9 | Bitte mach die Augen auf
| 𓆃 Jonah 𓆃 |
Die letzten Momente meines Lebens waren die, über die ich am wenigsten gern und dennoch am öftesten nachdachte.
Eigentlich würde ich gerne darüber nachdenken, wie meine Klasse mich zum ersten Mal zum Klassensprecher ernannt hatte. Wie ich meinen ersten Kuss auf einer Klassenfahrt am See erlebt hatte. Wie ich mit meinen Eltern für unsere regelmäßigen Filmabende Popcorn machte. Wie mir mein Bruder das Fahrradfahren beigebracht hatte. Wie ich mit meinen Freunden in den letzten Sommerferien in Amsterdam campen gewesen war und wie wir den Glühwürmchen in der Dunkelheit fasziniert mit unserem Blick gefolgt waren. Es gab tausend schöne Erinnerungen in meinem Leben.
Doch jedes Mal, wenn ich aufwachte, sah ich das Gesicht meines toten Bruders vor meinen Augen. Zumindest hatte ich in eben diesem Moment fest geglaubt, dass er tot sei. Dass mein Bruder vor mir gestorben sei. Sein gesamtes Gesicht war blutüberströmt und der Kopf unheimlich erschreckend in meine Richtung gedreht gewesen.
Ich erinnerte mich an verschwommene letzte Augenblicke und an dumpfen Schmerz. Ich spürte noch heute, wie ich verzweifelt den Mund öffnen und Clyde zu sagen versuchte. Clyde. Bitte mach die Augen auf.
An diese Momente dachte ich meistens, sobald ich aufwachte. Ich hatte keine Ahnung, warum. Vor dem Aufwachen hatte ich stets schöne Träume. Wir Engel waren mit einem traumhaften Schlaf gesegnet. Doch sobald ich wach und bei Bewusstsein war, konnte ich diese Bilder nicht loswerden.
Mittlerweile war es glücklicherweise schon besser geworden als vor drei Monaten, wo ich ständig über mein vergangenes menschliches Leben hatte nachdenken müssen. Besonders hatte ich an meine Eltern gedacht, die ich schon kurz nach meinem Tod hatte besuchen können. Auch deren Anblick hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt. Wie sie an unseren Betten geweint und gebetet hatten.
Erst zu diesem Zeitpunkt war mir aufgefallen, dass ich überhaupt noch nicht vollständig tot war. Und dass auch mein Bruder Clyde noch im Koma lag.
Es war furchtbar gewesen, meine Eltern so verzweifelt an meinem Krankenbett zu sehen. Bei jedem Besuch war es schlimmer geworden. Ich hatte den Stecker ziehen wollen, die lebenserhaltenden Maßnahmen unterbrechen wollen, um meine Eltern endlich von ihrem Leid zu erlösen. Damit sie loslassen und neu beginnen könnten. Aber die Prinzipien der Engelsgemeinschaft verboten mir, dies zu tun. Und deshalb tat ich es auch nicht. Selbst bis heute nicht.
Ich war auch nicht versessen von dem Gedanken, dass ich doch noch aufwachen und mein menschliches Leben zurückhaben könnte. Ich war dankbar für das Leben, welches ich gehabt hatte und ich bereute auch nichts. Ich hatte das beste aus der Zeit gemacht, die ich gehabt hatte. Eigentlich hatte ich meine Mitmenschen immer wissen lassen, wie viel sie mir bedeuteten. Ich hatte möglichst fair und überlegt gehandelt und sorgfältig abgewogene Entscheidungen getroffen.
Ganz im Gegensatz zu Clyde.
Es war nicht so, als ob ich meinen Bruder gehasst hätte. Eher hatte ich gehasst, wie er mit unseren Eltern umgegangen war. Gehasst, wie egoistisch er war und alles auf sich selbst bezog.
Und selbst nach seinem Tod war er noch immer genau gleich.
Vor einigen Tagen hatten wir von Informanten erfahren, dass mein dämonischer Bruder Clyde die Menschenwelt betreten hatte. Dass er sich auf der Suche nach einer Person befand, welche seinen Platz in der Hölle einnehmen würde.
Das war einfach typisch Clyde. Hauptsache, er müsste nicht mehr in der Hölle schmoren. Nicht mehr für seine eigenen Taten leiden und zusätzlich auch noch jemand anders für seine eigenen Taten leiden lassen.
Natürlich wurde ich ebenfalls dem Auftrag zugeteilt, das zu verhindern. Ich kannte meinen Bruder zumindest besser als die anderen Engel und könnte somit von großer Hilfe sein.
