Loch Lein
Die Explosion wirkte gar nicht besonders heftig; Chris sah nur einen winzigen gelben Funken, der sofort von einer emporschießenden Staubwolke verschlungen wurde, und Augenblicke später hörte er ein dumpfes, trockenes Krachen, das eher wie ein ferner Gewehrschuss klang als wie die Detonation eines halben Zentners Dynamit. Aber wenige Sekunden danach begann der massive Granit unter seinen Füßen zu zittern und tief aus dem Boden drang ein Echo auf das Grollen der Explosion, ein Laut, der Chris' Ohren fast wie ein Stöhnen klang - als winde sich die Erde unter den Schmerzen, die man ihr zugefügt hatte. Natürlich was das ein reichlich alberner Gedanke, wie Chris sehr wohl wusste - aber er passte durchaus zu seiner momentanen Stimmung. Chris, ein Junge von zwölf Jahren und unter normalen Umständen eher ein lustiger Bursche, der immer zu einem Schabernack aufgelegt war und gerne lachte, war nämlich miserable Laune. Dabei gaben ihm weder das Wetter noch seine Umgebung Anlass dazu. Unter ihm, ein Tal, breitete sich eine malerische Seelandschaft aus und es war ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch: Seit dem frühen Morgen herrschte herrlichster Sonnenschein und der Himmel hatte jetzt, gegen Mittag, einen Farbton angenommen, wie man ihn sonst nur auf kitschigen Postkarten zu sehen bekommt. Chris stellte sich vor, wie schön es jetzt wäre, im Bug von Onkel Johanns Frachtkahn zu liegen und dem Plätschern des Wassers zu lauschen, das am Rumpf entlangströmte, all die verschiedenen Städte und Landschaften und Menschen zu betrachten, die langsam an den Ufern
vorbeizögern, und zwischendurch vielleicht ein bisschen in der Sonne zu dösen... Es war eine wunderbare Vorstellung. Leider sah die Wirklichkeit anders aus. Statt im Bug eines Piratenschiffes zu liegen und gefährliche Abenteuer entegenzusegeln, saß er auf einem langweiligen Felsen in einem langweiligen Land und versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, seine diesjährigen Ferien in Sibirien zu verbringen. In der Verbannung. Im Exil. Hundert Jahre Zwangsarbeit in den Bleimienen. Nun ja, es war vielleicht nicht ganz Sibirien, aber der Unterschied bestand nur im Detail - ob Kamatschsibirks oder Killarney: Chris kam sich vor als befände er sich in der Verbannung. Und darauf hatte er sich nun das ganze Jahr über gefreut! Sechs endlose Monate lang, seit dem ersten Schultag nach den Weihnachtsferien, hatte ihm allein die Vorstellung von dem herrlichen Sommer auf dem Rhein die Kraft gegeben, den täglichen Kleinkrieg mit seinen Lehrern durchzustehen. Wenigstens bis zu dem Augenblick, in dem ihm sein Vater überglücklich eröffnet hatte, dass er seine diesjährigen Ferien in Kallaney verbringen dürfe, statt wie in den vergangenen drei Jahren auf dem Frachtschlepper seines Onkels, der unentwegt rheinauf, rheinab zog; etwas, das vielleicht für sein Onkel und dessen Familie mittlerweile langweilig geworden war, für einen abenteuerlustigen zwölfjährigen Jungen wie Chris aber einfach das Größte. Er hatte sich so sehr auf diese Fahrt Basel- Rotterdam gefreut, zum Teufel noch mal, und dann hatte ihm sein Vater strahlend mitgeteilt, dass er endlich von Firma die Erlaubnis bekommen habe, seine Familie in den Sommerferien mit nach Irland zu nehmen... Chris' ohnehin schlechte Laune sank noch weiter, als er sich den schicksalsschweren Moment ins Gedächtnis zurückrief. Nein - es war einfach nicht fair gewesen! Zumal - und das
