Die Traumwanderer
Meladon empfing mich in seiner Haupthöhle. Es sah so aus, als wollte er heute zur 'Versöhnung' ansetzen, doch dafür hatte ich weder Nerven noch Zeit. Das einzige, was ich jetzt machen wollte, war einschlafen oder mit Ades sprechen. Es war so unglaublich, sich an einen Traum zu erinnern. Urplötzlich war der Schlaf nicht mehr eine leere Zeitspanne zwischen Einschlafen und Erwachen. Auch wenn ich nicht wusste, wo ich gewesen war, war ich fasziniert von diesen neuen Erfahrungen.
„Mina? Mina, hörst du mir überhaupt zu?“ Meladon starrte mich fragend an. Ich zuckte zusammen und schaute auf. „Wie bitte?“ Wie konnte er von mir verlangen, dass ich ihm zuhörte? Ich hatte geträumt!
„Ich fragte gerade, womit du heute so deinen Tag verbracht hast“, erklärte Meladon freundlich. Ah, der Herr der Drachen wollte also wissen, was ich den ganzen Tag lang machte. Er hatte wohl Angst, dass ich mich mit Themen befasste, die ihm nicht passten.
Trotzdem Antworte ich ebenso freundlich. „Oh, nichts besonderes. Heute habe den Tag mit Fero und seinem Bruder verbracht. Kennt ihr Ades bereits, Meladon?“
„Oh ja. Den Jungen habe ich schon kennengelernt. Ein seltsamer Geselle, aber trotzdem ein sehr kluger Kopf, das muss man ihm lassen. Und sicherlich eine gefährliche Mischung.“ Er legte den Kopf schief und lachte dröhnend. „Und wenn man Tekmea glauben schenken darf, dann ist er ein rechter Sturrkopf.“
Ich erwiderte sein Lachen und wandte mich dem Mahl zu, das er vor uns ausgebreitet hatte. Fisch, verschiedene Wurzeln und Moose und die Rinde des Rejka-Baumes. Alles, was das Drachenherz begehrte. Aber auf langes Speisen hatte ich nun wirklich keine Lust. Ich wollte unbedingt wissen, was es mit meinem Traum auf sich hatte. Meladon beobachtete mich mit scharfem Blick. „Hast du heute keinen Hunger, Mina?“
Ich legte den Kopf schief. „Nein, Hunger habe ich nicht wirklich. Und außerdem bin ich irgendwie müde. Ich hatte mich bereits zur Ruhe gelegt, als euer Bote kam.“
„Ja, das hat er mir bereits berichtet. Ich hätte euch natürlich nicht holen lassen, wenn ich das gewusst hätte.“ Er kratzte sich mit der Pfote und senkte den Kopf. „Ich hoffe, du bist nicht all zu wütend, weil wir dich nicht aus der Stadt lassen wollen, aber glaub mir eins: Die Welt da draußen ist ihm Umbruch und in all den Jahren haben wir gelernt, dass man in solchen Situationen lieber den Kopf einziehen sollte.“
Diese Worte waren so feige, dass ich mich am liebsten angewidert weggedreht hätte, doch ich hielt seinem Blick stand. „Natürlich, Meladon. Das alles weiß ich. Aber ich befürchte, dass wir beide recht unterschiedliche Auffassungen von Ehre und Mut haben. Und nun entschuldigt mich.“ Ich erhob mich und verließ die Höhle. Hoffentlich hatte ich ihn nicht zu sehr vor den Kopf gestoßen. Schließlich wollte ich ja irgendwie hier raus kommen.
Doch diese Sorge war zweitrangig. Ich starrte kurz hinauf in den mittlerweile dunklen, von Sternen übersäten Himmel. Jetzt ging es nur noch um den Traum. 'Auf Widersehen' hatte der Fremde gesagt. Hoffentlich würde ich ihn wirklich wiedersehen.
Ich eilte zu meiner Höhle und rollte mich in meiner Schlafkuhle zusammen. Ich war so aufgeregt, dass ich gar nicht zur Ruhe kam. Ich wälzte mich hin und her, doch je mehr ich den Schlaf herbeisehnte, desto wacher lag ich da. Irgendwann hielt ich es nicht länger aus. Ich erhob mich und flog ein paar Meter über der Stadt ein paar Kreise. Ich sah, wie ich von alle Wachen beobachtete wurde, aber da ich keine Anstalten machte zu fliehen, blieben sie auf ihren Posten.
Irgendwann fühlte ich mich dann ruhig und müde genug und kehrte in meine Höhle zurück. Und tatsächlich wogte kurz darauf der Schlaf über mich hinweg und nahm mich mit in sein seltsame Reich.
Und wieder war es, als würde ich schweben. Ich riss die Augen auf und starrte in die Dunkelheit. Es hatte funktioniert, es hatte wirklich funktioniert. Ich befühlte mit meinen Händen meinen Körper. Wieder hatte ich meine Menschengestalt angenommen, auch wenn ich ganz sicher in meiner Drachengestalt eingeschlafen war. Und wieder war ich klein. Vielleicht sogar kleiner als bei meinem letzten Traum.
„DA BIST DU JA ENDLICH. SCHNELL, KOMM ZU MIR NACH UNTEN, BEVOR WIR WIEDER GESTÖRT WERDEN! ERINNERST DU DICH AN DEINEN LETZTEN TRAUM?“
Aufgeregt nickte ich, auch wenn ich nicht wusste, ob der Fremde mich sah. Schließlich wusste ich nicht, wie man hier antworten konnte. Also, wie war das noch gleich … ach ja. Ich stellte mir vor, dass die Dunkelheit nach oben wanderte und starrte nach unten, wo das Licht nach und nach die Dunkelheit verdrängte, bis ich die unsichtbare Grenze überschritt, aufhörte zu schweben und von etwas ebenfalls Unsichtbarem aufgefangen wurde. Aus Angst, wieder geweckt zu werden, rappelte ich mich auf und wartete auf weitere Anweisungen.
