Was damals geschah

Legolas hätte alles von Thranduil erwartet. Wirklich alles. Aber dieser eine Satz war so überraschend gekommen... so plötzlich... das der Prinz nicht recht wusste, ob es nur ein Scherz war oder ob es der Wahrheit entsprach.

Doch Thranduil war nicht gerade für Scherze oder etwas Dergleichen bekannt.

Selbst die beiden Wachen, die hinter Thranduil neben der Tür standen, Schienen nicht recht zu wissen, was ihr König mit seinem letzten Satz meinte.

In Legolas Augen zeichnete sich deutliche Verwirrung ab.
Auch Misstrauen spiegelte sich in ihnen.

"Was... soll das bedeuten?" fragte er vorsichtig und legte Kopf leicht schief.
Thranduil, welcher über sich selbst überrascht war, dass er diesen letzten Satz wirklich laut ausgesprochen hatte, musste sich erst mal wieder fassen.

"Was..bedeutet das?!" wiederholte Legolas laut und wusste nicht so recht, ob er einen Schritt auf den König zu machen sollte oder lieber etwas Entfernung zwischen sie bringen sollte.

"Es bedeutet das, was ich sage. Ich bin nicht dein Vater" wiederholte Thranduil mit kalter Stimme. Die Augen starr auf die Legolas' gerichtet. Die Stimme gleichgültig, als würde ihn nichts interessieren.

"Aber.... das ist unmöglich. Du siehst mir so ähnlich. Ich verstehe nicht, wie du das meinst! Wer bin ich, wenn nicht dein Sohn? Erkläre mir das!" fauchte Legolas ebenfalls mit eisiger Stimme. Aber im Gegensatz zum König interessierte es ihn sehr, was hier gerade aufgedeckt wurde.

Denn wenn er nicht Thranduils Sohn war, würde dies auch bedeuten, dass er kein Prinz mehr war?

Ein Gedanke, mit dem Legolas nicht umgehen konnte. Er kannte schließlich kein anderes Leben.
Natürlich hatte er Kontakt zu Elben, welche in niedrigeren Schichten lebten. In umliegenden Dörfern hatte er ein paar gute Freunde. Er wusste, wie sie lebten oder was sie taten. Aber er selbst konnte sich kein anderes Leben, als das eines Prinzen für sich vorstellen.

Sein ganzes Leben war eine einzige Lüge gewesen...

Eine einzige große Lüge.

Thranduil musterte Legolas genau, ehe er zu sprechen begann.

"Ich hatte eigentlich vor, dir dieses Wissen erst zu vermachen, wenn der Tag meines letzten Atemzugs gekommen ist. Aber da dieser Tag in unendlich weiter Zukunft liegt und du mich nicht damit in Ruhe lassen wirst, kann ich es dir wohl sagen".

Der König schritt wieder zum Fenster und ließ seinen Blick über die rotgoldenen Baumkronen schweifen.

"Du bist nicht mein eigen Fleisch und Blut, Legolas. Das warst du nie. Das wirst du auch nie sein. Und trotzdem sind wir miteinander verwandt" sagte er dann nach einem langen Schweigen.

"Wie?" fragte Legolas, der hinter dem König stand, mit schneidender Stimme. Misstrauisch beobachtete er den Elbenkönig, als erwartete er, gleich von ihm angegriffen zu werden.

Wenn er nicht Thranduils Sohn war,...

... wer war dann sein Vater?
Und wer seine Mutter?

Thranduil drehte sich langsam zu ihm um.
"Du bist mein Neffe".

Legolas legte den Kopf schief und runzelte die Stirn.
Neffe? Da war doch etwas... ja, Tauriel hatte einen Bruder erwähnt. Einen Bruder Thranduils.

"Hat das etwas mit einem Bruder zu tun, den ich nicht kenne?" fragte er langsam.

Thranduil hob eine Augenbraue.
"Du scheinst mehr zu wissen, als ich dachte. Erst Tiaras Kräfte und nun dies! Woher weißt du davon?" fragte er zurück.
Er sprach ruhig und doch war da etwas in seiner Stimme, das Legolas nervös machte.