Also hatte ich erfahren, dass es irgendeine Möglichkeit gab, seinen Platz in der Hölle von einer anderen Person ersetzen zu lassen. Und ausgerechnet wer war dafür ausgewählt worden? Ich hatte es kaum glauben können, als ich das Bild gesehen und den Namen gehört hatte.
Emilia May. In meinem Kopf gab es zwei ganz ausschlaggebende Bilder, wenn ich an Emilia dachte. Eines, wo sie lachend mit ihrer besten Freundin durch die Schulgänge lief. Und das zweite, wo sie mit dem Blick auf den Boden gerichtet alleine über die Schulgänge eilte, um irgendwohin zu verschwinden.
Das erste Bild war sicher schon acht Jahre her. Das zweite Bild hatte sich vor etwa vier Jahren entwickelt und war auch bis zum heutigen Tage auf Emilia zutreffend.
"Jonah!", rief jemand hinter mir.
Seit ich aufgestanden war, war ich gedankenverloren herumgelaufen. Ich entschuldigte mich bei dem Aufseher, dessen Hörner nicht mehr lange brauchten würden, um perfekt kreisförmig zusammenzuwachsen. Dieser Kreis war das Ziel von allen hier und abgesehen von unseren Moralvorstellungen der Grund, warum hier niemand die Regeln brach. Ich riss meinen Blick von seinen Hörnern los und versicherte ihm, mich jetzt zu den Anderen zu begeben, was ich auch ohne weitere Umwege tat. Ich begrüßte die anderen Engel knapp, woraufhin wir unsere Flügel spannten und uns von der Plattform fallen ließen. Wind schlug mir ins Gesicht und wehte mir die lang gewordenen, blonden Locken um die Ohren.
Ich hörte die Stimmen der Anderen in meinem Kopf und versuchte, mich zu konzentrieren. Gespräche und Schlachtpläne in seinem Kopf zu führen war noch immer ein wenig ungewohnt für mich. Aber es hatte so seine Vorteile. Zum Beispiel, sich nicht die Seele aus dem Leib brüllen zu müssen, wenn man einander hier oben bei diesem Wind verstehen wollte.
Damals war ich überzeugt gewesen, dass Clydes Plan in Kürze vereitelt werden würde. Immerhin hatten wie die Information erhalten, dass Emilia May mit den Daten ihrer Kreditkarte einen Flug nach Bonn gebucht hatte. Aber dann waren die beiden nirgendwo auf dem Flughafen zu finden gewesen. Auch nicht in den unzähligen Flugzeugen, die wir durchsucht hatten.
Die beiden waren einfach wie vom Erdboden verschluckt. Obwohl wir so viele Engel für diesen Auftrag entbehrten, die Tag und Nacht nach dem Dämon und seiner Geisel suchten. Wie hatte Clyde das angestellt? Ich bezweifelte, dass er sich bloß eine Kopfbedeckung aufgesetzt hatte und nun einfach unter unserer Nase wegspazierte.
Egal. Wir wussten, wo er mit Emilia hinwollte. Dann würden wir ihn halt spätestens beim vulkanischen System in der Eifel abfangen. Ewig konnte er uns nicht entkommen.
Wir lösten unsere Formation und verteilten uns, um einen möglichst breiten Bereich abzudecken. Wir überprüften sämtliche Routen zu dem Ziel der beiden.
Nachdem ich bereits ein ganzes Stück lang über die Autobahn geflogen war, bog ich ins nächste kleine Städtchen ab und flog über den ruhigen Straßen entlang. In der Ferne entdeckte ich einen Park mit einem See und flog näher. Ich lächelte, als ich daran denken musste, wie ich in meiner Kindheit mit meinen Eltern in den Spielplatz im Park gegangen war.
Clyde, der ein Jahr älter als ich gewesen war, war jedes Mal schon vorgelaufen, um als erster ganz hoch oben auf dem Klettergerüst zu stehen. Mein Vater hatte immer unten am Gerüst gestanden und aufgepasst, dass ich den ersten schwierigen Schritt schaffte.
Im Sommer waren wir zusätzlich oft um den See gelaufen, um zu sehen, ob endlich Entenküken geschlüpft waren. Als Kind war alles faszinierend gewesen. Selbst der noch so gewöhnlich erscheinende Stein am Wegesrand oder jedes noch so kleine Tier.
Wie oft hatte ich mich an diese Tage im Park zurückgewünscht. Als meine Familie noch glücklich gewesen war. Bevor Clyde und ich mit den Schwierigkeiten des Lebens konfrontiert worden waren.