„IN ORDNUNG! ERINNERST DU AN DEN WÄCHTER? DAS WESEN … DER MANN, DER DICH EBEN HAT AUFWACHEN LASSEN? ERINNERE DICH AN IHN, AN SEIN ÄUẞERES … STELL IHN DIR VOR. EIN WÄCHTER WIRD VOR DIR ERSCHEINEN, ER WIRD AUSSEHEN, WIE DER WÄCHTER VON EBEN, DOCH DIES IST EIN ANDERER. WIR NENNEN IHN ZWEIFEL. ER BEWACHT DEN EINGANG ZUR WELT DER TRAUMWANDERER. ER WIRD VERSUCHEN, DICH VON DEINEM WEG ABZUBRINGEN. HÖRE NICHT AUF IHN, ER IST SEIN NAME. ER IST ZWEIFEL. SAG IHM, DASS ES DER WILLE DEINES VATERS IST, DASS DU ZU MIR KOMMST. LASS DICH NICHT VON IHM BEIRREN. ICH ERWARTE DICH!“
Ich spürte, wie die Worte sich entfernten. Zweifel … ein Wächter? Ich verstand gar nichts. Nichts desto trotz tat ich, wie mir geheißen worden war: Ich schloss die Augen und stellte mir den Mann vor, der mich eben aus dem Schlaf geholt hatte. Das Gesicht, das keinen einzigen Makel aufwies, das weiße Haar, das seinen Kopf umzüngelt hatte und der schlichte graue Überwurf, der die hohe Gestalt gekleidet hatte.
„So, So, Mina. Schön, dass du mich auch einmal besuchen kommst!“
Überrascht riss ich die Augen auf. Vor mir im Licht stand der Mann. Ich runzelte die Stirn und der Mann hob eine perfekte Augenbraue. Erst jetzt erkannte ich, dass es sich bei diesem Mann hier nicht um den von vorhin handelte. Sie glichen einander wie ein Drachenei dem anderen – aber ihre Mimik war von Grund auf verschieden.
„Seid Ihr ...“ Ich zögerte. „Bist du Zweifel? Bist du der Wächter? Bewachst du den Eingang zu ...“ Ich stockte.
Der Mann lächelte ein perfektes Lächeln. „Manche nennen mich Zweifel, ja. Ich bin ein Wächter. Ich bewache den Weg in die Traumwanderer-Welt nicht … ich bin ein Fährmann, eine Verbindungsbrücke nichts weiter.“
„Kannst du mich dann in die Traumwanderer-Welt bringen? Das ist der Wille meines Vaters!“, fügte ich schnell hinzu.
„Dein Vater also, so, so … Ist er ein netter Vater? Vertrauenswürdig und liebevoll? Ach ja, ich vergaß, du kennst ihn ja gar nicht, entschuldige.“
Ich konnte ihn nur ungläubig anstarren. Redeten wir hier vom gleichen Wesen? Jeorelan war ein Gott, er war der Herr aller Drachen, aber dieser Mann hier sprach von ihm, wie von einem ganz normalen Menschen …
„Er ist ein Gott … Ich meine ...“ Ratlos zuckte ich mit den Schultern. „Kannst du mich nicht einfach hinüber bringen?“
„Oh ja, er ist ein Gott, er hat einen ganz hohen Posten bei euch inne, nicht wahr? Aber hier ist er auf das reduziert, was er nun einmal ist. Der Vater eines kleinen Mädchens, der seine Pflichten in den letzten Jahren etwas vernachlässigt hat.“ Wieder verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. Konnte er meine Zweifel spüren? Sicher konnte er das, warum sonst hatte man ihm den Namen Zweifel gegeben?
„Nein, also … lass mich einfach hinüber, bitte. Ich will … ich werde dort erwartet!“ Ich versuchte selbstbewusst drein zu schauen, doch meine Stimme zitterte merklich.
„Und von wem wirst du erwartet? Du kennst doch sicher seinen Namen, du weißt, dass er dich nicht in eine Falle locken will, oder?“
Deprimiert ließ ich den Kopf sinken. Warum konnte er mich nicht einfach in diese Traumwanderer-Welt lassen? Das schlimmste war ja, dass er wirklich gute Argumente hatte.
„Ich glaube, dass mich Ades dort drüben erwartet.“
„Ades, so, so. Und ihm vertraust du?“ - „Ja!“ - „Wieso?“
Ich starrte auf meine Hände. Warum vertraute ich Ades? Ich vertraute ihm, weil er Feros Bruder. Und Fero vertraute ich, weil er in all den Jahren, die wir uns kannten, immer auf meiner Seite gestanden hatte … Zweifels Lächeln wurde breiter und er beugte sich vor. Schockiert wandte ich den Blick ab. Ich war mir plötzlich sehr sicher, dass er alle meine Gedanken mithörte.
„Rubeen und Karthek sind Brüder. Vertraust du Rubeen so sehr, wie du Karthek vertraust?“
„Woher weißt du von ihnen?“
„Ich brauche gar nicht von ihnen zu wissen, es reicht, wenn du von ihnen weißt!“
„Warum lässt du mich nicht einfach hinüber?“
„Weil du nicht wirklich hinüber willst!“
„Doch! Aber du versucht die ganze Zeit, mich von meinem Weg abzubringen!“
Er lachte laut auf und trat noch ein Stück näher. Ich wollte unwillkürlich zurückweichen, aber es war mir nicht möglich, Abstand zwischen uns beide zu bringen.
„Deine Zweifel wachsen und schrumpfen mit deinen Gedanken, liebes Kind. Ich bin nur derjenige, der ihnen eine Stimme gibt. Komm wieder, wenn du wirklich hinüber gehen willst!“ Er wandte sich wieder ab und begann, mit der Umgebung zu verschmelzen.
