7 | Die beste Musik des Planetens
| ☼︎ Emilia ☼︎ |
Da eine Übernachtung bei unserer Rettungsmission nicht vorgesehen gewesen war, hatte ich keine Schlafsachen mitgenommen. Somit zog ich mir nach dem Duschen die Sporthose an, die ich eingesteckt hatte. Wozu hatte ich die überhaupt mitgenommen? Um besser durch die Zwischenwelt zu sprinten, mir Clydes Seele wie einen Handball zu schnappen und dann wieder zurück zur Menschenwelt zu rennen?
Frustriert stemmte ich beide Hände am Waschbecken ab, ließ einen tiefen Atemzug aus meinem Mund und sah hoch zum Spiegel. Mit einer Hand wischte ich das Kondenswasser weg, um mich zu betrachten. An meinen feuchten Haaren perlten noch ein paar Wassertropfen zu meinen Haarspitzen und sackten dann in den Stoff meines gelben T-Shirts hinein. Ich sah mir selbst in die Augen und ermutigte mich, stark zu bleiben.
Clyde brauchte mich. Er hatte mir geholfen. Nun musste ich ihm helfen.
Ich verließ das Badezimmer und stellte meinen Rucksack auf dem Sofa ab. Auf dem Bett lag ein großer Körper, der vollkommen in Decken eingewickelt war. Anscheinend war Xathros schon am Schlafen.
Schnell steckte ich noch mein Handy an das Ladekabel. Auf dem zerkratzen Display wurden mir dutzende verpasste Anrufe von meinem Vater angezeigt. Einerseits war ich froh, dass er unbeschadet wieder aufgewacht war. Andererseits breitete sich das schlechte Gewissen spürbar in meinem Körper aus und verursachte mir jetzt schon Bauchschmerzen. Müde ließ ich mich auf das kleine Sofa fallen und merkte, wie ich selbst ohne Bettdecke nach kurzer Zeit vom Schlaf übermannt wurde.
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Als ich wach wurde, war es im Zimmer schon hell. Kurz war ich verwirrt über den ungewohnten Untergrund, auf dem ich schlief, und darüber, dass die Wände so weit voneinander entfernt waren. Ich lag nicht in meinem Bett in meinem kleinen Zimmer, sondern auf dem Sofa im Hotel.
Während ich mich langsam aufsetzte kamen auch die Erinnerungen an letzte Nacht zurück. Ich hatte keine Ahnung, wie oft ich aufgewacht war, weil sich Xathros lautstark im Bett hin- und her gewälzt hatte. Ich rieb mir den Sand aus den Augenwinkeln und sah zum Bett herüber, wo der Körper noch immer unerkennbar unter den Bettdecken begraben lag.
Möglichst leise stand ich auf und verschwand im Badezimmer, um mir das Gesicht zu waschen, mich umzuziehen und die Zähne zu putzen. Als ich wieder zurückkam lag der Körper des Dämons noch immer dort. Eigentlich mussten wir aber so schnell wie möglich los. Wir hatten immerhin fast schon zehn Uhr.
Vorsichtig presste ich meinen Rucksack wie ein Schutzschild an meinen Oberkörper und näherte mich dem Wesen mit kleinen Schritten. Ich schlich um das Bett herum, bis ich das Gesicht von Xathros erkennen konnte. Anscheinend schliefen Dämonen nicht friedlich. Sein rötliches, vernarbtes Gesicht war verzogen, als hätte er Schmerzen oder einen unangenehmen Traum. Plötzlich zuckte sein Körper, als steckte er wirklich in einem Alptraum fest.
Einen Menschen würde ich aufwecken, bei einem Dämon traute ich mich das aber nicht. Jedenfalls nicht aus der Nähe.
Ich ging zu meinem Sofa zurück, bis ich das Gefühl hatte, genug Sicherheitsabstand zwischen uns gebracht zu haben. „Xathros", sagte ich halblaut. Davon schien er jedoch nicht aufzuwachen. „Xathros!", rief ich lauter und wartete kurz ab. „Xathros!"
Wachte man nicht eigentlich gut von den Rufen des eigenen Namens auf?
Nachdenklich presste ich den Rucksack an mich. „Engel!", rief ich schließlich, genauso laut wie zuvor.
„Was?!", kam es halb brüllend von dem Dämon, der nun aus dem Schlaf aufschreckte, sich wenig elegant aus den Decken befreite und aus dem Bett stolperte. „Wo?", rief er eindringlich.