Ich erwischte mich, wie ich mit den Augen den See absuchte. Wahrscheinlich eine Gewohnheit aus alten Tagen, um als erster eine Ente zu entdecken. Mein Blick fiel zu einer Eiche in der Nähe des Sees. Aus einem Instinkt heraus flog ich näher, jedoch nur, um kurz darauf wie erstarrt stehen zu bleiben.
Das waren sie. Mit Blick in die Baumkrone auf der grünen Wiese liegend. Zwei Gestalten, von denen eine zwei schwarze Hörner auf dem Kopf hatte. Er trug Kleidung und Schuhe und sein Gesicht und seine Flügel waren kaum zu sehen. Er war größer, als es ein normaler Mensch war.
Mein Bruder Clyde. Der bei seinem letzten Anblick blutüberströmt gewesen war. Der sterbend neben mir in einem Autowrack lag.
Clyde. Bitte mach die Augen auf.
Mein Brustkorb schnürte sich zusammen. Das hier war tatsächlich Clyde in der Gestalt eines Dämons. Ich hatte mein Ziel, die beiden zu finden, nie aus den Augen gelassen. Doch nun wusste ich nicht wirklich, wie ich vorgehen sollte. Anstatt zu den beiden zu fliegen, erfasste ich nun Emilia mit starrem Blick.
Ich verstand nicht, was sie mit all dem zutun hatte. Die Engel hatten mir erzählt, dass sie Clyde wohl lieben musste, wenn sie seinen Platz in der Hölle einnehmen konnte. Aber was hatte Emilia mit Clyde zutun? Ich wusste nicht einmal, dass sich die beiden gekannt hatten.
Der Anflug eines schlechten Gewinnens überkam mich. Ich hatte Emilia gekannt. Wir hatten uns in der Schule kennengelernt und wir waren in der Grundschule so etwas wie... Freunde gewesen. Doch wir waren auch Kinder gewesen. Wir hatten zusammen Bücher in der Bücherei gelesen und auf dem Pausenhof miteinander gespielt. Sie war stiller und netter als die anderen Kinder gewesen und das hatte ich damals als sehr angenehm empfunden.
Als es einmal zu Hause wegen irgendetwas Streit gegeben hatte, war ich zu Fuß zu Emilias Adresse aufgebrochen. Ich hatte in der vierten Klasse schon ein Handy gehabt und war dem Pfeil auf Google Maps gefolgt, bis ich bei ihr gewesen war und auf ihr Klingelschild gedrückt hatte. Da war ich dann auf ihren Vater getroffen.
Zurückblickend konnte ich mich nicht mehr an alles erinnern. Im Vordergrund der Erinnerung war dieses Gefühl von Unbehagen. Heute wusste ich, dass er extrem betrunken gewesen sein musste, als er mich anschrie, dass Emilia mit Jungs nichts zutun hatte und er etwas Schlimmes tun würde, wenn ich weiter Kontakt mit ihr hatte.
Ich war ein Kind gewesen. Ich hatte Angst um mich selbst und um Emilia gehabt. Also hatte ich die Bücherei gemieden und auf dem Schulhof mit anderen Kindern gespielt. Es hatte so schnell aufgehört, wie unsere kleine Freundschaft begonnen hatte. Es war nur natürlich, dass ich nicht gewusst hatte, wie ich mit all dem umgehen sollte.
In der weiterführenden Schule waren wir dann in unterschiedliche Klassen gekommen. Und irgendwann hatte Emilia Sam kennengelernt und war nicht mehr alleine gewesen.
Bis auch das ein Ende gefunden hatte.
Ich schüttelte mich und betrachtete die beiden Gestalten unter dem Baum. Ich müsste jetzt nach allen anderen Engeln rufen, damit wir Emilia so schnell wie möglich befreien und Clyde zurück in die Hölle schicken konnten. Aber davor wollte ich Emilia alles in Ruhe erklären. Dass Clyde sie ausnutzte. Dass sie am Ende ihrer Reise sterben würde. Ich wollte ihr erklären, warum ich sie wieder nach Hause brachte. Warum ich sie von einer friedlichen Wiese zerrte, um sie zurück zu dem Ort zu bringen, den sie schon seit ihrer Kindheit hasste.
Das war ich ihr schuldig.
Langsam flog ich ein Stück zurück und nahm mehr Abstand von den beiden.
Ich musste einfach nur den richtigen Moment abwarten.
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