Kapitel 18
Gideon
„Sie wird sterben, Mylord", sagte Leon, dessen Augen mich flehend ansahen.
„Sie war im Lager sehr nützlich", mischte ich auch Jace ein. „Die Männer mögen sie. Man würde sie sehr vermissen."
Ihr fuhr mir frustriert durch die Haare. „Wann habt ihr beiden ein Kurzzeitgedächtnis entwickelt? Ich kann nichts für sie tun", sagte ich, wobei mich die Forderungen der beiden irritierten. Sie wussten doch sehr gut, wie das lief. „Und ihr beide wisst auch, was auf dem Spiel steht."
Hatten sie etwas schon vergessen, warum Elaine hier war? Warum Lionel sie hier abgesetzt hatte? Wie war es dem nervigen Mädchen gelungen, sie alle für sich einzunehmen?
„Mylord", sagte Jace, der einen leichten, flehenden Ton hatte. „Welchen Weg Ihr auch wählt. Ihr Tod schient unvermeidlich. Wenn Ihr Euch entscheidet, nichts zu tun, wird sie definitiv sterben. Ihre Verwandlung hat bereits begonnen. Den Prozess auf halben Wegen zu stoppen ist genauso gefährlich, wie ihn fortzuführen. Bei letzterem hat sie zumindest eine kleine Chance."
„Ich weiß, wie die Verwandlung funktioniert, Jace", knurrte ich. Mir war klar, dass sie kaum eine Chance hatte. „Ich dachte, wir hätten mehr Zeit, herauszufinden, was wir tun. Wir hatten nur eine Woche Zeit."
Jace hatte sie beobachtet und versucht, eine Lösung zu finden. Es schien ihm nicht geglückt. „Die Drachenessenz, die sie besitzt, ist viel stärker als die der meisten Menschen", begann er, wobei er ein wenig unruhig im Raum auf und ab lief. „Ihr mächtiger Drache ist bereits wach und erzwingt seinen Weg in die Freiheit", erklärte er zähneknirschend. „Nach der Häufigkeit und Hartnäckigkeit ihrer Krämpfe zu urteilen, ist sie nicht in der Lage, länger als eine Woche durchzuhalten. Dann würde die Belastung ihren Körper in Stücke reißen."
Verdammt! Wir hatten wirklich kaum noch Zeit. Eine Woche war nicht lang.
„Mylord", sagte Leon flehend. „Das Schicksal dieses Mädchens ist mit Ihrem verflochten", erinnerte er mich mit einer Vehemenz, die gar nicht zu ihm passte.
„Ich stimme Leon zu, Mylord", sagte Jace, was mich ihn ungläubig ansehen ließ. Er tat was? Wann war denn das geschehen? „Sie ist zu wichtig, als dass wir sie kampflos aufgeben könnten."
Ich fühlte mich überfahren. In den vergangenen Wochen waren viele seltsame Dinge auf der Insel geschehen. Leon hatte begonnen sich lautstark für Elaine einzusetzen und Jace stimmte ihn zu. Eine Tatsache, die ich nicht einfach so ignorieren konnte, war sie doch so seltsam.
Ich fuhr mir erneut durch die Haare. „Ich dachte, ihr seid beide nicht einer Meinung", murmelte ich und blickte zwischen Jace und Leon hin und her. „Wann genau habt ihr angefangen, einander zuzustimmen?"
Vermutlich war auch Elaine daran schuld. So, wie sie die Schuld an vielen Dingen trug, die hier aktuell passierten. Nicht, dass sie unbedingt negativ waren ...
„Ein gewisser Jemand hat mir klar gemacht, dass Magie und Wissenschaft sich nicht so sehr unterscheiden und nicht widersprüchlich sind", erklärte Jace mit angespannten Schultern. Mir war klar, wer dieser Jemand war. „Ich kann mich nicht entscheiden, welchen Teil des Universums ich akzeptieren und welchen ich ablehnen soll."
Wie hatte ein kleines Mädchen Jace Meinung so ins Wanken bringen können?