war vielleicht das schlimmste überhaupt - er ganz genau gespürt hatte, wie sehr sich sein Vater freute, ihn mit nach Irland nehmen zu können, für geschlagene sechs Wochen und noch dazu fast umsonst. Seine Enttäuschung war so groß gewesen, dass er am liebsten geheult hätte. (Um ehrlich zu sein - er hatte es getan, aber nicht im Beisein seiner Eltern, sondern später, als er allein war und ihn niemand beobachtete.) Für Chris war dieses Gespräch wie eine Verurteilung gewesen: nicht gerade zum Tod, aber doch zu lebenslanger Verbannung an einem unbekannten und sicherlich grässlichen Ort. Eine Verurteilung noch dazu, die ihm völlig ungerechtfertigt erschien, denn er konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, was er dem Schicksal angetan hatte, dass er so unmenschlich mit ihm verfuhr. Ein erster Blick in den Schulatlas hatte seine Meinung noch bestätigt. Killarney - das selbst auf seinem großformatigen Atlas kaum mehr als ein Fliegendreck war - lag sozusagen mitten in der Wüste. Es gab im Umkreis mehrerer Kilometer um den Ort seiner Verbannung keine Stadt, die diesem Namen Ehre machte, und schon gar keinen Fluss, nur diesen dämlichen See und einen Bach, der gerade mit der Lupe erkennbar war und nicht einmal einen Namen hatte. Ein ganzer Sommer ohne Schiff und Wasser? Das war mehr, als er ertragen konnte. Es war die reinste Folter. Er würde sich bei der Menschenrechtskommission in Genf beschweren! Noch bis zum Augenblick ihrer Abreise hatte Chris gehofft, das sein Vater das unmenschliche seiner Entscheidung erkennen und sie wiederrufen würde. Doch nichts war geschehen. Die Zeit verging erbarmungslos und der Scharfrichter erwartete ihn in der Verkleidung eines Eisenbahnschaffners, der mit einem süffisanten lächeln auf seine Karte geblickt und ihn und seine Mutter in ein Anteil bugsiert hatte; und dann ging es nonstop von Düsseldorf über Amsterdam, London, Dublin nach Killarney. Das war vorgestern gewesen. Und Irland hatte seine
schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen. Das Land der Geister, Feen, der Elfen und Zauberer? Ha! Es war das Land der Langeweile! War es da ein Wunder, wenn er jetzt mit einem Gesicht wie drei Tage - ach was, drei Tage, drei Jahre! - Regenwetter auf diesem blöden Felsen hockte und sich auszurechnen versuchte, wie viele Stunden die Ferien hatten; auch wenn sich unter ihm eine Landschaft ausbreitete, die in jeden Karl-May-Roman gepasst hätte. Chris überlegte, dass ein Abenteuer mit ein paar wilden Komantschen oder Haddedihn eine nette Abwechslung gewesen wäre. Aber dann dachte er daran, dass er in der Schule gelernt hätte, dass auch diese Stämme mittlerweile ziviliert worden waren; Abenteuer kamen eben höchstens noch in Büchern vor und mit Sicherheit nicht in Killarney. Chris war überzeugt, dass zumindest seine Mutter ganz genau gewusst hatte, wie wenig ihn die Vorstellung eines sechswöchigen Urlaubs in Irland freute, und er rechnete damit, dass seine Eltern im nächste Jahr alles wieder gut machen würden. Aber der Gedanke an das nächste Jahr tröstete ihn wenig. Nächstes Jahr war weit und jetzt war dieses Jahr; und dieses Jahr war er in Killarney, Sibirien, Abteilung unschuldig verurteilt. Chris rutschte auf dem Stein, den er sich als Sitzplatz auserkoren hatte, in eine etwas bequemere Stellung und griff in die Tüte mit Gummibärchen, aus der sich während der letzten halbe Stunde bedient hatte. Sie war leer. Seine tastenden Finger trafen nur auf zerknitterten Kunststoff und einen kleinen klebrigen Krümel, der sich bei näherem Hinsehen als das rechte Ohr eines malvenfarbenen Fruchtgummi-Bärchens erwies. Chris schluckte das Gummiohr hinunter, knüllte die Tüte achtlos zusammen und war sie hinter sich; zu der zusammengequetschten Cola-Dose und einem zerlesenen HeMan-Comic, dem einzig lesbaren, das sich im Kolonialwarenladen mangelden Sprachkenntnisse lag, denn Chris' Englisch
