6 | Kartenhaus aus Lügen
| ♆︎ Xathros ♆︎ |
Fuck. Fuck.
Fuck!
Ich riss Emilia mit mir und wollte schon los rennen, da erinnerte ich mich daran, dass wir jetzt lieber absolut unauffällig bleiben sollten. Also drehte ich die verwirrte junge Frau an den Schultern in die Richtung des Ausgangs und schleuste sie durch die Menge an Menschen hindurch, für sie ich plötzlich ganz schön dankbar war.
„Einfach geradeaus gehen", wies ich sie an und drückte sie vorwärts. „Nicht umdrehen. Nicht nach hinten sehen."
„Was? Warum nicht?", hinterfragte sie deutlich beunruhigt, machte aber normal große und normal schnelle Schritte vorwärts.
„Erkläre ich dir später", wich ich den Fragen aus. Was eine Lüge war.
Unmöglich konnte ich ihr erzählen, dass ich gerade mehrere Engel entdeckt hatte, die sehr offensichtlich irgendetwas gesucht hatten. Scheiße verdammt.
Mischte sich der Himmel jetzt in unsere Angelegenheiten ein? Der Teufel hatte mir davon erzählt, dass Engel den Dämonen bei ihren Tätigkeiten in der menschlichen Welt manchmal dazwischen funkten. Aber auch hier und jetzt? Nur, weil ich einen Menschen dazu reinlegen wollte, meinen Platz in der Hölle einzunehmen? Hatten die nicht ernsthaft mal wichtigeres, worum die sich kümmern sollten?
Während wir dem Ausgang immer näher kamen ändere ich den ursprünglichen Plan. Wir mussten untertauchen und ganz heimlich und unauffällig dahin gelangen. Ich konnte nicht riskieren, dass irgendein Engel mit Emilia sprach und ihr alles erzählte. Wer würde schon einem Dämon, dem Inbegriff des Bösen, mehr Glauben schenken als einem heiligen Engel?
Und es war äußerst wichtig, dass sie mir Glauben schenkte. Auch, wenn ich sie in einer Tour anlog. Wenn ihr ein Engel auf irgendeine Weise die Wahrheit sagen würde, dann war's das.
„Planänderung. Wir nehmen das Auto." Ich hörte nicht auf, Emilia vorwärts zu schubsen, bis wir das Gebäude endlich verlassen hatten und ich spürte eine Welle der Erleichterung, weil es schon langsam dunkel wurde. Erst dann ließ ich ihre Schultern los und blickte mich gestresst nach gefederten, weißen Flügeln und beinahe zusammengewachsenen Heiligenscheinen um.
Als die Luft rein war und ich mich wieder Emilia zuwandte, blickte diese mich bereits misstrauisch an. „Was suchst du denn im Himmel?", wollte sie mit leicht schmalen Augen wissen.
„Wo steht dein Wagen? Beeil dich ein bisschen", blaffte ich sie an und ignorierte ihre Fragerei erneut.
Die junge Frau starrte mich an, als wolle sie irgendetwas sagen, drehte sich aber doch um und ging mit zügigen Schritten los. Nervös folgte ich ihr in die Parkhäuser und in das Treppenhaus, bis wir über eine Ebene voller Autos gingen und schließlich vor Emilias Wagen stehen blieben.
Emilia betrachtete ihr Auto, dann starrte sie mich an. Ich wusste nicht, ob sie sich nicht mehr traute, mir Fragen zu stellen. Diese eine Frage musste jedoch nicht ausgesprochen werden, da sie allzu deutlich zwischen uns im Raum stand. Ich starrte das Auto an. Wie sollte ich da reinpassen?
Wenn ich mich nicht täuschte, dann war das ein Fiat Seicenco. Nicht besonders groß, aber auch nicht super klein. Trotzdem fragte ich mich, wie ich bei meiner Körpergröße, meinen Hörnern und den zusammengefalteten Flügeln auf meinem Rücken da reinpassen sollte.
„Egal, das muss passen", beschloss ich. „Los, wir müssen uns beeilen."