„Was du gesagt hast, ist genauso verwirrend, wie das, was du nicht gesagt hast", spottete ich, da ich ihm kaum folgen konnte. „Aber was auch immer dich glücklich macht." Mir war es egal, solange Jace damit klarkam.
Ich war gerade froh, dass wir das Thema gewechselt hatten, als Leon wieder das Wort erhob. „Wegen Elaine, Mylord", drängte er. Ich war wirklich froh, dass er nicht viel redete, denn ich war nicht sicher, ob ich mit der Intensität seiner Forderungen lange fertigwerden würde.
Weil ich nicht genau wusste, was ich tun sollte, blickte ich zu Lucius, der schweigend in der Ecke des Raumes stand. „Lucius. Du warst schrecklich still", bemerkte ich, weil ich seine Meinung hören wollte.
„Es ist eine heikle Situation, Mylord", seufzte Lucius. „Wir sind noch nicht bereit für den Krieg mit Lionel. Weitere Gefangene und Eingeborene schließen sich unseren Reihen an und wir zwingen endlich Frieden auf die Insel, aber wir brauchen Mehr Zeit, um die Rekruten auszubilden und die Eingeborenen zu organisieren", begann er zu erklären. „Wie Jace sagte: Ihr Tod ist unvermeidlich, aber Ihr könntet uns mehr Zeit verschaffen, indem Ihr die Wandlung fortführt, während wir uns auf den Krieg vorbereiten."
Mir war klar, dass ich uns damit Zeit verschaffen konnte, doch konnte ich es vor mir selbst rechtfertigen, dafür ein Mädchen zu quälen?
„Ihr solltet jetzt gehen", sagte ich, da ich darüber nachdenken musste. „Ich werde mein Urteil beim Abendessen fällen." Alles musste gut abgewogen werden. Ich war mir nicht sicher, ob ich eine Frau wirklich wandeln konnte.
„Ja, Mylord", antworteten meine drei Vertrauten, bevor sie mein Zimmer verließen.
Als sie heute in aller Frühe zu mir gekommen waren, war mir klar gewesen, dass sie ein wichtiges Thema mit mir besprechen wollten, doch dass es um Elaine ging, hatte ich nicht angenommen.
Lionel benutzte das Mädchen noch immer. Sie war die perfekte Falle und ich war drauf und dran hineinzutappen.
Ganz gleich, welche Entscheidung ich traf: Sie würde sterben. Damit hätte Lionel die perfekte Ausrede, um gegen mich in den Krieg zu ziehen, ohne die Unterstützung des Volkes zu verlieren.
Wenn ich beschloss, nichts zu tun, würde ihr Drache gewaltsam ausbrechen und sie zerreißen. Sobald der Verwandlungsprozess begonnen hatte, musste er auch beendet werden. Anderenfalls würde der erwachte Drachen in der Person versuchen, sich seinen Weg nach draußen zu bahnen und dabei den Wirt zerstören.
Laut Jace hatte sie noch eine Woche zu leben. Es sei denn, ich setzte die Transformation fort.
Ich wusste, wie es ging, da Vater mich das gelehrt hatte. Außerdem hatte ich schon unzählige Männer durch die Verwandlung geführt und ihnen geholfen, ihr wahres Potential als Drachen zu entfalten.
Aber Männer und Frauen waren anders. Ich hatte keine Erfahrungen mit Frauen. Außer diese eine, die mir bestätigt hatte, dass ich keine Frauen wandeln sollten. Ich hatte so viel Angst davor, dass es noch einmal so endete, dass ich mir schwor, niemals eine Frau zu wandeln.
Auch, als mir klar wurde, dass dies mein Königtum aufs Spiel setzte, hatte ich nicht den Mut gefunden, Frauen im Namen der Geburt dermaßen zu quälen. Die Wandlung war sehr schmerzhaft und nur die wenigsten Frauen überlebten.
Vater hatte mir erzählt, er hatte bei dem Versuch, eine Drachin zu erschaffen, die ihm ein Kind zur Welt brachte, fünf Frauen getötet.