Entsetzt versuchte ich ihn zurück zu halten. „Aber ich will wirklich in diese Traumwanderer-Welt.Wirklich!“
Er drehte sich nicht zu mir um. Sein Körper war schon seltsam transparent, aber er war noch nicht verschwunden. „Warum?“, fragte er leise.
Mir blieben nur wenige Minuten zum Überlegen. Ich brauchte etwas, mit dem ich seine Argumente widerlegen konnte … etwas, mit dem ich meine Zweifel besiegen konnte.
„Wenn ich nicht hinüber komme, dann tappe ich weiter im Dunkeln! Ich will Antworten! Ich brauche sie, um das zu machen, was in all diesen Prophezeiungen von mir verlangt wird. Die ganze Sache ist ins Rollen gekommen und ich werde alle Informationen brauchen, um zu handeln. Bitte!“
Er drehte langsam seinen durchscheinenden Kopf und seine Gesichtszüge wurden hart.
„Dann geh hinüber, aber bedenke: Hin und wieder ist Zweifel angebrachter als blinde Zuversicht!“
Er verschwand völlig und ich blieb allein zurück. Hatte ich ihn nun überredet oder nicht?
„Mina!“ Ich fuhr herum. Dort stand jemand, doch es war kein Wächter. „Ades!“
Er lächelte breit. „Du hast ihn also wirklich überzeugt! Ich war mir nicht sicher, ob du schon bereit bist.“
Ich starrte ihn ungläubig an. „Du warst dir nicht sicher, ob ich ihn überzeugen kann? Warum hast du mir das nicht gesagt?“
Er hob entschuldigend die Hände. „Wie du vielleicht schon bemerkt hast, wir Zweifel von deinen Gedanken genährt. Ich wollte dir nicht noch mehr Gründe zum Zweifeln geben. Aber nun bist du hier. Du musst überzeugend argumentiert haben.“
Ich zog die Brauen hoch. „Er hatte meiner Meinung nach die überzeugenderen Argumente. Wer ist er eigentlich? Was sind diese Wächter?“
Er griff nach meiner Hand und zog mich mit sich. „Ich kann versuchen, dir so viele Antworten wie möglich zu geben, aber gleichzeitig müssen wir diese Nacht noch viel erledigen. Wir haben eben eine ganze Stunde verloren …“
„Meladon wollte mich mit einem offiziellen Mahl friedlich stimmen. Tut mir leid, dass du warten musstest.“
„Daran können wir nichts mehr ändern. Komm, ich bringe dich nach Tairasy. Dein Vater erwartet dich dort.“
Ich starrte ihn fragend an. „Tairasy?“ Und dann, als ich den endgültigen Sinn seiner Worte verstanden hatte, blieb ich überrascht stehen. „Mein Vater?“
Er nickte und zog mich weiter. „Wir nennen die Traumwanderer-Welt Tairasy. Man sagt, der erste Traumwanderer hieß so. Dein Vater ist auch ein Traumwanderer. Die meisten höheren Wesen wandeln in ihren Träumen im Tairasy. Wir dagegen sind nicht ganz so hohe Wesen. Bei den Drachen wirst du kaum Traumwanderer finden. Bei den anderen Völkern sind sie genauso selten. Die Oldiin hingegen sind alle Traumwanderer.“
„Das heißt, ich kann sie hier treffen?“ Aufregung machte sich in mir breit. Am Schlafen konnten die Drachen mich nicht hindern und wenn ich hier ungestört mit Ades und den Oldiin reden konnte …
„Ja, das kannst du. Aber erst einmal wirst du deinen Vater treffen.“ Er drehte sich zu mir um. „Hier ist die Grenze. Du musst dich fallen lassen.“
Ich starrte hinunter in das Licht. Wenn ich nicht wusste, was mich hier hielt, wie konnte ich mich dann fallen lassen?
Ades grinste und nahm nun auch meine andere Hand. „Wie man es macht, kann ich dir nicht beibringen. Ich könnte es gar nicht erklären. Jeder muss es selber herausfinden.“ Er drückte kurz meine Hände – und stürzte dann wie ein Stein nach unten … wohin auch immer.
Ich starrte auf meine Hände die nun leer waren. Dann stellte ich mir vor, wie es war, wenn ich in den Sturzflug ging. Die Luft, die an meinem Kleid und an meinem Haaren reißen müsste. Das seltsame Gefühl im Magen, wenn ich die Flügel an den Körper legte und wie ein Pfeil nach unten schoss. Nichts. Luft würde mir ins Gesicht peitschen. Ich hätte in meiner Menschengestalt kaum Kontrolle über den Fall. Vielleicht würde ich mich um mich selber drehen. Nichts tat sich. Ich starrte auf die unsichtbare Grenze, die mich hier oben hielt und mich nicht hinab ließ. Darunter lagen die Antworten, Antworten nach denen ich mich furchtbar sehnte. Dort war mein Vater.
Und mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen.
Ich fiel, aber nicht wie ein Stein. Es hatte nichts gemein mit dem Gefühl, wenn man in den Sturzflug ging. Es war sanfter und schneller. Es gab keinen Wind, der mir entgegen schlug. Alles war ruhig und auch wenn ich spürte, dass ich fiel, schien sich nichts zu bewegen …
Und dann stand ich wieder mit den Füßen auf etwas festem. Oder etwas beinahe festem. Ich starrte nach unten und erschrak. Es sah aus, als würde ich auf Wolken stehen. Diese 'Wolken' waren schneeweiß und gaben unter meinen Füßen nach.
Ich schaute auf ... und sah Ades. Erleichtert fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht - und erstarrte. Ich war überhaupt nicht mehr klein. Meine Finger waren lang und schmal und meine Haare hatten wieder ihre normal Länge. Ich starrte hinab auf meine Füße. Sie und meine nackten Schienbeine schauten unter dem Nachthemd hervor, das mir vorhin noch als Ballkleid hätte dienen können.