Also schloss Emilia das Auto auf und setzte sich auf den Fahrersitz, während ich den Beifahrersitz nach hinten schob, so niedrig wie möglich einstellte, meinen Kopf einzog und mich ebenfalls in den Wagen quetschte.
„Okay, los", stieß ich hervor, während ich nach oben zum Autodach schielte. Die Hörner auf meinem Kopf streiften leicht an der Decke. Ich versuchte mich so gut wie möglich an den Sitz anzulehnen, ohne dass ich meine Flügel zerquetschte. „Und schalt die Heizung an, es ist saukalt", fügte ich hinzu und zog meine Jacke enger um mich.
Ohne dass ich hinsah spürte ich Emilias seltsamen Seitenblick, der mir wohl sagen sollte, dass es für Menschen im Sommer eigentlich warm war. Naja, ich war aber kein Mensch, falls sie das verdammt nochmal nicht schon gecheckt haben sollte. Trotzdem drehte sie die Autoheizung leicht auf und fuhr uns aus dem Parkhaus. „Ich habe kein Navi", bemerkte sie dann, während wir den Flughafen hinter uns ließen.
„Was ist mit deinem Handy?", entgegnete ich.
„Keine Internet-Flat."
Ein genervtes Stöhnen kam aus meinem Mund und ich blickte aus dem Fenster. „Gut. Erstmal fahren wir weit, weit von diesem Flughafen weg und dann besorgen wir ein Navi." Oder Guthaben für eine Flat. Wie konnte ein Mensch heutzutage eigentlich ohne Internet-Flat zurecht kommen?
Schweigend saßen wir nebeneinander, während Emilia die Autobahn Richtung Potsdam nahm. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, nach fliegenden Wesen im Himmel durch den Seitenspiegel Ausschau zu halten. Trotzdem bemerkte ich einige Male, wie meine Gedanken abschweiften, je weiter wir uns vom Flughafen entfernten.
Warum war es Emilia so wichtig, mich zu retten? Warum bedeutete ich ihr überhaupt etwas? Ich stand kurz davor, laut zu fragen, was Clyde ihr bedeutete. Irgendetwas hielt mich jedoch davon ab.
Für eine Weile beobachtete ich die vorbeiziehenden Lichter und Autos. Als ich das letzte Mal in einem Auto gesessen hatte, war ich gefahren. Mit 'ner Kippe in einer Hand. Viel zu schnell. Nur, um meinen Bruder abzufucken.
Ich hatte uns umgebracht, uns alle beide.
Und nun wusste ich, was ich alles geben würde, um wieder ein Mensch zu sein.
Nein, falsch. Was ich geben würde, um endlich nicht mehr in der Hölle zu sein. Um den ununterbrochenen Schmerzen zu entkommen. Welchen man nicht einmal im Schlaf entkam, weil einen da die schlimmsten Albträume plagten und man jeden Tag noch erschöpfter als zuvor aufwachte.
Emilia gähnte lautstark neben mir und verhärtete danach den Griff um das Lenkrad. Mann, hoffentlich schlief die nicht gleich beim Fahren ein. Eine plötzliche Welle von Eifersucht überkam mich. Es schien mir, als würde ich in diesem Moment alles dafür tun, auch nur eine einzige Nacht ruhig durchzuschlafen. Bald konnte ich es mit ein wenig Glück wieder.
Als ich erneut abwechselnd aus dem Fenster und der Frontscheibe blickte fiel mir auf, dass mittlerweile immer weniger Autos fuhren. Wahrscheinlich war es schlauer, sich in einer Unterkunft zu verstecken und morgen früh weiter zu fahren, nachdem wir alles Nötige für die Weiterfahrt besorgt hatten. Bei stärkerem Verkehr waren wir weniger auffällig und schwerer aufzufinden.
„Lass uns die nächste Ausfahrt nehmen und irgendwo übernachten", sagte ich also.
Emilia jedoch schüttelte den Kopf. „So viel Zeit haben wir nicht. Ich spring irgendwo noch schnell in ein Geschäft um ein Navi und Kaffee zu besorgen."