Allein die Vorstellungen jemanden zu töten, der mir am Herzen lag, ließ mich zittern. Ich war vielleicht feige, doch ich konnte mich einfach nur durchringen, Frauen zu ermorden. Daher gab es für mich auch keine Möglichkeit, die Thronfolge fortzusetzen. Lionel hingegen war grausamer. Er hatte damit keine Probleme, dieser herzlose Bastard.
Er hatte sogar das Gerücht verbreitet, dass ich Frauen hasste und nicht in der Lage war, sie zu wandeln. Dabei war das Gegenteil der Fall. Ich hatte viel zu viel Angst um sie. Ich fürchtete mich so sehr davor, dass ich alles in meiner Machtstehende getan hatte, um ihnen auszuweichen. Doch nun hatte das Universum mir dieses Mädchen in den Weg gestellt und drohte mit ihrem Tod.
Wenn ich nichts tat, würde sie sterben. Wenn ich es versuchte, würde sie trotzdem sterben.
Leon hatte recht behalten. Dieses Mädchen verursachte einen Krieg. Egal, wie es am Ende ausging und egal, ob sie lebte oder nicht.
Wie war ein so junges, unschuldiges Mädchen wie Elaine nur in einen so schrecklichen, gefährlichen Sturm geraten.
Sie hatte keine zwei Wochen gebraucht, um sich zu integrieren und von den Männern gemocht zu werden. Ich hatte sie als Eindringling betrachtet, doch meine Männer sahen sie als willkommene Gefährtin. Sie war zu einem Teil von ihnen geworden, den sie nicht wieder hergeben wollten.
Es waren nicht nur Jace, Lucius und Leon, die sie versuchten zu retten. Ich hörte ab und an die Männer tuscheln. Sie alle machten sich Sorgen, wussten jedoch nicht, wie schlecht es wirklich um sie stand.
An dem Tag, als Leon für sie eine Unterkunft hatte suchen sollen, war ein Zelt neben meinem erschienen. Ich wusste bis heute nicht, warum er es ausgerechnet dort aufgestellt hatte.
Von allen anderen Zelten war ihres meinem am nächsten. Sie war die erste Person, die ich am Morgen nach dem Aufwachen sah und auch die letzte, die ich vor dem Einschlafen erblickte.
Vielleicht hatte sie mich nicht bemerkt, doch ich hatte sie beobachtet. Hatte gesehen, wie sie sich von einem faul wirkenden, rundlichen und überfütterten Mädchen, das eher unhöflich wirkte in ein sehr fröhliches, lebensfrohes und vor allem nützliches Mädchen entwickelt hatte. Als wäre das Erste, was sie uns gezeigt hatte, nur eine Fassade gewesen.
Dadurch, dass sie das zusätzliche Gewicht, das sie im Palast dazugewonnen hatte, nun wieder verloren hatte, traten ihre weiblichen Rundungen sehr gut zur Geltung. Das einfache Kleid, das sie hier trug, machte es nur deutlicher.
Eigentlich hatte ich geglaubt, dass ich den weiblichen Reizen nicht mehr erlag, weil ich versucht hatte, sie schon in jungen Jahren im Keim zu ersticken, doch diese junge Frau hatte eine Anziehungskraft auf mich, die ich nicht leugnen konnte.
Sie entlockte mir Emotionen, die ich schon vor langer Zeit vergraben geglaubt hatte. Das machte mir Angst.
Vielleicht sogar noch mehr, als ihre Verwandlung begleiten zu müssen. Ich hatte mein Leben bisher perfekt ohne eine Frau gelebt und jetzt drohte dieses Mädchen meinen Lebensstil komplett umzuwerfen.
Die Wandlung war emotional und körperlich anstrengend. Für beide Seiten. Ich musste ich mit der Person emotional verbinden und befürchtete, dass jede emotionale Bindung, die ich mit Elaine aufbaute, nicht so leicht gebrochen werden konnte.