„Alles in Ordnung?“, fragte Ades mit hochgezogenen Brauen.
Ich schaute zu ihm auf und schüttelte hastig den Kopf. „Vielleicht … ich weiß nicht. Ich bin gewachsen … also jetzt bin ich normal groß, aber davor ...“ Er schaute mich fragend an und ich winkte ab. „Schon gut, du hast gesagt, ich kann mit meinem Vater sprechen.“
Er nickte. „Ja, du wirst schon von ihm erwartet. Komm, ich zeige dir den Weg.“
Er griff nach meiner Hand und zog mich vorwärts, während ich mich mit offenem Mund umschaute. Diese Welt war einfach zu seltsam um real zu sein. Wir liefen über die Wolken. Sie gaben unter mir nach, teilweise sackte ich bis zu den Knien in ihnen ein … Doch die Wolken waren mir dennoch lieber, als das dunkle Wasser, das wie ein drohendes Zelt über uns hing. Immer wieder sah ich die gespenstischen Wesen ohne Gesichter, die orientierungslos durch die Dunkelheit trieben. Hier unten dagegen war es nicht dunkel. Diese Welt wurde vom schummrigen Schein flackernder Flammen erfüllt, die unter der Wolkenschicht zu wabern schienen. Sie loderten immer wieder auf und erzeugten gruselige Schatten, die durch die leeren Weiten dieser Wolkenwelt tanzten. Das einzige, das diese unendliche Wolkendecke hin und wieder durchstieß, waren dunkle Wasserrinnsale, die aus der dunklen Wasserfläche über uns in die helle Wolkendecke unter uns sickerten oder tropften.
„Es ist einfach unglaublich, wenn man es das erste mal sieht, nicht wahr?“
Ich nickte und starrte in die dunkle Wasser...unterfläche über uns. „Was sind das für Wesen und warum haben sie keine Augen?“
„Für dich haben sie also bloß keine Augen? Wir nennen sie die Gesichtslosen. Aus meiner Sicht fehlen ihnen ihre kompletten Gesichter und es soll sogar Leute geben, die sie ganz ohne Kopf sehen. Auf jeden Fall ...“ Er warf einen Blick nach oben, wo ein gespenstischer Körper über unseren Köpfen entlang trieb. „Es sind ganz normale Wesen, diejenigen die ganz normal träumen, was auf den Großteil aller Wesen zutrifft. Während sie ihm Geiste ihre Erlebnisse verarbeiten, schwimmen sie da oben herum. Oh schau, da drüben ist es schon!“
Vor uns ragte zwischen kleinen Wasserrinnsalen und glühenden Flammen ein Gebäude auf. Es war etwas besonderes, allein schon, weil es hier weit und breit keine weiteren Gebäude gab. Aber auch in einer Großstadt wäre das Gebäude aus dem Häusermeer herausgestochen. Es war dunkelblau und glänzte im Dämmerlicht der Flammen. Am Fuß verschmolz es mit dem wolkigen Untergrund. Es war eine Art bauchiger Turm, der aber nach oben hin wieder schmaler wurde, bis er in einem glänzend schwarzen Dach endete, das sich wie ein überdemensionales Schneckenhaus in das dunkle Wasser schraubte. Überall gingen große Terrassen ab, auf denen Blumen, Sträucher und sogar ganze Bäume wuchsen.
„Lebt er dort?“, fragte ich ehrfürchtig.
„Zumindest teilweise, ja“, erklärte Ades nicht minder beeindruckt. „Ich war erst wenige Male hier - und das auch nur, um Kavanirizia oder Utrias zu sehen.“
Ich betrachtete ihn kurz von der Seite. Auch wenn er wirklich geheimnisvoll und exotisch aussah, sah man ihm nicht an, dass er gleich mit zwei Göttern so nah verwandt war.
„Hast du sie oft getroffen?“
„Nein, nur ein paar wenige Male. Sie wollen glaube ich aufpassen, dass ich nicht zu einer Bedrohung werde.“
„Eine Bedrohung?“ Ich richtete meinen Blick wieder auf den blauen Turm.
„Sie halten das, was meine Eltern gemacht haben, für unverantwortlich. Weil sie beide so mächtige Personen sind ... Oder waren. Ich glaube, ich habe Glück, dass sie mich nicht einfach getötet haben.“
Ich riss den Kopf herum und starrte in sein amüsiertes Gesicht. „Das hätten sie nicht getan!“
„Oh, ich glaube es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie einen zu mächtigen Nachfahren getötet hätten, weil er zur Gefahr wurde.“ Er lächelte unbeirrt vor sich hin, griff nach meiner Hand und zog mich weiter. „Komm, jemanden wie deinen Vater lässt man nicht warten.“
Beunruhigt folgte ich ihm, doch da er nicht weiter auf das Thema eingehen wollte, wechselte ich es.
„Was denkst du, wie oft ich schon Traumwanderer war?“, fragte ich neugierig. „Ich meine, gestern war ich dort, aber ich kann mich an rein gar nichts erinnern. Wie oft ist das schon passiert?“
Überraschenderweise verdunkelte sich seine Miene und er richtete den Blick stur auf das immer näher kommende Gebäude.