„Skippy", sagte ich trocken. „Das war ein Scherz."
Xathros Augen verschmälerten sich. Böse starrte er mich an, obwohl er mich gestern noch schlimmer auf den Arm genommen und mir einen wahnsinnigen Schreck eingejagt hatte. Trotzdem jagte mir der verachtende Blick in seinen rötlichen, unmenschlichen Augen mit ihren winzigen Pupillen einen leichten, unangenehmen Schauder über den Rücken.
„Wundervoll. Willst du vielleicht noch ein bisschen weiter hier so rumschreien, damit die Engel uns leichter finden? Na schön, nur zu", erwiderte Xathros schnippisch.
„Man hat dich ja sonst nicht wach gekriegt", eilte ich zu meiner Verteidigung.
Seufzend wischte sich der Dämon durchs Gesicht. „Okay. Lass uns einfach so schnell wie möglich losfahren."
Also packte ich alles zusammen, bevor wir dann auscheckten, uns in den Wagen setzten und weiterfuhren. Bei dem erstbesten Supermarkt hielten wir wieder an. Xathros trat zwar mit ein, war aber nach kürzester Zeit schon wieder verschwunden.
Gedankenverloren schob ich den Einkaufswagen vor mir her. Ich sollte meinem Vater eine Nachricht schicken. Dass ich nur für ein paar Tage weg war und dann wiederkommen würde. Durch das Eingreifen von Xathros war ich nicht mehr in der Lage gewesen, ihm die Situation zu erklären. Er dachte sicherlich, ich säße mittlerweile im Flugzeug, um mich in ein anderes Land abzusetzen. Hoffentlich hatte er noch keine Vermisstenanzeige bei der Polizei erstattet.
Ich begann, Wasser und Lebensmittel in den Einkaufswagen zu hieven. Mein Magen knurrte bei dem Gedanken an Frühstück. Ich hatte seit einer gefühlten Ewigkeit nichts mehr gegessen. Nachdem ich mich an der langen Schlange angestellt hatte und mit dem gestohlenen Bargeld von Xathros bezahlte, schob ich den Einkaufswagen über den Parkplatz auf mein Auto zu.
Der Dämon saß auf einem Stein daneben und putzte sich die Zähne. Auf dem Boden neben ihm lag die Verpackung der neuen, anscheinend gestohlenen Zahnbürste, sowie eine Tube Zahnpasta und eine Wasserflasche. Als Xathros mich sah spuckte er die weiße Mischung aus Zahnpasta und Speichel neben sich, gurgelte mit Wasser nach und spuckte dieses ebenfalls aus. „Auch mal endlich fertig", bemerkte er.
Ich starrte Xathros an und versuchte, einen Blick auf seine Zähne zu erhaschen. Waren diese eigentlich spitz und kaputt und gruselig? Wieso putzte sich ein Dämon überhaupt die Zähne? Aber ich verkniff mir die Frage, öffnete den Kofferraum und lud die Einkäufe ein. „Ja. Immerhin habe ich mich ordnungsgemäß angestellt und die Sachen nicht einfach geklaut."
„Jedoch mit geklautem Geld bezahlt. Aber sicher, tröste dich ruhig damit, dass du dich angestellt hast", konterte der Dämon, stand auf und sammelte seine Sachen ein. „Ich muss nur noch das Navi einrichten, dann können wir los. Und wenn wir schonmal dabei sind, lass uns schnell ins Auto setzen, bevor die Bastarde aufkreuzen."
Verwundert sah ich zu, wie der Dämon die Tür zum Beifahrersitz öffnete und begann, einen kleinen Karton aufzupacken. Anscheinend hatte er noch einen schnellen Abstecher in einen Elektromarkt gemacht. Also nutzte ich die Zeit, um den Einkaufswagen wegzubringen und meinem Vater im Auto eine Nachricht zu schreiben.
Das schlechte Gewissen ihm gegenüber brodelte noch immer in meinem Magen. Ich war nicht dumm. Ich wusste, dass es falsch war, wie er sich mir gegenüber verhielt. Aber ich wusste auch, wie er sich fühlte. Im Stich gelassen. Zurückgelassen. Verängstigt. Hilflos und machtlos. Weil alles seiner Kontrolle entglitten war, inklusive seinem Alkoholkonsum, versuchte er wenigstens mich zu kontrollieren. Es war falsch, aber ich konnte ihn verstehen. Also drückte ich auf Senden.