war ganz passabel. Aber das Ding war todlangweilig, so wie dieses ganze Kaff; er hatte zweimal durchgeblättert und dann weggeworfen. Aus dem Tal klang ein leiser Sirenenton zu Chris hinauf und er beugte sich angespannt vor. Die Sprengungen dort unten waren das einzig halbwegs interessante an dieser Hochburg der Langeweile, und auch wenn Chris sie nur aus – seiner Meinung nach – übertrieben sicherer Entfernung beobachten durfte, saß er jetzt schon den halben Morgen hier und sah zu, wie sich die schweren Baumaschinen Stück für Stück in den Berg fraßen, nachdem sein Vater (und bei diesem Gedanken überkam ihn Stolz) die Dynamitladungen gelegt und die größten Hindernisse damit zu kleinen Felskrümeln verarbeitet hatte. Zum zweiten mal erscholl der Warnton und dreißig Sekunden später blitzte es unten am Seeufer wieder grell auf, als eine halbe Tonne Dynamit einen Teil des Berges zerpulverte, der sich unverschämterweise der geplanten Straße in den Weg gelegt hatte. Chris bedauerte es, nicht mehr erkennen zu können, als dort unten ein Felsbrocken von der Größe eines Einfamilienhauses auseinander barst. Morgen – Verbot hin oder her – würde er näher herangehen. Schließlich war er nicht irgendwer, sondern der Sohn des Sprengmeisters. Chris war so vertieft in den Anblick des zusammenbrechenden Bergstückes, dass er nicht hörte, wie sich leise Schritte seinem Aussichtsposten näherten. Erst als ein Schatten über ihn fiel, fuhr er hoch und blickte erschrocken ins Gesicht eines vielleicht vierzehnjährigen Jungen, der wie aus dein Boden gewachsen hinter ihm stand. „He!“, sagte er ärgerlich. „Was schleichst du dich hier an?“ Ihm fiel erst mit einiger Verspätung ein, dass er andere mit großer Wahrscheinlichkeit Ire war und wohl kaum verstand, was er gesagt hatte. Abrupt stand er auf, baute sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten vor dem anderen auf und musterte ihn herausfordernd. Er war schlecht gelaunt und dieser rothaarige, pickelgesichtige Kerl – der zwar einen Kopf größer
war als er, aber so dürr, dass er eigendlich bei der ersten unvorsichtigen Bewegung in der Mitte hätte auseinander brechen müssen – kam ihn gerade Recht um als Sündenbock zu dienen. „Ich hab dich was gefragt!“, knurrte Chris herausfordernd und fügte dann auf Englisch hinzu: „I have asked you Something!“ In den Augen des rothaarigen blitzte es ärgerlich auf, aber Chris begriff auch im gleichen Moment, dass sein Ärger nicht etwa Chris’ Worten galt. Der Junge drehte sich wütend herum, deutete heftig gestikulierend auf die Cola-Dose, den Comic und die zerissene Plastiktüte herab und sagte etwa in einer fremden Sprache – vielleicht irisch? –, das Chris nicht verstand. Aber er verstand durchaus die Bedeutung der Geste und auch den Tonfall, in dem der Rothaarige sprach. „Ach, du meinst, ich soll das wegtun, wie?“, fragte er. Die Vorstellung schürte seinen Zorn noch. Bildete sich dieser Kerl etwa ein, er wäre bei der Müllabfuhr? „Fällt mir ja nicht im Traum ein“, sagte er grinsend. „Wenn’s dich stört dann räum’s doch weg. Oder lass es liegen – das gibt dieser öden Gegend wenigstens ein bisschen Farbe.“
Mit einem neuerlichen Grinsen drehte er sich herum und wollte einfach an dem Rothaarigen vorbeigehen, aber der Junge packte ihn plötzlich am Arm und riss ihn mit erstaunlicher Kraft zurück. Und als Chris diesmal in seine Augen sah, erkannte er nicht nur Ärger darin, sondern puren Zorn. „Was soll das?“, fragte er aufgebracht. „Du spinnst wohl!“ Chris riss seinen Arm mit einem Ruck los und versetzte dem Rothaarigen mit der anderen Hand einen Stoß, der ihn so überraschend traf, dass er zurück taumelte und mit wild rudernden Armen auf den Hosenboden fiel. Chris grinste schadenfroh. „Du musst dich nur melden, wenn du Ärger willst“, sagte er. Aber der andere wollte nicht. Er blickte Chris fassungslos an, schüttelte ein paar mal den Kopf und rappelte sich mühsam auf.