„Man ist entweder Traumwanderer oder man ist es nicht. Das wechselt nicht von Tag zu Tag“, sagte er zerknirscht. „Hör zu, ich habe das nicht entschieden, ich weiß nicht mal, ob dein Vater irgendein Mitspracherecht hatte. Du warst schon immer Traumwanderer, auch wenn du dich nicht daran erinnerst.“
Meine Kinnlade klappte herunter. „Du meinst, ich bin mein ganzes Leben lang jede Nacht lang hier unten gewesen und bin dann jeden Morgen ohne Erinnerung wieder aufgewacht?“
Ades fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. „Nun ja, so ähnlich war es bei mir auch, bis ich zu Eramon gekommen bin. Mein Vater war kein Traumwanderer ... Auf jeden Fall kommt ein Traumwanderer eigentlich nur mithilfe eines anderen Traumwanderes hier her. Der einzige Unterschied zwischen dir und mir ist, dass du dich an gar nichts erinnern kannst. Niemand vergisst alle seine Träume. Das kommt, weil Vergessen, der Wächter, der dich eben geweckt hat, eigentlich nicht jede Nacht zu jedem Träumenden kommt. Wenn er nicht kommt, dann erinnern Traumwanderer sich an die dunklen Wasser dort oben und normale Wesen erinnern sich an ihre Träume. Aber Vergessen - er wirkt ein bisschen wie dein Beschützer. Wer auch immer ihn beauftragt hat, wollte, dass du dich an rein gar nichts mehr erinnerst.“
Ades senkte den Blick. Wir hatten den Turm erreicht. Ich starrte immer noch Ades an. Er wirkte wirklich besorgt.
„Es ist doch nicht deine Schuld, versuchte ich ihn zu beruhigen.“
Er zog die Brauen hoch. „Trotzdem bin ich nicht gerne derjenige, der solche Nachrichten überbringt.“
„Kann ich verstehen ...“ Alle Nächte meines Lebens hatte ich einfach vergessen. Unfassbar.
„Komm.“ Er legte einen Arm um meine Schulter und eine Hand auf die blaue Außenwand. Einige Augenblicke lang passierte nichts, dann gingen dunkle Wellen von Ades Hand aus durch die Wand und ein runder Durchgang wurde immer größer. Ades runzelte die Stirn und zog die Hand zurück. „Ich darf nicht hinein, nur du wirst erwartet.“
Ich warf ihm einen bittenden Blick zu, doch er schüttelte den Kopf. „Ich darf nicht. Hör zu. Der Weg ist nicht schwer zu finden. Du musst nach oben. Ich weiß nicht genau, wie es für dich aussehen wird, aber es gibt nur einen Weg hinauf, das ist immer so. Oben wirst du sicherlich schon erwartet.“
Ich seufzte und starrte auf das dunkle Loch in der Wand. Irgendwo dahinter wartete mein Vater ... Ob er nett war? Oder war er unnahbar und arrogant, weil ... weil er eben ein Gott war? Ich hörte Zweifel förmlich Beifall klatschen.
„Nun geh schon, mich haben sie auch nicht aufgefressen!“, sagte Ades nun wieder lächelnd und schob mich zum Tor.
„Schon gut, schon gut“. Ich machte einen vorsichtigen Schritt auf die Dunkelheit zu, löste Ades Hand von meiner Schulter und trat mit einem großen Schritt in das undefinierbare Schwarz hinein.
Überrascht sah ich mich um. Ich hatte wieder etwas surreales erwartet. Eine seltsame Landschaft, einen kritischen Wächter oder eine andere völlig unnatürliche Begebenheit. Doch nichts dergleichen erwartete mich. Ich stand in einem hellen runden Raum mit hoher Decke. Der Boden war mit hellen cremefarbenen Teppichen ausgelegt, an der Decke hingen glitzernde Kronleuchter und zwei schneeweiße Treppen schlängelten sich wie Schlangen an den gegenüberliegenden Seiten nach oben und unten.
Und überall standen Menschen, Elfen, Drachen und alle möglichen anderen Wesen munter schwatzend in knallbunten Gewändern. Nur einige wenige von ihnen warfen mir kurze Blicke zu, ehe sie weiter sprachen. Manche betrachteten mein Nachthemd skeptisch. Ratlos bahnte ich mir einen Weg durch die Menge auf eine der Treppen zu. Ein paar Leute folgten mir. Ich drehte mich überrascht um, doch sie erwiderten meinen Blick mit beinahe gelangweilter Gelassenheit.
Ich versuchte mir ihre Gesichter einzuprägen. Da war eine erschreckend dünne große Frau mit schneeweißer Haut und seidigem braunen Haar. Sie trug kaum mehr als ein feines Netz aus Silberfäden am Körper und bewegte sich langsam und ungeschickt, als wäre sie in Trance. Dann waren da drei Männer in schwarzen Gewändern. Einer groß, muskulös und mit rabenschwarzem Haar. Die beiden anderen blond und schmächtiger. Und zuletzt waren da noch zwei Wächter, die sich nur in Gang und Mimik von Vergessen und Zweifel unterschieden und eine kleine runzelige Frau in einem grasgrünen Kleid, über das sie einen feuerroten Mantel geworfen hatte.
Schnell richtete ich meinen Blick wieder nach vorne auf die weiße Treppe. Sie war breit und hatte ein geschwungenes Geländer. Sie schlängelte sich nach oben und verschwand irgendwo zwischen den Kronleuchtern in der Decke. Einen letzten flüchtigen Blick auf meine Verfolger richtend, legte ich eine Hand auf das eiskalte Geländer und setzte meinen Fuß auf die erste Stufe. Die Treppe war erstaunlich glatt. Ich hatte einige Mühe dabei, sie hinauf zu kommen, während die Leute hinter mir, sogar die ungeschickte Frau in Trance, die Treppe scheinbar mühelos meisterten. Meine Finger schlossen sich noch ein wenig fester um das Geländer und ich kämpfte mich weiter voran. Was konnte das für ein Material sein? Wie kam es, dass ich mit meinen nackten Füßen darauf ausrutschte, während die anderen scheinbar keinerlei Probleme damit hatten. Irgendein Teil im mir schrie auf, dass das hier, wie alles andere in dieser Welt jeglicher Logik entbehrte.