Er schwieg. Doch Thranduil ahnte bereits, woher Legolas es wusste.

"Du warst bei Tauriel, nicht wahr? Sagte ich nicht, du sollst dich von ihr fern halten?!" knurrte Thranduil.

Legolas ignorierte den letzten Satz.
"Was hat es mit diesem Bruder auf sich? Warum weiß ich nichts von ihm? Sag mir endlich, was hier los ist!"

Drang nach einer Antwort und Ungeduld zeichneten seine Stimme ab. Für Elben war es eigentlich recht untypisch ungeduldig zu sein. Doch bei einer solchen Angelegenheit riss selbst dem ruhigen Legolas der Geduldsfaden.

Thranduil wandte sich wieder dem Fenster zu und betrachtete die aufsteigende Sonne.

"Ich werde folgende Geschichte nur einmal erzählen, Legolas. Ein mal! Was du mit diesem Wissen anfängst, liegt allein bei dir. Aber ich warne dich, sollte auch nur ein Wort dieses Wissens an die Öffentlichkeit gelangen, wirst du dieses Schloss nicht mehr verlassen, solange ich noch lebe" sagte er dann.

Legolas machte sich nichts aus dieser Warnung. Das einzige was im Moment zählte war die Wahrheit. Diese kostbare Wahrheit.
Aber woher sollte er wissen, dass das, was Thranduil ihm gleich erzählen würde, auch die Wahrheit war?

Lerne zu vertrauen, hätte sein alter Lehrmeister jetzt gesagt.
Aber wie sollte er jenem Elben trauen, der ihn sein ganzes Leben lang angelogen hatte?

Misstrauisch, aber Ungeduldig funkelten Legolas Augen zu Thranduil, welcher ihm immer noch den Rücken zu gedreht hatte.

"Dein Großvater, König Oropher, verlor seine Frau am Tag der Geburt seiner Kinder. Es gab Komplikationen bei der Geburt. Und als die Zwillinge das Licht der Welt erblickten, starb sie" begann Thranduil zu erzählen.

"Zwillinge? Du... hast einen Zwillingsbruder?" fragte Legolas vorsichtig. Die Ungläubigkeit war nicht zu überhören.

"Ich hatte einen Zwillingsbruder. Er ist tot" antwortete der König mit gleichgültiger Stimme. So, als wäre es ihm egal, dass sein Bruder tot war.

"Und dieser Zwillingsbruder... ist dann mein..." Legolas brachte den Satz nicht mehr zu Ende, obwohl er die Antwort bereits kannte.

"Ja, mein Zwillingsbruder, Lorion ist dein Vater" bestätigte Thranduil.

Legolas' Blick, der bis eben noch fest auf Thranduil gehaftet hatte, wanderte nun ins Leere. Diese Nachricht musste er erst einmal verdauen.

Sein Vater war tot.
Er hatte ihn nie gekannt.
Stattdessen hatte Thranduil ihm nur all die Jahre vorgemacht, dass er sein Vater wäre.

Wie viele Lügen musste er noch ertragen?

"Warum diese Geheimnisse? Du hättest mir schon von Anfang an die Wahrheit sagen sollen" fauchte Legolas, in dessen Innern sich langsam aber sicher wieder Wut auf staute.

Wie schon so oft an diesem Tag, musste er alles daran setzen, sich unter Kontrolle zu halten. Nicht einfach auf seinen Vater los zu gehen.

"Hör zu und verstehe es" waren die Worte des Königs, ehe er begann, seine Geschichte zu erzählen.