Und dann tat er etwas, was Chris völlig überraschte – er ging nämlich weder auf ihn los, noch suchte er sein Heil in der Flucht, sondern bückte sich rasch und hob den zerfledderten Comic, die Gummibärchentüte und die Blechdose auf. Ein letztes mal drehte er sich noch zu Chris um, sah ihn vorwurfsvoll an und verschwand mit einem einzigen Schritt im Unterholz. Chris starrte ihm mit offenen Mund nach. Plötzlich kam er sich schäbig vor, so grob auf diesen Jungen losgegangen zu sein, den er vor fünf Minuten noch nicht einmal gekannt hatte. Und der – was schlimmste war – sich eindeutig im Recht befand. Es war ja wirklich nicht die feine Art, seine Abfälle einfach in den Wald zu werfen und vermutlich hätte Chris sowieso aufgesammelt, bevor er gegangen wäre. Aber der Bursche war im falschesten aller nur möglichen Momente aufgetaucht. „He!“, rief er. „Warte doch mal. Ich hab es nicht so gemeint!“
Aber selbst wenn der Junge ihn gehört haben sollte, so reagierte er nicht darauf. Einen Moment lang hörte Chris noch seine Schritte auf dem Waldboden, dann war er so spurlos verschwunden, als hätten die Schatten verschluckt. Kopfschüttelnd sah Chris ihm nach. Eine halbe Minute lang überlegte er, ob er ihm nachgehen und sich bei ihm entschuldigen sollte, tat er dann aber nicht. Vielleicht war der Bursche rachsüchtiger, als er annahm, und er kannte sich im Wald garantiert besser aus als Chris. Und außerdem hatten ihn seine Eltern eindringlich gewarnt, allein in den Wald oder gar ins Moor zu gehen. Die Gegend um Killarney war nicht ganz so gefährlich, wie ihr malerisches Aussehen glauben machen wollte. Es gab tückische Moore, in die schon mehr als ein Fremder hineingegangen war, ohne jemals wieder herauszukommen. Aus dem Tal wehte der Donner einer dritten Explosion herauf und Chris drehte sich wieder herum. Aber der Anblick faszinierte ihn plötzlich gar nicht mehr so sehr wie noch vor
Minuten. Es war, als hätte seine Begegnung mit dem Rothaarigen einen schlechten Nachgeschmack zurückgelassen, der ihm nun auch noch dem Spaß an dieser ohnehin bescheidenen Abwechslung vergällte. Einen Moment lang sah er der allmählich auseinander treibende Staubwolke der Detonation noch zu, dann wandte er sich achselzuckend um und machte sich auf dem Rückweg. Es wurde ohnehin Zeit. In der kleinen Pension, in der er und seine Eltern untergebracht waren, wurde pünktlich gegessen und ihre Wirtin – sonst ein herzensguter Mensch – war in dieser Beziehung unbarmherzig. Wer zu spät kam, musste sich mit dem begnügen, was übrig blieb, und das war im allgemeinen gar nichts. Trotzdem wählte er nicht den Weg über den Hügel, auf dem er gekommen war, sondern ging den Hang hinunter und am See entlang, obwohl dies einen Umweg von sicherlich zwei Kilometern bedeutet. Aber zum einen war er diese Strecke bisher noch nicht gegangen und zum anderen – auch wenn er den Gedanken nicht ganz