Ein leises Kichern erklang hinter mir. Erstaunt sah ich mich um. Einer der Wächter zwinkerte mir zu. Ich hob die Brauen. Er lächelte beinahe schelmisch und verbeugte sich ansatzweise. „LOGIK...“
Ich konnte ihn nur mit offenem Mund anstarren. Logik? Er legte eine Hand auf seine Brust. „LOGIK!“
Ich legte den Kopf schief und betrachtete ihn fragend. Dann fiel bei mir der Groschen und ich wandte mich schnell ab. Es gab also auch für Logik einen Wächter... Vergessen, Zweifel, Logik. Wahrscheinlich gab es für so ziemlich alles hier den passenden Wächter. Zögernd setzte ich mich wieder in Bewegung. Der obere Treppenabsatz kam näher und ich beeilte mich in der Hoffnung, meine Verfolger dort loszuwerden.
Und wirklich. Ich betrat einen kreisrunden Raum, während die beiden Wächter, die beiden Frauen und zwei der schwarz gekleideten Männer auf einer unsichtbaren Treppe weiter nach oben zu gehen schienen. Zurück blieb nur der schwarzhaarige Mann. Zögernd schaute ich mich in dem Saal um. Er war nur spärlich ausgestattet. Von der Decke hing ein einziger Kerzenleuchter herab. Die Wände waren mit goldenen Drachensymbolen verziert und der Teppich war mit verschlungenen Drachenmustern bedeckt. In der Mitte stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Nun fehlte nur noch mein Vater.
Hilfesuchend drehte ich mich zu dem dunkelhaarigen Mann herum. Dieser lächelte und just in diesem Moment erkannte ich ihn.
„Vater?“
Er nickte. „Ja, ich bin es. Schön dich hier zu sehen, Mina“.
Unsicher verschränkte ich die Hände hinter meinem Rücken. Wie durfte ich reagieren, was sollte ich sagen?
Er lächelte unbeirrt und breitete die Arme aus. „Nun komm schon her.“
Unbeholfen trat ich zu ihm und ließ mich von ihm in die Arme nehmen. Überrascht stellte ich fest, dass er ebenso wie ich vor Aufregung zitterte. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine muskulöse Brust und konnte seinem Herzschlag lauschen, während er mir mit einer Hand durch die Haare strich.
„Es tut mir so leid, dass du so lange allein sein musstest“, flüsterte leise. „Der Tod deiner Mutter ... Sie war nur eine Sterbliche, also hätte mich ihr Tod nicht berühren dürfen, aber sie ist so jung gestorben, dabei war sie so eine lebensfrohe Frau. Glaub mir, wenn ich sage, dass ich noch nie trauriger gewesen bin.“
Er löste seine Umarmung und hielt mich auf Armlänge von ihm entfernt.
„Ich hab dich damals als ganz kleines Kind gesehen und nun bist du hier und du hast schon einen großen Teil deiner Kindheit hinter dir.“
„Warum sprichst du erst jetzt mit mir, ich meine, du hättest mich doch einweihen können ..“. Die Worte sprudelten aus mir heraus und ich konnte nur da stehen und ihnen hinterher schauen. „Warum darf ich erst jetzt die Traumwelt betreten und warum habe ich alles vergessen und ...“ Ein Krachen durchfuhr das Gebäude, gefolgt von einem gespenstischen Lachen. Erschrocken zuckte ich zusammen.
Jeorelan hingegen schien mit soetwas in der Art gerechnet zu haben. Er zog mich zu dem Tisch und wir setzten uns einander gegenüber.
„Ich weiß, du hast viele Fragen und ich will sie alle so gut es geht beantworten“, sagte er leise. „Du sollst nur wissen, dass wir hier in der Traumwelt einige Wesen gefangen halten, denen du lieber nicht begegnen willst.“
„War das eben so ein Wesen?“
„Ja und nein. Ja, es ist ein furchtbares Wesen, aber du wirst ihm irgendwann einmal entgegentreten.“
Ich starrte ihn fassungslos an. „Warum?“
„Gleich, bitte entschuldige kurz, ich muss einmal nach dem Rechten schauen. Ich bin sofort wieder da.“
Er erhob sich und setzte den Fuß auf eine unsichtbare Treppenstufe. Verwirrt sah ich zu, wie er seelenruhig und mit sicheren Schritten die Luft erklomm und dann in der Decke verschwand.
Dann war ich wieder allein. Ich legte den Kopf auf den Tisch und wartete. Die absolute Stille hier war unglaublich. Es war ein Phänomen, dass die ganze Traumwelt erfüllte. Stille. Es fehlte das Rauschen des Windes oder das Zwitschern von Vögeln. Es war unwirklich, absolut unwirklich, andererseits erinnerte es aber auch an die Stille, die einen Unterwasser umgab.