Ich fühlte mich schon jetzt aus der Ferne zu ihr hingezogen. Wie sollte es dann erst werden, wenn ich zuließ, dass sie mir näherkam?
„Verdammt, Lionel", fluchte ich frustriert.
Wohin ich mich auch wandte. Ich stand vor den immer gleichen Problemen. Egal, welche Entscheidung oder Wahl ich traf: Elaine stand mir im Weg.
Anscheinend war Lionel wirklich versessen darauf, Krieg mit mir zu führen. Ihm schien es nicht genug zu sein, dass er mir den Thron genommen hatte. Er wollte meinen Kopf. Auf einem goldenen Tablett. Erst dann würde er Ruhe geben.
Schon als Kind hatte ich geahnt, dass Lionel und ich einst Rivale sein würden. Hakon hatte mir in der Vergangenheit einmal angedeutet, dass ich Lionel besser bei der ersten Gelegenheit vernichten sollte. Allerdings hatte ich auf keinen Fall meinen Bruder töten wollen. Nicht für etwas, das er noch nicht getan hatte. Hätte ich damals das ganze Ausmaß richtig abschätzen können, hätte ich vielleicht – aber nur vielleicht – anders gehandelt. Dieser Mistkerl war immerhin mein Bruder.
Selbst als König hatte ich ihn in meiner Nähe gewollt. Ich hatte darauf gehofft, diejenigen, die nur darauf warteten, dass wir uns gegenseitig bekämpften, zu enttäuschen. Mein Ziel, den Kreislauf des Blutvergießens zu verhindern, hatte ich nie erreicht.
Obwohl ich sanft zur Seite getreten war, damit mein Bruder den Thron haben konnte, statt uns gegenseitig zu bekämpfen, hatte ich nichts gewonnen.
Lionel wollte noch immer Krieg. Dabei war es das, was ich verhindern wollte. Die Menschen sollten nicht mit hineingezogen werden. Ich wollte nicht, dass sie Leid und Tod erfahren mussten.
Wäre mein Bruder jemand anderes, hätte ich vielleicht kleinbeigeben und mich geopfert, doch ich wusste, dass Lionel seine Macht missbrauchte und das Land in den Ruin stürzen würde. Bei ihm würde ich nicht einfach umdrehen und meinen Kopf von meinem Körper trennen lassen.
Es würde weh tun, Hodor brennen zu sehen, aber wenn der Krieg das Einzige war, was die Stadt vor einer Tyrannei rettete, dann musste es so sein.
Ich fuhr mir durch die Haare, bevor ich seufzte. Es wurde Zeit, mich auf den Tag vorzubereiten. Er würde lang und anstrengend werden.
Noch immer in Gedanken trat ich aus dem Zelt und blickte wie selbstverständlich zu dem von Elaine. Was ich sah, ließ mich in der Bewegung innehalten.
In einer Ecke stand eine brennende Kerze, die einen riesigen Schatten in ihr Zelt warf. Elaines Silhouette war deutlich zu sehen. Sie war nackt und ihre Brüste streckten sich auf verführerische Weise aus ihrem Körper.
Ich spürte ein leichtes Zittern, das durch meinen Körper ging und mein Kopf malte sich aus, wie es sich wohl anfühlen würde, diese in meiner Hand zu spüren. Sie waren klein genug, dass ich sie mit meinen Fingern komplett umschließen könnte, aber groß genug, um sich sicherlich gut anzufühlen.
So, wie sie ihre Figur zur Schau stellte, sprach sie meine männliche Seite an. Mir war gar nicht klar gewesen, dass sie gerade dabei war von einem Mädchen zu einer vollwertigen Frau zu werden. Eine überraschend verführerische Frau.
Ich riss mit Mühe meine Augen von dem Zelt los und taumelte aus meinem heraus, aber die Erinnerungen an ihren Körper hatten sich in mein Gehirn eingebrannt. Ich wusste, dass ich ihn sehen würde, sobald ich die Augen schloss.
Frauen. Warum mussten sie es mir immer so schwer machen, sie zu beschützen?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top