wahrhaben wollte – war die Gefahr hier geringer, noch einmal auf den Rothaarigen zu treffen. Loch Lein war nicht besonders groß, aber wie viele der irischen Hochlandseen sehr tief und sehr kalt. Sein Wasser war kristallklar, wirkte aber sonderbarerweise fast schwarz und er lag so ruhig da wie ein Spiegel aus geschmolzenem Pech. Chris konnte den eisigen Hauch, der von der Wasseroberfläche aufstieg, deutlich spüren, während er langsam am Ufer entlangging, und er fragte sich, welche Geheimnisse die unergründlichen Tiefen dieses See wohl bergen mochten. Ein paar verrostete Autowracks und ein Dutzend Mopeds, die von ihren Besitzern als gestohlen gemeldet worden waren, und wahrscheinlich etliche tausend leere Coca-Cola- und Bierdosen, dachte er spöttisch. Und wenn nicht jetzt, dann in naher Zukunft, spätentes dann, wenn die Autobahn fertig war, deren Trasse sein Vater und seine Kollegen gerade in den Berg auf der anderen Seite sprengten, und jedes Jahr eine Million Autofahrer das Seeufer zu einem Picknick nutzen
würden. Aber das war eben der Preis des Fortschritts, dachte er. Immerhin würde die Straße Killarney auch schlagartig aus der Jungsteinzeit in die Gegenwart katapultieren. Und wenn es nach Chris ging, auch gleich auf dem Mond. Miesgelaunt blieb er stehen, hob einen Stein auf und warf ihn auf den See hinaus. Es war ein guter Wurf – der Stein segelte in einem flachen Boden über das Wasser, sprang drei-, vier-, fünfmal ab und ging schließlich nach einer weiteren Anzahl kleinerer, nicht mehr nennenswerter Hüpfer unter. Eine Reihe flacher Wellenkreise breitete sich rasch auf der schwarzen Wasseroberfläche aus – und für einen kurzen Augenblick zerriss der finstere Schleier, der über das Wasser lag, und Chris konnte sehen, was sich darunter verbarg. Es ging so schnell, dass Chris hinterher nicht sicher war, ob er sich nicht alles nur eingebildet hatte, aber in diesem Augenblick sah er alles beinahe magischer Dunkelheit:
Eine Stadt.
Eine uralte, mächtige Stadt mit gewaltigen steinernen Wällen und trutzigen Türmen. Wuchtige Häuser, aus grauem Granit erbaut, und breite, gepflasterte Straßen, auf denen Menschen in schimmernder Kleidung bewegten. Dann glätteten sich die Wellen und das Bild verschwand so rasch, wie es gekommen war. Das Wasser war wieder glatt und ruhig und schwarz. Chris starrte aus weit aufgerissenen Augen auf den See hinaus. Es war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, etwas anderes zu empfinden als Staunen und mit Schrecken vermischten Unglauben. Aber das war doch unmöglich! Es ging mehr als eine Minute, ehe er die Kraft fand, sich wieder zu bücken und einen weiteren Stein dem ersten hinterherzuwerfen. Er war nervös und der Wurf war schlecht gezielt; der Stein sprang nur zweimal in die Höhe, ehe er versank. Aber er war auch größer gewesen als der erste und entsprechend größer waren die Welle, die er schlug.