"Nachdem unsere Mutter gestorben war, wurden ich und Lorion von unserem Vater auf gezogen. Wir waren unterschiedlich wie Tag und Nacht. Lorion war der geborene Jäger, achtete aber alle Lebewesen und sah, genau wie unser Vater, in Drachen keine Feinde, sondern mächtige geschöpfe, die es zu beschützen galt. Als unser Vater eines Tages von einem Halbdrachen getötet wurde...", Thranduil drehte sich langsam herum und sah Legolas vielsagend an, "...ging der Thron an mich und meinen Bruder. Und da ich diese Welt eine halbe Stunde vor Lorion erblicken durfte, hatte ich das recht auf den Thron.
Es hätte alles so gut gehen können, doch mein Bruder musste diesem Schicksal einen Strich durch die Rechnung machen.
Er ging auf Reisen. Wollte den Verlust unseres Vaters betrauern. Nach einigen Monaten kam er zurück. Mit ihr".

Thranduil stoppte und warf Legolas einen weiteren tiefen Blick zu.

"Ihr?" Legolas ahnte natürlich, wer mit ihr gemeint war.

"Deine Mutter".

Thranduils Stimme war voller Hass und Verachtung.

"Dein Vater hatte sie in Lorien kennen gelernt. Ihr Name war Irina. Ich werde den Tag nie vergessen, andem sie auf den Palasthof geritten kam. Eine wunderschöne Elbenmaid. Augen, so leuchtend blau wie die deine und die deines Vaters. Ihre Haare so schwarz wie die Nacht. Und ihre Stimme.... Zerbrechlich und doch so stark. Sie hat dir vorgesungen. Jeden Abend".

Thranduil schwieg und starrte durch das Fenster hinaus auf die weiten des Waldes. So, als schweifte er in Erinnerung.

Legolas ging ein Licht auf.

"Du sprichst von ihr,...von Irina... von meiner Mutter,... als hättest du sie sehr gemocht" sagte er vorsichtig.

"Gemocht?" wiederholte der Elbenkönig, "Nein. Sogar mehr als das. Ich habe sie geliebt. Von dem Tag ihrer Ankunft, bis zu dem Tag, an dem ich ihr Geheimnis lüftete".

"Was für ein Geheimnis?" fragte Legolas mit gerunzelter Stirn.

"Alles mit der Zeit. Nachdem Irina hier im Düsterwald war, wurde es hier heller. Der Tod meines Vaters schien ewigkeiten her zu sein. Aber es gab einen Haken. Irina liebte nicht mich, sondern meinen Bruder. Lorion und sie. Sie waren das Trampaar des Jahrhunderts. Alle bejubelten sie. Alle feierten ihre Liebe zueinander. Und während deine Eltern sich immer näher und näher kamen, wurde ich in den Schatten zurück gedängt.
Eines Tages machte Lorion Irina einen Heiratsantrag. Sie nahm ihn natürlich an. Und kaum waren sie den Bund eingegangen, kam die zweite große Nachricht. Irina war schwanger.
Ich beobachtete sie jeden Tag und wusste, das Kind, das in ihr wuchs, war von Lorion. Und nicht von mir. Aber es hätte von mir sein sollen. Du hättest von mir sein sollen. Mein eigener Sohn. Im Bauch der schönsten Elbin Mittelerdes. Es wäre perfekt gewesen".

Wieder stoppte Thranduil, trat zu seinem Schreibtisch und nahm einen Schluck Wein.

"Die Monate ihrer Schwangerschaft waren die pure Folter für mich. Ich musste machtlos mit ansehen, wie in Irinas Bauch ein neues Leben wuchs.
Und mir war klar, dass ich einen Thronfolger brauchte. Denn meinem Bruder, dem ich meine Freundschaft über Jahre hinweg vorgespielt hatte, wollte ich den Thron sicher nicht überlassen, wenn ich sterben sollte. Und ich wusste auch, dass es nur eine Elbin gab, die ich wollte: Irina. Das einzige Problem war, dass ich nicht dein Vater war. Und dass mein Bruder noch lebte. Also musste ich etwas unternehmen".

Legolas beschlich ein ungutes Gefühl. Was hatte Thranduil, sein Onkel, getan? Hatte er seinen Bruder getötet? Und was war Irinas Geheimnis?

"Was hast du getan?" knurrte Legolas mit leiser, aber gefährlicher Stimme.