„Fertig", riss Xathros mich aus meinen Gedanken. Ich starrte auf das Display des Navis. Etwas mehr als sechs Stunden. So lange musste Clydes Körper noch durchhalten.
Ich schnallte mich an, riss mir einen Müsliriegel auf, steckte ihn mir in den Mund und fuhr von dem Parkplatz herunter. Irgendwann würde ich auf dem Weg auch nochmal tanken müssen, aber das konnte im Moment noch warten.
Auf der Autobahn war nicht viel Verkehr und ich merkte, dass Xathros das nervös machte, weil er den Rückspiegel nicht aus den Augen ließ. Was würden wir tun, wenn die Engel uns finden sollten? Ich wusste zwar nicht genau, ob Xathros das mit dem heiligen Licht ernst gemeint hatte, aber ich würde sicherheitshalber mal die Augen schließen.
Was meine verstorbene Großmutter wohl denken würde, wenn sie mich so sehen könnte? Mit einem Dämon auf der Flucht vor Engeln? Natürlich fragte ich mich, ob ich die falsche Seite gewählt hatte. Aber ich wollte Clyde retten. Und deswegen war es die richtige Seite.
„Xathros?", fragte ich schließlich, woraufhin der Dämon seinen Blick vom Seitenspiegel löste und sich mir zuwandte.
„Was ist?", fragte er knapp und gab mir zu verstehen, dass eine Unterhaltung gerade eigentlich unerwünscht war.
Ich warf einen kurzen Blick auf das Navi. Hätten wir das Flugzeug nehmen können, dann wären wir sicher schon da gewesen. „Glaubst du, Clyde hält es so lange noch durch?"
Der Dämon betrachtete nun ebenfalls den Bildschirm. „Muss er. Früher werden wir nicht dort sein können. Die Engel haben mit Sicherheit alle Flughäfen besetzt, fliegen ist also gestrichen."
„Hm", machte ich. „Und glaubst du, wir werden auch Jonahs Seele in der Zwischenwelt finden können?"
„Du meinst den Bruder von Clyde? Ja, der wird sich wahrscheinlich auch da rumtreiben", erwiderte Xathros. Seine Stimme klang jedoch nicht sicher genug, damit mich das hätte beruhigen können.
Ein wenig entmutigt seufzte ich tief, während der Blick von Xathros schon wieder zum Rückspiegel glitt.
„Weißt du", meinte ich nach kurzer Zeit, „wir sollen uns vielleicht ein bisschen ablenken. Sorgen bringen uns auch nicht viel weiter."
Mit der rechten Hand schob ich Xathros Ellbogen beiseite, der auf der Armpolsterung zwischen uns gelegen hatte. Dann klappte ich die Polsterung hoch, den Straßenverkehr vor mir möglichst gut im Blick behaltend, und zog das erstbeste Album hervor. Ich schob die CD in das Fach ein und drehte die Lautstärke höher.
„Arctic Monkeys?", kam es plötzlich von rechts.
Mir fiel fast die Kinnlade herunter. „Du kennst die Arctic Monkeys?" Ein Dämon kannte die Arctic Monkeys?
„Eh, nein. Hab nur vom Cover des Albums abgelesen", erklärte Xathros und zeigte auf die CD -Hülle, die ich in das kleine Ablagefach vor mir gelegt hatte.
Hatte er?
Ich tippte mit den Fingerspitzen zum Takt zu Fluorescent Adolescent auf dem Lenkrad, während ich mit 120 km/h über die glatte Autobahnstraße bretterte.
„Aber dann kennst du doch sicher wenigstens die Red Hot Chili Peppers?", erkundigte ich mich neugierhalber.
„Die was? Die roten scharfen Chilischoten?", kam es nun von der Seite.
Vor Entsetzen griff ich das Lenkrad fester. „Was? Ist das gerade dein Ernst?"
Noch schockierter war ich, als keine Antwort von ihm kam. „Die Stones und die Beatles kennst du aber doch wohl?"
„Joa, an die kann ich mich noch schwach erinnern."
„Schwach?", entfuhr es mir empört. „Aber wenigstens kennst du die und hast die noch miterlebt. In Menschenjahren müsstest du ansonsten ja schon ein Uropa sein."
