7
"Und jetzt begrüßen Sie bitte mit mir Maia Evans!"
Will griff nach meiner Hand und sah mich lächelnd an. In seinen Augen war der Stolz, der auch mich erfüllte, deutlich zu sehen. Heute war ihr großer Tag und wir beiden waren einfach nur beeindruckt und stolz, wie viel Energie Maia in die Vorbereitungen für diesen Auftritt gesteckt hatte. Mit ihren sechs Jahren hatte sie das Ganze grandios gemeistert und sich von nichts durcheinander bringen lassen. Die ganze Woche war sie schon aufgeregt gewesen und hatte uns damit angesteckt. Meine Hände zitterten und mein Herz raste, während wir alle darauf warteten, dass Maia auf die Bühne kam. Als einige Minuten verstrichen und der Moderator sie noch einmal ansagte, warf ich Will einen besorgten Blick zu. Was war bloß los? Der Mann sah sich hektisch um, denn das Publikum wurde unruhig. "Es gibt einige Probleme bei der Vorbereitung für dieses Stück, deshalb machen wir jetzt mit Amanda Willkes weiter!"
Will lehnte sich zu mir herunter, die Stirn in Falten gelegt. "Was soll das?", fragte er flüsternd. Ich zuckte die Schulter. Ich hatte keine Ahnung , wo meine Schwester war und was hier eigentlich los war. "Lass uns nachschauen." Ich folgte Will aus dem Saal. Meine Gedanken spielten verrückt. Ob Maia sich wohl was getan hatte? Ich befürchtete das Schlimmste und konnte nicht ignorieren, dass ich nervös und angespannt wurde. Hoffentlich war alles in Ordnung mit ihr. Wenn sie sich verletzt hatte... Außerdem hatte sie sich so sehr auf diesen Auftritt gefreut, wenn sie jetzt nicht auf die Bühne konnte, würde es ihr das Herz zerbrechen.
"Madame Pissini!" Die fragile Dame drehte sich zu uns um. In ihrem Gesicht war die Hektik und Sorge deutlich zu sehen, was nicht gerade dazu beitrug mich zu beruhigen. Aus ihrem sonst so ordentlichen Dutt hatten sich bereits einige Strähnen gelöst, ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie sich mit der ganzen Organisation ein wenig zu überschätzt hatte. Aber wer konnte es ihr verübeln? Es war der erste öffentliche Auftritt der Balletschule und sie wollte, dass alles perfekt war.
"Madame Pissini, wo ist Maia?" Es war Will der sprach, ich war viel zu besorgt, um überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen.
Madame Pissini gestikulierte wild mit den Armen, während sie sprach. "Weg! Sie ist einfach weg!"
Ich sah Will an und ohne dass ich etwas sagen musste, zog er mich an sich. "Haben Sie schon nach ihr gesucht?"
"Natürlich, was denken Sie denn,was wir die ganze Zeit tun? Das Kind ist wie vom Erdboden verschluckt!"
Ich musste an einen Anruf vor einigen Wochen denken. Madame Pissini hatte mich aufgeregt angerufen und behauptet, dass Maia wie vom Erdboden verschluckt gewesen wäre. Doch noch während sie mit mir gesprochen hatte, tauchte Maia wieder auf. Als ich sie darauf angesprochen hatte, war ihre Antwort gewesen: 'Ich war nicht verschwunden, Lily. Ich war bloß auf dem Dachboden, dort oben gibt es ein riesiges Fenster und immer wenn ich hinaus schaue, habe ich das Gefühl zu fliegen.'
"Ich denke, ich weiß, wo sie ist. Wie komme ich auf den Dachboden?"
Madame Pissini sah mich verblüfft an, aber dann deutete sie mit dem Arm auf eine Treppe hinter mir. "Da hoch."
Ich griff nach Wills Hand und zog ihn hinter mir her. Mein Herz klopfte, hoffentlich war sie dort oben. Wenn nicht, könnte ich es mir nie verzeihen, wenn ihr etwas zugestoßen war. Seit Mum und Dad vor drei Jahren bei diesem Flugzeugabsturz gestorben waren... Ich schluckte die Tränen, die bei der Erinnerung daran hochkamen, herunter und klammerte mich einzig und allein an die Hoffnung, dass Maia dort oben war.
"Lily, langsamer!"
Ich schüttelte den Kopf und zog ihn einfach weiter. Ich musste mich davon überzeugen, dass Mia dort oben war. Und zwar sofort.
Die alte Holztür zum Dachboden stand offen und so verspürte ich augenblicklich Erleichterung, als ich meine kleine Schwester am Fenster entdecken konnte. Sie trug bereits ihre Kleidung für die Bühne und sah bezaubernd aus, doch als ich näher an sie heran trat, bemerkte ich den traurigen Ausdruck in ihren Augen. Sie starrte hinunter und wirkte unglaublich verloren vor dem riesigen Fenster.
Ich kniete mich vor ihr auf den Boden, um auf gleicher Augenhöhe zu sein wie sie, und griff nach ihrer Hand. "Was ist los Maia?" Sie hob den Blick nicht, aber ich spürte, dass sie meine Hand fest drückte. Will setzte sich neben sie, griff nach ihren dünnen Beinen und legte sie auf seinen Schoss. Daraufhin warf sie ihm einen kurzen Blick zu, doch dann blickte sie schnell wieder weg.
