Kapitel 6
Elaine
Als Kind hatte ich mich immer gefragt, was es eigentlich bedeutete, tot zu sein. Vater hatte mir zwar jedes Mal geantwortet, doch war diese nie zufriedenstellend gewesen. Er hatte gesagt, dass kleine Mädchen nicht über den Tod nachdenken sollten. Er sei ein Zeichen von Pech.
Außerdem hatte die Frage ihn immer traurig gemacht. Daher hatte ich angefangen, meine Neugier auf den Tod zu unterdrücken, doch ich hatte nicht verhindern können, dass ich darüber fantasierte, was nach meinem Leben hier kam. Gab es einen Himmel oder eine Hölle? Ein Leben nach dem Tod?
Keine meiner Vorstellungen konnte mich jedoch auf das vorbereiten, was um mich herum geschah.
Der große, mächtige und wilde Drache, der über mir flog und durch den Himmel raste, war ein Bild, das sich für immer in meinen Kopf einbrennen würde. Majestätisch und angsteinflößend. Grausam und doch faszinierend.
Er sah aus, als würde er Vogelschwärme jagen.
Ich hatte das Bild noch so genau im Kopf wie zu dem Moment, wo ich ihn entdeckt hatte und kurz bevor Feuer mich umhüllt hatte.
In diesem kurzen Moment hatte ich bemerkt, dass er nicht jagte, sondern der Gejagte war. Hinter ihm waren Dutzend weitere Drachen geflogen. Sie alle mit Reitern ausgestattet, die lange Speere warfen.
Erst, als einer der Speere ihn an der Seite traf, hatte er vor Schmerzen geschriene und danach Feuer gespuckt, das mich und mein Dorf verbrannt hatte. Wir waren nicht sein Ziel gewesen und doch hatten wir darunter gelitten.
Ich konnte den Schrei des Drachen noch sehr gut hören ... Doch er wurde irgendwie immer weiblicher und klang ... Moment. War das ich, die da schrie? Wie war das möglich?
Ein scharfer, furchtbarer Schmerz schoss durch meinen Körper und sorgte dafür, dass ich mich krümmte. Es fühlte sich an wie Lava, die durch meine Adern floss und sogar meine Knochen erreichte.
Ich krümmte mich schreiend und weinend zusammen, während ich nicht verstand, was geschah. War ich etwa tot und das waren die berüchtigten Phantomschmerzen, von denen mir einmal erzählt wurde?
Oder hatte ich hier nur einen Albtraum?
Als die Schmerzen abgeklungen waren, was sich angefühlt hatte wie eine Ewigkeit, öffnete ich blinzelnd meine Augen.
Ich hatte erwartet, in meinem Zimmer aufzuwachen und das vertraute Gesicht meiner Mutter zu sehen, die mir ruhig sagte, dass ich in Sicherheit war, dass ich nur einen Albtraum gehabt hatte und jetzt wieder alles gut war, doch es geschah nicht. Da war niemand.
Der Raum war dunkel und mir unbekannt. Er ängstigte mich ähnlich, wie es dieser Traum getan hatte.
Ich war von meinem Schweiß durchnässt, was sich unangenehm anfühlte. Nach so einem Albtraum war das aber kein Wunder.
Langsam setzte ich mich auf, wobei ich spürte, dass mein Körper ein wenig schmerzte. Es war jedoch nicht mit den Schmerzen des Drachenfeuers zu vergleichen, das mich erwischt hatte. Aber, da ich keine Schmerzen hatte, musste es ein Traum gewesen sein. Nur wo war ich hier?
Unruhig sah ich mich um, um herauszufinden, was das für ein Zimmer war. Ich erinnerte mich nicht, wie ich hierhergekommen war.
Der Raum war rund, doch so schwach beleuchtet, dass ich kaum mehr erkannte. Fenster hatte er wohl keine, was mich schaudern ließ.
Ich blickte meinen Körper hinunter und bemerkte, dass ich nackt war. Abgesehen von einem weißen Tuch, das meinen Körper gerade so bedeckte.
Überrascht darüber suchte ich meinen Körper nach Brandwunden ab, doch ich entdeckte nichts. Für mich ein weiteres Zeichen dafür, dass ich entweder noch immer träumte oder wirklich tot war. Müsste ich sonst nicht überall Verbrennungen haben?
Das alles verstörte mich und ich konnte nicht klar denken. Alles fühlte sich an, als wäre es nicht real.