„Da bin ich schon wieder.“ Lächelnd setzte sich mein Vater wieder und schaute mich an. „Wo waren wir? Ach ja, das Wesen. Bitte gestatte mir, dass ich das ein wenig zurückstelle und mich erstmal deinen anderen Fragen zuwende.“ Er räusperte sich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Du hast gefragt, warum ich niemandem erlaubt habe, dich hier her zu bringen ... Ich fange mit dieser Frage an, weil sie am einfachsten zu beantworten ist. Ich möchte nicht sagen, dass den Drachen misstraue. Sie sind mein Volk und ich liebe sie, wie ein Vater seine Kinder liebt, ich liebe sie, so wie ich dich liebe. Doch sie machen Fehler - natürlich, jeder macht Fehler- und einer ihrer Fehler ist es, dass sie sich so von allen anderen Völkern abspalten. Das ist etwas, an dem du, zu meinem Bedauern, nichts ändern kannst. Es hat sich über Jahrhunderte so entwickelt. Aber du kannst die Drachen dazu bringen, mehr zu kommunizieren.“
„Nein, das kann ich nicht. Ich kann weder die Stadt verlassen, noch mit den anderen Oldiin reden. Wenn es um Kommunikation geht, kann ich den Drachen nicht helfen!“
„Noch nicht.“ Seine Stimme war ruhig, aber in seinen Augen loderte Bedauern auf. „Ich sage das nicht gerne, aber ich denke du brauchst Abstand zu den Drachen.“
„Dann akzeptierst du meine Entscheidung? Dass ich mit Ades Hilfe fliehen möchte, meine ich.“
Er senkte den Blick. „Ja. Aber du musst sie verstehen, du musst versuchen ihren Standpunkt zu verstehen …“ Er seufzte. „Ein Jahrtausend lang waren die Oldiin keiner ernstzunehmenden Gefahr ausgesetzt. Es gab Kriege, Mörder und Krankheit, aber all das haben die Oldiin mühelos überstanden. Diese neue Gefahr … Solana, sie gefährdet zum ersten Mal das allerheiligste der Völker. Und gerade jetzt sollst gerade du, ein kleines Mädchen, alles wieder ins Reine bringen.“
„Ich verstehe die Drachen, aber trotzdem will ich mich dieser Gefahr stellen. Sie haben kein Recht, mich zu bevormunden.“
„Nein, das haben sie nicht. Trotzdem ist die Situation, in der sich die Drachen befinden nicht … fair.“
Ich grinste schüchtern. „Ist sie das jemals? Fair, meine ich. Ich glaube, man muss die Zukunft einfach so nehmen, wie sie kommt.“
Nun lachte auch er. „Das gerade du das sagst, ist einfach …“ Er seufzte. „Du bist etwas besonderes, Mina.“
„Aber warum?“ Ich lehnte mich vor und versuchte ihm direkt in die Augen zu sehen. „Alle denken, dass ich die einzige bin, die das Unheil abhalten kann, aber ich weiß nicht, was besonders an mir ist.“
Er holte tief Luft. „Das besondere an dir ist, dass du als einzige nicht die Zukunft so nehmen musst, wie sie kommt.“
Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“
„Du kannst die Zeit verändern, Mina. Nicht wenn du wach bist, aber wenn es um so große Bedrohungen wie Solana geht, dann ist die Welt des Tages sowieso belanglos.“ Ich konnte ihn nur fragend ansehen, also fuhr er fort. „Die Welt des Tages ist eigentlich nur eine kleine unwichtige Dimension. Es gibt nur wenige aus dieser Welt, die Traumwanderer sind. Die meisten sind gesichtslos und schwimmen ihr Leben lang Nacht für Nacht im Dunkeln, unfähig zu sehen oder zu hören. Aber höhere Wesen, wir Götter aber auch noch viel mächtigere Wesen, können sich beinahe pausenlos hier aufhalten. Über Leben und Tod, Erschaffung oder Zerstörung wird hier entschieden, im Tairasy, denn hier sind alle gleich. Wenn wir beide hier sind, bist du genauso stark und mächtig wie ich – nein, du bist sogar mächtiger als ich – aber solang du wach bist, bist du verletzlich!“ Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht. „Was uns beide von all den Gesichtslosen unterscheidet ist, dass wir diese Dimension sehen und uns in ihr bewegen können. Alle Traumwanderer können sich im Tairasy frei bewegen, ohne Einschränkungen, aber du, du kannst dich auch in der Zeit bewegen, so lange du im Tairasy bist.“
„Wie?“
„Das kann ich dir nicht sagen, ich bin nur ein unbedeutender kleiner Traumwanderer im Gegensatz zu dir. Du wirst es Stück für Stück selbst erforschen müssen und irgendwann kannst du dann mit Hilfe dieser Fähigkeit selbst die mächtigste Wandlerin besiegen.“
„Die Mächtigste?“
„Solana. Niemand weiß, wo her sie genau kam, aber sie ist uralt und hat sich einige nützliche Tricks zu eigen gemacht. Und leider sind wir anderen Traumwanderer auf ihrem Weg zur Macht nur störend.“
„Also will sie alles zerstören, warum?“
„Braucht sie einen Grund? Die meisten Wesen streben nun einmal einfach nach größtmöglicher Macht. Sie brauchen keinen Grund.“
„Sie muss ein abscheuliches Wesen sein“, flüsterte ich leise.
Mein Vater zuckte mit den Schultern. „Abscheulich ist sicherlich nicht das richtige Wort dafür. Du hast sie selbst gesehen. Sie war die junge Frau eben.“
Ich starrte ihn fassungslos an. „Die, die aussah, als wäre sie in Trance? Sie ist die große Gefahr, die alles zerstören könnte?“
„Warum nicht. Noch haben wir sie unter Kontrolle, mit vereinten Kräften. Du hast ihre Macht gespürt. Eben. Sie bäumt sich gegen ihre geistigen Fesseln und alles erzittert unter ihrer Macht. Irgendwann wird sie sich losreißen. Aber darüber wollten wir doch gar nicht sprechen.“ Er lächelte sanft. „Du hast gefragt, warum ich dich erst jetzt nach Tairasy gelassen habe. Mir ging es darum, dass du zuerst in die Prophezeiung eingeweiht wirst. Für deine Aufgabe brauchst du mehr als nur die parteiische Sicht der Drachen. Und wie ich gesehen habe, ist meine Rechnung aufgegangen. Ti-Lien ist ein herzensgutes Wesen.“ Er lächelte und ich wurde rot. Trotzdem wollte ich mich nicht von unserem Gesprächsthema ablenken lassen.
„Wenn ich aus Inur-Entora geflohen bin, soll ich also dorthin reisen, wo Solana in der Welt der Wachen wütet und sie besiegen.“ So ausgesprochen klang das alles andere als viel versprechend.