Chris starrte angestrengt auf den See hinaus. Aber er sah nichts. Nur Schwärze, die wie ein undurchdringlicher Vorhang über dem Wasser lag. Und da gab es auch nichts zu sehen, dachte er, ganz plötzlich zornig auf sich selbst. Unter dem dunklen Wasser war nichts als noch mehr dunkles Wasser, keine versunkene Stadt und erst recht kein in Gold und Silber gekleideter Mensch. Er fantasierte! Seine Isolationshaft hier in Killarney hatte bereits bedenkliche Auswirkungen auf seinen Geisteszustand. Noch ein paar Tage hier, und sein Vater würde seinen einzigen Sohn in der Klappsmühle besuchen können, als Ergebnis seiner grandiosen Idee, ihn die großen Ferien auf der Rückseite des Mondes verbringen zu lassen. Er hatte ja jetzt schon Halluzinationen; stand am helllichten Tag da und starrte sich die Augen aus dem Kopf, um eine versunkene Stadt zu entdecken, die es nicht gab. Chris war nur froh, dass er allein war und niemand sehen konnte, wie er sich selbst zum Narren machte. Und als wäre dieser Gedanke ein Auslöser gewesen, spürte er plötzlich, dass er nicht mehr allein war. Er wusste es, obwohl er weder ein Geräusch gehört noch irgendetwas gesehen hatte. Erschrocken fuhr er herum, darauf gefasst sich dem Rothaarigen gegenüberzustehen, der ihm vielleicht heimlich nachgeschlichen war, um sich zu revanchieren. Aber hinter ihm war niemand. Der Waldrand war fünf Schritte entfernt und so dicht wie eine schwarz und grün gefleckte Wand. Nicht einmal Winnetou hätte sich durch dieses Unterholz schleichen können, ohne ein verräterischen Geräusch zu verursachen. Verblüfft sah Chris erst nach rechts und dann nach links, ehe er auf die Idee kam, den Blick zu senken. Und diesmal konnte er einen erschrockenen Aufschrei nicht mehr unterdrücken. Sein Herz begann bis zum Hals hinauf zu schlagen, während er auf das Wesen herrabstarrte, das zwei Schritte vor ihm stand und seinen Blick aus kleinen, tückischen Augen erwiderte. Es war einen knappen Meter groß und sah aus, als hätte
jemand ein paar Pfund Lehm, trockene Äste und eine Hand voll Baumrinde genommen und versucht, die Karikatur eines Menschen daraus zu formen. Jemand mit nicht sehr viel Talent für diese Aufgabe. Seine Glieder waren lächerlich dürr und hatten ein paar Gelenke zu viel (ebenso, wie seine Hände und Füße entschieden zu viele Finger und Zehen aufwiesen!) und sein Körper war spärlich mit schwarzem, drahtigem Haar bewachsen. Dafür war der Kopf viel zu groß für den Rest der Erscheinung und außerdem zu flach und zu breit. Eine breitgeschlagen wirkende Nase, ein viel zu großer Mund mit wulsigen Lippen und ein paar kümmerlichen Haarbüschel, die zwischen den riesigen Spitzohren emporwucherten, vervollständigten den lächerlichen Eindruck. Und trotzdem wirkte der Gnom nicht im Mindesten komisch, dachte Chris verstört. Ganz im Gegenteil. Aus seinen Augen strahlte abgundtiefe Bosheit. Dieser kleine Kobold hätte ihn mit Freuden ins Wasser gestoßen oder ihm noch schlimmeres angetan, hätte er ihn nicht im letzten Augenblick bemerkt. Chris wich einen Schritt vor der Gestalt zurück. Seine Bewegung löste auch die Erstarrung des Zwerges. Seine Lippen verzerrten sich zu einem hinterlistigen Grinsen. Er hob die Arme, formte die Hände zu Krallen, machte seinerseits einen Schritt auf Chris zu – und streckte ihm eine lange, warzenbesetzte Zunge heraus! Dann fuhr er herum und verschwand mit unbeholfen wirkende, aber sehr schnellen Schritten im Unterholz. In das Brechen der dürren Zweige mischte sich etwas, das wie ein gehässiges Lachen klang. Chris starrte in die Richtung, in der der Kobold verschwunden war. Jetzt fragte er sich allen Ernstes, ob er nicht wirklich den Verstand verloren hatte. Vielleicht erlebte er dies alles gar nicht. Vielleicht hatte der Rothaarige doch zurückgeschlagen in er lag in Wirklichkeit auf der Intensivstation eines Krankenhauses und fantasierte sich dies alles nur zusammen. Zögernd löste er sich aus seiner Erstarrung, machte einen
Schritt auf den Waldrand zu und ließ sich in die Hocke sinken. Er hatte nicht fantasiert. Wenn der Zwerg eine Halluzinationen gewesen war, dachte er, dann die realistischte, von der er je gehört hatte. Chris blieb noch lange reglos in der Hocke sitzen und starrte auf die Spuren kleiner, achtzehiger Füße, die im lockeren Sand zurückgeblieben waren.
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