"Hörst du das Lily? Ich glaube,hier klingelt ein Telefon." Will runzelte die Stirn, während er sich suchend umsah, nur um schließlich nach Maias Fuß zugreifen. Er hielt sich ihren Fuß ans Ohr und sprach. "Hallo? Ist da jemand?" Ich musste lächeln und als ich zu Maia sah, stellte ich fest, dass auch ihre Mundwinkel sich gehoben hatten.
Die beiden hatten eine ganz besondere Bindung zueinander und so war es manchmal gar nicht nötig, zu versuchen etwas aus Maia herauszukriegen, es reichte sie mit Will zusammen zu bringen... Sie war erst drei Jahre alt gewesen, als Mum und Dad von uns gegangen waren und seitdem hatte sie Will beinahe jeden Tage gesehen. Manchmal schien es, als wäre er der Einzige, der ihr ein Lächeln entlocken konnte. Er war ihr bester Freund geworden und da spielte es auch keine Rolle, dass er fast dreimal so alt war wie sie.
"Hmm..." Er zog ihren Fuß zurück und starrte verwirrt auf die Fußsohle. "Komisch, keiner spricht. Ich glaube, da muss ich ein wenig nachhelfen." Maia hob neugierig ihren Kopf, doch im nächsten Moment strampelte sie wie wild mit den Beinen. Will hatte begonnen sie unter dem Fuß zu kitzeln. "Ah, endlich höre ich etwas. Hörst du das auch Lily?"
Ich nickte grinsend mit dem Kopf und legte meine Hände an Maias Bauch, um sie auch dort zu kitzeln. Sie lachte beherzt, während sie versuchte unsere Hände loszuwerden. "Hört auf, bitte hört auf!"
"Wenn du uns versprichst, danach nicht wieder so traurig zu schauen?"
"Versprochen, Lily! Versprochen! Aber bitte hört auf!"
Wir ließen sie los, allerdings beide mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Maia nutzte die Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. Nach einigen Minuten verschränkte sie allerdings die Arme vor der Brust und sah uns beide böse an. "Ihr seid blöd", meinte sie , doch das amüsierte Funkeln in ihren Augen strafte sie lügen. Will hob drohend die Hände und wackelte mit den Fingern, woraufhin sie sich in die Ecke drückte und abwehrend die Arme ausstreckte. "Nein, nein! Das war nur Spaß!"
Ich lächelte und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, aber dann wurde ich ernst. Wir hatten noch nicht geklärt, warum sie hier oben war. "Maia, was ist passiert?"
Sie seufzte schwer und mied es uns anzusehen. "Ich habe Angst auf die Bühne zu gehen. Es sind so viele Menschen da und..." Maia schloss verzweifelt die Augen, während ich Will einen kurzen Blick zu warf. Er zwinkerte mir aufmunternd zu und zog Maia an sich.
"Weißt du Süße..." Ich tätschelte ihr Bein. "Diese Menschen sind nur gekommen, um dich und deine Freunde zu sehen. Ihr habt so viel Arbeit in die Proben gesteckt, willst du jetzt wirklich einfach alles hinschmeißen? "
"Ja", murmelte sie.
"Sicher? Ich glaube nämlich, dass du jetzt am liebsten dort unten wärst. Auf der Bühne. Ich kann verstehen, dass du Angst hast, aber Mum und Dad haben stets gesagt, dass man seine Ängste überwinden muss. Dass man mutig sein muss. Ich weiß, dass du mutig bist und deshalb solltest du jetzt dort unten auf der Bühne stehen und-"
Maia sah mich an. "Mum und Dad sind tot, Lily. Sie sind nicht hier."
Einen Moment musste ich mit den Tränen kämpfen. Es zerriss mir das Herz, Maia so von unseren Eltern reden zu hören, aber ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Es gelang mir nicht, ich spürte bereits die heißen Spuren der Tränen auf meinen Wangen. "Das ist nicht wahr, Maia." Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber dennoch versuchte ich ihr all die Überzeugung zu zeigen, die ich aufbringen konnte. "Sie sind immer bei uns und zwar genau hier..." Ich legte mir die Hand aufs Herz und sah meine kleine Schwester an. "Und sie wären unglaublich stolz, wenn sie sehen könnten, was für ein tolles Mädchen ihre kleine Maia geworden ist."
Das war der Moment, in dem wir beide in Tränen ausbrachen. Maia sprach nicht über unsere Eltern. Und jetzt, nachdem wir so lange geschwiegen hatten, fühlte es sich unglaublich erleichternd an einfach zusammen die Trauer und den Schmerz zuzulassen.... ich spürte, dass Will uns beide in die Arme schloss und genoss das Gefühl der Nähe und Geborgenheit, das er uns damit schenkte.
"Eure Eltern wären stolz auf euch beide."
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und lächelte ihn dankbar an. Maia schluchzte noch immer, deshalb legte ich meine Hand an ihre Wange und spendete ihr Trost. "Geh da runter und mach Mum und Dad stolz, Maia."
Sie versuchte zu lächeln, aber auch wenn es bloß ein schwaches Lächeln war, erwärmte es mir das Herz. Den Blick auf die Tür gerichtet, stand sie auf und richtete ihre Klamotten.
"Lasst uns gehen."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top