„Wer sagt, dass ich die miterlebt hab und nicht schon vorher gestorben bin?", hinterfragte Xathros. „Vielleicht wurden mir die Lieder auch nur von nervigen Menschen wie dir bei meinen Jobs in der Menschenwelt gezeigt."
Jetzt hatte er mich endgültig verwirrt. Ich konnte kaum abschätzen, wie alt Xathros wirklich war.
Seufzend gab ich auf. „Na ja, dann haben wir wenigstens was auf der Autofahrt zutun. Ich werde dir die beste Musik des Planeten zeigen."
„Wow. Ich kann die Vorfreude schon körperlich spüren", entgegnete Xathros mit vor Sarkasmus triefender Stimme.
Was ich schon körperlich spüren konnte, war jedoch meine Blase. Eine halbe Stunde konnte ich es noch aushalten, dann wurde es aber doch langsam unangenehm.
"Weißt du", begann ich also, während ich die Lautstärke der inzwischen laufenden roten, scharfen Chilischoten, wie sie Xathros zu meiner Verärgerung nur noch nannte, herunterdrehte. "Wir sollten bei der nächsten Tankstelle mal tanken."
Verwundert lehnte sich der Dämon zu mir herüber und traf mich dabei fast mit seinen Hörnern, sodass ich mit dem Kopf zur Seite ausweichen musste. "Warum? Reicht doch noch ein ganzes Stück", entgegnete er nach einem Blick auf den Tankstand und machte mir wieder Platz. Wahrscheinlich war er noch immer verunsichert wegen den Engeln und wollte so schnell wie möglich viel Abstand zwischen uns bringen.
"Nun ja", zögerte ich. "Man sollte so etwas lieber früher als später erledigen."
Ich spürte, wie Xathros mich nun von der Seite anstarrte, obwohl ich den Blick starr geradeaus auf den Straßenverkehr gerichtet hatte.
"Du musst mal pissen", meinte er trocken.
"Ja", gab ich zu. "Schau mich nicht so an. Du warst doch auch mal ein Mensch und müsstest mich verstehen können. Haben Dämonen denn gar keine Bedürfnisse?"
Xathros zögerte. "Nun ja. Sex kann man in der Hölle schon haben."
"Ew!", stieß ich aus, darüber nachdenkend, dass Xathros vielleicht schon älter als ein Uropa war. "So viele Details wollte ich überhaupt nicht wissen."
"Dann frag nicht immer so viel", konterte der Dämon.
Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Wie oft im Leben passierte es, dann man einem Dämon begegnete? Natürlich wollte ich alles mögliche wissen. Das, was dem Großteil der Menschheit verborgen war. Wie unsere Welt auch außerhalb unseres Wissens funktionierte. An welche Orte unsere Seelen nach ihrem Tod wandern würden. Nur weil ausgerechnet dieser Dämon hier ein Miesepeter war würde ich mir diese einmalige Chance doch nicht entgehen lassen.
Bei der nächsten Ausfahrt fuhr ich von der Autobahn herunter, hielt an der Tanksäule und tankte einmal voll. Immerhin musste ich ja anschließend auch von der Eifel wieder zurück nach Hause fahren.
Schnell bezahlte ich mit dem Bargeld, von dem noch erstaunlich viel da war, und fuhr das Auto anschließend auf einen Parkplatz einige Schritte entfernt. Xathros und ich stiegen aus, woraufhin ich schnell auf die Toilette verschwand.
Als ich wiederkam, vertrat sich der Dämon gerade die Füße. Der Autositz musste viel zu klein für ihn sein und das gekrümmte Sitzen auf Zeit sicher schmerzen. Normalerweise würde ich eine Pause zum Ausruhen vorschlagen, aber zu Clydes Sicherheit sollten wir uns wirklich beeilen.
Somit setzten wir uns wieder ins Auto. Noch fünfeinhalb Stunden. Schnell schob ich mir noch ein großes Stück Schokolade in den Mund, legte den Rückwärtsgang ein und parkte aus. Als ich wieder den ersten Gang einlegte und ein paar Meter vorwärts fuhr, ging der Motor plötzlich aus und wir blieben stehen.
Verwundert schluckte ich die Schokolade herunter, drehte den Schlüssel erneut im Zündschloss und versuchte nochmal, loszufahren. Doch der Motor ging augenblicklich wieder aus.
Das war absolut kein gutes Zeichen.
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