versteckt hielten.

Zitamun selbst war nur einmal dort gewesen. Während der kurzen Zeit in der er Mina gekannt hatte, hatte er ihr oft unrecht getan und sie nur schlecht gekannt. Er hatte es nun, wo sie nur noch selten im Hier weilte für seine Pflicht angesehen, einmal die Reise zur ihr in die Berge anzutreten. Trotzdem rechnete er nicht damit, dass er noch einmal dorthin zurückkehren würde. Zu vertraut und intim war die Atmosphäre in der kleinen versteckten Höhle. Er wollte das nicht durch seine Anwesenheit stören.

Ein kleiner rötlicher Schatten aus dem Augenwinkel signalisierte ihm, dass der Grund für seine Wanderung durch die Wälder soeben eingetroffen war. Nun hockte das kleine Eichhörnchen auf einem Felsbrocken in der Mitte der Lichtung und starrte aus seinen dunklen Augen zu ihm hinauf.

Als Kind hatten ihn diese Augen immer gestört. Der eindringliche Blick Sabiis hatte ihn immer nervös gemacht, weshalb er seinem Kzu nur selten in die Augen geschaut hatte. Nun suchte er ganz bewusst den Blickkontakt. Er war überzeugt davon, dass er genug erlebt hatte, um sich von zwei schwarzen Knopfaugen nervös machen zu lassen.

Er trat bis kurz vor den Felsen und ging dann in die Hocke. Sie saßen einander gegenüber, die Augen unverwandt aufeinander gerichtet und der übliche halbe Meter zwischen ihnen.

Nach einem Moment, der sich ein wenig wie eine Ewigkeit anfühlte, streckte der Oldiin der Waldelfen die Hand aus, bis sie kurz vor dem Kzu in der Luft schwebte. Erwartungsvoll … ein Angebot.

„Ich glaube, ein Neuanfangen wäre ratsamen für uns beiden“, flüsterte er geduldig. Wieder verging einige Zeit. „Für Analie.“ Daraufhin machte das Eichhörnchen einen kleinen Schritt nach vorne und berührte mit dem kleinen Kopf die ausgestreckten Finger.

Mina:

Im Jahr 3476 der Vereinigung sieht die Welt anders aus. Mein Volk, die Farakehner, lebt im Ostgebirge, einem zerklüfteten Labyrinth aus Bergen und Tälern mit kantigem Antlitz. Wir waren schon immer ein wenig anders als andere Völker, denn wir leben nicht sortiert nach Gestalt und Art. In anderen Teilen der Welt, so erzählt es zumindest meine Großmutter gerne immer wieder, leben nur Menschen, nur Ukleenry oder nur Magier. Warum das so ist, kann nicht einmal sie wirklich erklären. Die anderen blieben eben lieber unter sich, hat sie es einmal notdürftig begründet.

Anders als diese alten Völker in ihren sortierten Landstrichen und Städten, leben wir in einer bunten, kulturellen Mischung. Kaum einer hier ist Vollblüter seiner ursprünglichen Art. Meine Familie ist eine Familie von Halbwaleen, aber es gibt auch kleine zierliche Leute, die elfisches Blut haben und von Natur aus magisch begabte Kinder.

Unsere Stadt heißt Sennah, aber die Alten erzählen oft, dass sie früher einmal Septim gehießen hat. Früher … wir Kinder können uns das nicht so recht vorstellen. Früher … Im Fall von Septim bedeutet 'früher' eine ganz andere Stadt und eine andere Landschaft. Großmutter hat erzählt, dass das Umland der Stadt einmal beinahe eben gewesen ist. Eine hügelige Landschaft ohne hohe Berge oder schroffen Felsen. Stattdessen ein Waldgebiet aus dunklen Laub- und immergrünen Nadelbäumen. Erst mit der Zerstörung, so sagen es zumindest die alten Geschichten, kam die Veränderung. Das Land verlor seine üppige Pflanzenwelt und Steine türmten sich zu riesigen Gebirgen auf. Hohe Bergspitzen und tiefe Täler ersetzten den Wald und seine Hügel.

Und in einem dieser tiefen Täler befindet sich unsere Stadt. Niemand hier weiß sonderlich viel von der Außenwelt, aber wahrscheinlich weiß diese Außenwelt sogar noch viel weniger von unserer kleinen Siedlung. Sennah liegt weit abgelegen zwischen den Felsen und nur wenige Händler und Dorfbewohner kennen den Weg durch die Berge in die flacheren Lande. Später einmal will ich einer von ihnen werden. Ein Händler, der die Welt außerhalb des Gebirges kennenlernen darf und an anderen Orten von Sennah berichten kann. Doch bis dahin lebe ich hier auf engem Raum mit meiner Familie, meinen Freunden und den anderen Bewohnern der kleinen Stadt.

In meinem ganzen Umfeld ist meine Großmutter wohl die allerklügste und sowieso die wunderbarste aller Personen. Sie war früher einmal dort, wo ich später unbedingt hinwill und kennt deshalb mehr Geschichten, als ich mir jemals merken kann. Seit dem Tod meines Großvaters lebt sie am Stadtrand, direkt am Fuße des höchsten Berges, den es in unserer Umgebung gibt. Er hat keinen wirklichen Namen, der Berg, aber sie nennt ihn manchmal 'Höhlenfels' oder 'Drachenberg'. Schon oft hat sie die Möglichkeit gehabt, zurück in die Stadtmitte zu kommen. Sennah verfügt bei weitem über mehr leerstehende Häuser, als wir jemals bewohnen können. Die Leute von außerhalb reißen sich nunmal nicht gerade darum, in unserer Stadt ein neues Leben anzufangen … vielleicht liegt es daran, dass sie nichts von unserer Existenz wissen. Aber meine Großmutter hält nichts vom Leben in Nachbarschaft und Harmonie. Sie meint immer, dass es ihr alleine besser geht und meine Eltern lassen sie mit dem Thema in Ruhe. Denn neben ihrer außerordentlichen Talente als Geschichtenerzählerin kann sie nämlich auch verdammt gut streiten.