Mein Vater legte den Kopf schief. „In gewisser Weise ja … Irgendwann sollst du zur Grenze gehen und dich Solana entgegen stellen, aber nicht sofort. Wenn du soweit bist, wirst du es merken, auch wir werden es merken und dich dort erwarten … aber bis dahin … Ich glaube, es gibt noch viele Dinge, die du klären möchtest. Da draußen in der Welt der Wachen sind Ti-Lien, Berion, Timon, Lana und so viele andere. Ergreife deine Chance und triff sie wieder, bevor die Bedrohung über uns hereinbricht. Außerdem musst du erst deine Fähigkeiten hier im Tairasy erproben. Nein, wenn du aus Inur-Entora geflohen bist, zeige den Drachen wie man kommuniziert. Die anderen Oldiin werden dich erwarten.“
Ich starrte ihn stirnrunzelnd an. „Aber Sern-Minos. Er reist mitten in die Gefahr.“
„Er ist sich der Gefahr bewusst und er wird sich ihr stellen. Aber nicht um zu siegen, das muss dir klar sein.“
„Er reist in den Tod? Aber das wäre doch vollkommen sinnlos.“
„Er verschafft dir und uns Zeit. Und die brauchen wir so lange, bis du die Zeit selbst unter Kontrolle hast.“ Seine Worte legten sich wie ein Stein auf mich. Mein Vater hingegen lächelte traurig und stand auf. „Wir sollten hier für heute Nacht Schluss machen. Komm, ich bringe dich nach unten.“
Er griff nach meiner Hand und wir gingen Hand in Hand die Treppe hinab. Unten angekommen legte er die Hände auf meine Schultern. „Ich weiß, ich konnte dir keine Sorgen nehmen, ganz im Gegenteil, ich habe dir gleich noch ein paar Gründe zum Grübeln gegeben, aber glaube mir, hier werden alle hinter dir stehen, sobald der Zeitpunkt gekommen ist.“ Er zögerte. „Wenn du möchtest, kann ich Vergessen anweisen, dir deine Erinnerungen wieder zu geben … Natürlich werden sie dir kaum etwas Neues zeigen. Ich kann verstehen, wenn du sie lieber nicht haben möchtest ...“
„Doch, ich will mich erinnern“, sagte ich schnell. Er zog mich noch einmal zu sich heran. „Ich werde mich sobald es geht, wieder mit dir in Verbindung setzten, Kleine. Mach dir keine Sorgen wegen Solana. Sie zu, dass du fürs erste Abstand zu den Drachen gewinnst und dann sehen wir weiter.“ Er lächelte. „Ades erwartet dich draußen. Er bringt dich an die Oberfläche.“
Ich nickte. „Es war schön, dich mal zu sehen.“
Er nickte. „Ich bin stolz, eine so genügsame Tochter zu haben. Andere würden sich beschweren, dass ich nie da war und du, du freust dich, dass ich mindestens dieses eine Mal für dich da sein konnte.“
Ich zuckte mit den Schultern und wurde schon wieder rot. Nur widerstrebend ließ Jeorelan mich ziehen. Das ovale Loch in der Mauer des Gebäudes öffnete sich wieder und ich trat hinaus zu Ades.
Er schaute mich erwartungsvoll an, doch ich konnte nicht mit ihm sprechen. Wir gingen schweigend nebeneinander her, während ich all das verarbeitete, was ich erfahren hatte.
Wir erreichten die Stelle, wo wir uns fallen gelassen hatten und Ades hielt inne. Vor uns stand eine altbekannte Gestalt, ein Wächter.
„HALLO PRINZESSIN“, erklang seine Stimme in mir. Er wandte sich zu Ades herum. „ICH BRINGE SIE GLEICH NACH OBEN, ABER ERST MUSS ICH IHR ETWAS ZURÜCK GEBEN.“
Ades verneigte sich ehrfürchtig und verschwand beinahe augenblicklich. Der Wächter wandte sich wieder mir zu.
„WEIẞT DU, WER ICH BIN?“
„Vergessen?“, fragte ich zögernd.
Der Wächter lächelte und schüttelte den Kopf. „ICH BIN ERINNERUNG. MANCHE WÜRDEN SAGEN, DASS VERGESSEN UND ICH EIN UND DIESELBE PERSON SIND, ABER ICH SAGE, WIR SIND BLOẞ BRÜDER. ICH BIN HIER, UM DIR DEINE ERINNERUNGEN WIEDER ZU GEBEN.“
Ich nickte erwartungsvoll. „Wie wird es sich anfühlen?“
„AM ANFANG WIRD ES DICH ÜBERRUMPELN, ABER DEIN GEDÄCHTNIS … DEIN VERGESSEN WIRD WISSEN, WIE ES MIT DEN INFORMATIONEN VERFAHREN SOLL. NIMM MEINE HÄNDE.“
Er reichte mir seine perfekten Hände und ich legte zögernd meine hinein. Er schloss die Augen und ein zufriedener Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Etwas brach wie eine Welle über mich herein. Dunkelheit – ich schwebte in der Dunkelheit und konnte mich nicht rühren – wieder und wieder und wieder – immer wieder die gleichen Fragen; wo war ich, wer war ich und was war mit mir geschehen – Gesichtslose, die ich nicht kannte und am Ende immer und immer wieder das perfekte Gesicht von Vergessen, dass mich nach oben brachte. Ich zitterte, aber Erinnerung hielt mich aufrecht. Erzog mich nach oben. Erst an Zweifel vorbei, dann durch die Dunkelheit der Gesichtslosen. Er lächelte. „ICH HOFFE, WIR SEHEN UNS WIEDER, PRINZESSIN. NICHT GESCHÄFTLICH, VERSTEHT SICH. WIR HABEN SO LANGE AUF DICH ACHTGEGEBEN.“
Ich nickte. „Das weiß ich … jetzt.“
Damit erwachte ich. Ich starrte eine ganze Zeit lang perplex an die Höhlendecke. Dann sprang ich auf und sprintete aus der Höhle. Ich musste Ades finden um mich zu versichern, dass das ganze nicht nur ein merkwürdiger Traum gewesen war.
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So, nun gibt es auch hier ein neues Kapitel. Ich hoffe, es gefällt euch ;)
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