"Ich habe versucht, deine Mutter zu überzeugen. Ich wollte ihr zeigen, dass ich ein besser Mann für sie wäre, als mein Bruder. Doch sie wollte keinen König als Mann, keinen Reichtum. Sie wollte nur eins. Meinen Bruder.
Und dann kam der Tag deiner Geburt. Sämtliche Elben aus dem Düsterwald feierten diesen Tag. Ja, das Volk hatte Lorion schon immer mehr geliebt als mich. Und dich liebte es genauso. Sie feierten dich. Irinas Sohn. Mein Neffe. Obwohl du mein Sohn hättest sein sollen.
Es vergingen Wochen. Ich versuchte weiterhin Irina zu überreden, zu mir zu kommen. Mich zu lieben und Lorion zu verlassen. Ich ging weit in meinen Mitteln. Doch selbst auf Druck zeigte sie keine Furcht. Sie blieb meinem Bruder treu.
Doch ich scheute nicht zurück, um ihr zu zuhören, wenn sie dich Nacht für Nacht in den Schlaf sang".

Thranduil lies den Blick über die Baumwipfel wandern, die sich im sanften Wind leicht hin und her bogen.

"Und dann kam der Tag, andem sich meine Liebe zu Irina in Hass verwandelte. Und schuld war ein Feuer im Wald.
Du weißt, dass Halbdrachen das Feuer bändigen können. Du weißt, dass Lorion Drachen liebte und ich sie verachte. Und sie war einer.
Als ich Irina in den Wald folgte, wo sie sich mit meinem Bruder treffen wollte, sah ich, wie das Feuer ihr gehorchte. Als ich sie zur Rede stellte, gestand sie. Und Lorion verteidigte sie. Ich bin heute noch froh darüber, dass ich damals Giftpfeile bei mir trug. Die selben, mit denen ich auch Tiara beschossen habe. Ein Gift, nicht stark genug, um ein Leben zu beenden. Aber immerhin so stark, um den Betreffenden in die Bewusstlosigkeit zu stürzen.

Ich brachte die beiden in die Kerker. Meine Wachen konnten nichts unternehmen. Sie erlangen meinen Befehl. Auch, wenn Lorion mein Bruder war.
Im Kerker stellte ich beide zur Rede. Ich hatte eine solche Wut auf Irina. Doch das was mich am meisten verletzte, war die Tatsache, dass Lorion es die ganze Zeit gewusst hatte...."

"Du hast die ganze Zeit gewusst, dass sie jener Rasse angehört, die Schuld am Tod unseres Vaters ist?"

"Halbdrachen sind keine bösen Geschöpfe! Sie wollen Frieden. Ich liebe Irina"

"Sie ist ein Monster, versteh doch!"

"Sie ist kein Monster. Keins jener Kreaturen, die im Schatten hausen"

"Hörst du dich überhaupt reden? Weißt du wie du dich anhörst?"

"Mein Bruder hat zu ihr gehalten. Obwohl ihre Sippe, Tiaras Sippe, daran schuld ist, dass mein Vater tot ist.
Ich habe die beiden in verschiedenen Räumen vernommen. Ich wollte von Irina wissen, wie man Halbdrachen töten konnte. Doch sie schwieg. Das einzige, was ich wusste, war, dass Halbdrachen mit der Zeit sterben, wenn man ihnen ihre Seele nehmen würde. In Irinas Fall war es ein Amulett. Genau wie bei Tiara. Und ich nahm es ihr.
Zur gleichen Zeit begonnenen die Orks in Gundabad unruhig zu werden. Mit meiner Armee im Rücken marschierte ich dort hin. Eine Schlacht war unumgänglich. Und da Irina ohnehin bald sterben würde, befahl ich einigen Elben, sie versteckt mit zu nehmen. Ich brachte sie nach Gundabad. In die Schlacht. Und ließ die dort zurück. Dort, schwach und dem Tode nah. Dort, zwischen all den Orks. Zwischen all den Toten....
Ja, ich habe sie in den Tod geschickt. Und ja, ich war zufrieden, als ich sie dort alleine zurückgelassen habe".

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