Die Winter hier in den Bergen sind immer ganz besonders kalt und anstrengend, zumindest für die erwachsenen Bewohner. Wenn der erste Schnee kommt, dann muss unser Tal gegen Lawinen geschützt werden und man braucht eigentlich dauerhaft Arbeiter, um die Wege in den Bergen freizuhalten.

Wenn die Wege im Gebirge verschneien würden, dann wären wir in unserer Stadt mit unseren knappen Vorräten völlig auf uns allein gestellt … und das wäre tödlich für alle Bewohner.

So kommt es also, dass alle sofort mit anpacken, sobald die ersten Berggipfel weiß werden. Wenn die ersten Flocken zu uns ins Tal fallen, dann fällt die Schule aus, weil der Lehrer bei der Wintersicherung hilft. Und weil auch die meisten Eltern dann beschäftigt sind, übernehmen die Ältesten das Hüten der Kinder.

Für meine Geschwister und mich bedeutet das, dass wir den Winter beinahe dauerhaft bei meiner Großmutter verbringen. Und nicht nur wir, auch andere Stadtkinder kommen gerne mit uns zum Stadtrand, einfach weil meine Großmutter die spannensten Geschichten kennt und ohne zu zögern den ganzen Abend erzählt, wenn wir sie nur darum bitten.

Auch heute sind wir wieder bei ihr in ihrem kleinen schiefen Haus. Schon früh am Morgen bin ich mit meinen beiden Schwestern und zwei Nachbarskindern durch den immer tiefer werdenden Schnee gestapft, während um uns herum bereits das aufgeregte Treiben der Erwachsenen herrschte. Der Pass im Nordwesten sei gefährlich verschneit, riefen die einen und andere bildeten eine Gruppe, die einem Nahrungshändler auf einem der Westpfade entgegengehen wollte.

Es ist oft ansteckend, die Aufregung, man wird geradezu panisch, sobald man auch nur einen Fuß aus dem Haus setzt. Aber sobald wir das Haus am Stadtrand betreten, herrscht wieder Ruhe und meine Großmutter empfängt uns.

Sie ist uralt mit schneeweißen Haaren und einem so faltigen Gesicht, dass das Licht ganz seltsame Schatten wirft, sobald es ihr Antlitz trifft. Ihr Gang ist gebeugt und sieht immer sehr mühsam aus, nichtsdestotrotz läuft sie immer, als wäre sie in Eile, auch wenn sie das schon seit Jahren nicht mehr ist.

Auch heute huscht sie wieder durch die engen Flure, als hätte sie einen besonders vollen Terminplan. Sie setzt Teewasser auf, denn sie liebt nichts mehr als Tee, wenn sie ihre Geschichten erzählt.

Wir gehen unterdessen bereits die knarzende Holztreppe ins Obergeschoss hinauf. Bei ihrem Aufstieg frage ich mich jedes Mal aufs Neue, wie eine alte gebrechliche Frau wie meine Großmutter sie jeden Tag überwinden kann. Sie hat immer so viel Energie. Ich bin mir sicher, dass die meisten anderen alten Bewohner der Stadt ihren Lebenstil schrecklich finden würden.

Und dann versammeln wir uns alle im warmen und setzen uns in einen Kreis, während sie zu erzählen beginnt und in unseren Köpfen die wildesten Geschichten entstehen.

Heute erzählt sie uns die Geschichte von der Drachenprinzessin, die dem Drachenberg seinen Namen gegeben hat. Wir haben sie schon unzählige Male gehört, doch meine Großmutter erzählt sie so gerne und jedes Mal ist es, als würde man die Geschichte zum ersten Mal hören. Ganz oben in den Gipfeln, dort wo der Schnee nie schmilzt und nur selten Menschen vorbeikommen, dort in einer Höhle sollem sie ruhen. Ein steinernder Drache, in mitten dessen zusammengerollter Form die steinerne Gestalt eines wunderschönen Mädchen ruht. Die Dorfbewohner nennen sie Drachenprinzessin. Vor vielen hundert Jahren, in einer Zeit größter Not sei der Drache mit seiner Prinzessin in den Armen über das Dorf hinweggeflogen und habe sich mit ihr dort oben im Berg versteckt. Keiner weiß, wo er herkam, aber was man weiß ist, dass kurz nach seiner Ankunft die Katastrophe ein Ende hatte, deswegen wurden der Drache und das Mädchen lange Zeit als Schutzpatronen Sennahs verehrt.

Und während die Geschichte oft zu kühn und fantasievoll ist, um wirklich wahr zu sein, hören wir sie immer wieder gern.

… und manchmal, wenn es draußen so bitterkalt ist, dass wir tagelang das Haus nicht mehr verlassen können, dann setzt sich meine Großmutter ans Feuer und erzählt uns nicht nur die altbekannte Geschichte, vom Drachenmädchen in den Bergen. - Nein. An solchen Tagen sitzen wir stundenlang da und sie erzählt uns von den Abenteuern des Drachenmädchen. Von freundlichen und unfreundlichen Drachen. Von Neskevou und Oldiin. Von Menschen und Göttern.

Und meistens … meistens fängt ihre Geschichte damit an, dass sich ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen verstohlen aus ihrer Heimatstadt schleichen um im Wald spielen zu gehen.

Mina schob vorsichtig die Tür auf. Die Straße vor ihr war leer und still …

* - Ende - *

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