Ich kämpfte noch immer darum herauszufinden, wie ich in diese Situation gekommen war, als die Tür aufgestoßen wurde.
Licht drang in den Raum und blendete mich so sehr, dass ich mein Gesicht abwenden musste. Der Schmerz in meinen Augen zeigte mir, dass ich vielleicht doch nicht träumte. Immerhin konnte man in Träumen keine Schmerzen empfinden, oder doch?
Es dauerte einen Moment, bis ich wieder etwas erkennen konnte. Derjenige, der eintrat, war ein riesiger, stämmiger Mann. Begleitet von einer gebrechlichen, alten Frau, die sich auf einen Stock stützte.
„Sie ist wach", stellte die alte Frau flüsternd und überflüssigerweise fest. Sie sprach so leise, dass ich kaum verstehen konnte, was sie sagte.
„Wer bist du?", fragte ich als erstes flüsternd, wobei ich bemerkte, dass meine Stimme rau klang, weshalb ich mich leise räusperte. Es war nur eine der Fragen, die durch meinen Kopf schossen, doch ich wollte einfach anfangen. Vielleicht konnte sie mir auf die anderen Fragen auch keine Antwort geben. Am liebsten hätte ich geschrien, bis man mir antwortete, doch ich konnte meine Stimme kaum finden. Auch, weil der Mann mir Angst machte. Seine Anwesenheit ließ mich vorsichtig werden. Von der Frau hingegen ging keine Gefahr aus. Zumindest glaubte ich das, obwohl Vater mir beigebracht hatte, dass man gerade auf die achten sollte, die unscheinbar waren. Von ihnen erwartete man immerhin nicht, angegriffen zu werden.
Ich blickte die Frau fragend an, doch sie blieb mir eine Antwort schuldig. Stattdessen zeigte sie auf mich. „Halte sie fest", flüsterte sie zu dem Mann, der einen Schritt auf mich zu machte. „Ich bereite das Gericht vor."
Verwirrt blickte ich sie an, da ich nicht verstand, was hier los war. Ihre Worte ergaben für mich keinen Sinn.
Als der Mann weiter auf mich zutrat, wollte ich fliehen, doch meine Muskeln gehorchten mir nicht. Ich bewegte mich in Schneckengeschwindigkeit über den Boden, was kontraproduktiv war. Dem Mann gelang es, mich zu fassen und mühelos drückte er mich zurück.
Obwohl ich zappelte und versuchte meine Stimme zum Schreien zu bewegen, brachte ich doch nur leises Krächzen hervor, was in meinem Hals schmerzte. Es war, als wäre ich noch nicht ganz Herr über meine Sinne. Selbst mein Blick verschwamm ab und an, während ich die Erschöpfung spürte, die mein Zappeln mit sich brachte.
Irgendwann erstarb meine Gegenwehr, weil mein Körper einfach nicht mehr konnte. Mein Herz klopfte heftig in meiner Brust, als drohte es mir, herauszuspringen, während ich beobachtete, wie die alte Frau mit einer Holzschüssel auf mich zukam. Sie drückte mir diese gegen den Mund und ein bitterer, stinkender Geruch drang mir in die Nase.
Ich kniff meine Lippen und Augen zusammen. Das Zeug war widerlich! Das würde ich nie im Leben trinken.
Allerdings ließ man mir überhaupt keine Wahl. Unnachgiebig presste die seltsame Frau die Schüssel an meinen Mund und weil ich nicht mitspielte, griff der stämmige Mann ein. Er drückte mir so lange gegen die Wangen, bis ich widerwillig meinen Mund öffnete.
Als die Flüssigkeit meine Zunge berührte, begann ich zu würgen. Ich versuchte, sie auszuspucken und mich wegzudrehen, doch ich schluckte dennoch einiges davon.
Die Übelkeit wurde stärker, doch dazu kam auch eine gewisse Lähmung meiner Gliedmaßen. Angst setzte ein. Was taten diese Leute mit mir? Für was war das gut? Warum musste ich das Zeug schlucken? Wollten sie mich vergiften oder war ich eine Art Experiment?
Meine Gegenwehr erstarb völlig, obwohl ich das nicht wollte. Ich konnte nur noch zusehen, wie sie mir immer mehr dieser Flüssigkeit einflößte, während mein Blick ganz langsam immer dunkler wurde, bis ich nur noch Schwärze und Schwerelosigkeit fühlte.
War ich jetzt etwa endgültig tot? Wie oft konnte man hintereinander sterben?
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