Es kam mir wirklich gut in den Kram, dass Emilia so schnell wie möglich ankommen wollte. Allerdings wusste sie ja nicht, dass sich eine Schar von Engeln auf der Suche nach uns befand und wir uns deshalb verstecken sollten.
„So viel Zeit haben wir. Wenn du am Steuer einschläfst und dich umbringst wirst du Clyde nicht mehr viel nutzen", entgegnete ich also. Sie durfte ruhig glauben, dass ich an ihrem Wohlergehen interessiert wäre, statt an uns suchenden Engeln.
Emilia starrte geradeaus und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. „Ja, wahrscheinlich hast du Recht."
Eine Ausfahrt sowie einige Minuten später hatten wir ein unauffälliges Hotel gefunden, in welches ich Emilia schnell hinein drängte. „Bezahl bar", erinnerte ich sie abermals, obwohl wir das zuvor schon im Auto besprochen hatten. Lieber waren wir zu vorsichtig als zu nachsichtig. Keine Ahnung, ob die Engel auf irgendeine Weise die Zahlungen auf ihrem Bankkonto einsehen konnten.
Statt auf mich zu reagieren schritt sie nach vorne und grüßte die Rezeptionistin. Ich trat neben Emilia und konnte an ihrer Körperhaltung plötzliches Zögern erkennen. Kurz schielte sie zu mir herüber, dann wandte sie den Blick sofort wieder ab. Natürlich konnte sie nicht zwei Zimmer für sich alleine buchen, sondern musste eines für uns beide nehmen. Also erkundigte sie sich nach einem großen Zimmer mit einem Sofa.
Natürlich könnte ich ja trotzdem nach einem unbenutzten Zimmer suchen und da schlafen. Aber ich wäre verrückt, wenn ich jetzt nicht bei Emilia bleiben würde. Dann würde sie irgendein Engel finden und ihr seelenruhig die Wahrheit über alles erzählen, während ich irgendwo anders war.
Nachdem also alles geklärt war machten wir uns auf den Weg in unser Zimmer, in welchem Emilia zunächst einmal im Badezimmer verschwand. Ich hingegen linste vorsichtig durch die Fenster nach draußen und zog dann alle Vorhänge zu. Mehr konnte ich nicht tun, außer darauf zu hoffen, dass die Engel weiter auf den Straßen suchen würden. Oder besser, ihre Suche einfach ganz aufgeben würden.
„Was machst du da, Xathros?", vernahm ich Emilias Stimme hinter mir.
"Ausschau halten, Skippy."
"Skippy?", fragte Emilia verwirrt hinter mir, wartete aber vergeblich auf eine Antwort. Musste ja keiner wissen, dass sie mich an den ständig kläffenden Yorkshire Terrier unserer Nachbarn erinnerte.
Ich spürte ihren stechenden Blick körperlich in meinem Rücken. Kurz rollte ich mit den Augen, dann ermahnte ich mich dazu, mich zusammen zu reißen und drehte mich zu ihr um. „Gut. Also. Du willst Antworten? Wir sind auf der Flucht vor Engeln, das ist die Antwort."
Emilia, die ihren Rucksack auf dem Sofa platziert hatte, blickte mich mit gerunzelter Stirn an. „Warum das denn? Arbeitest du nicht für Gott?"
„Nun ja. Indirekt." Ich versuchte meine Stimme so klingen zu lassen, als würde ich etwas einräumen und nun mit der Wahrheit raus rücken. „Immerhin kommt es auch Gott zugute, wenn feststeckende Seelen keinen Stau und kein Chaos mehr in der Zwischenwelt verbreiten."
„Warum?", hakte Emilia nach.
Normalerweise würde ich versuchen, ihren Fragen auszuweichen. Je mehr Lügen ich ihr erzählte, umso komplizierter würde es werden, dieses Lügennetzwerk aufrecht zu erhalten. Irgendwann würde ich vergessen, was ich erzählt hatte und mich noch weiter in die Scheiße rein reiten.
Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Emilia gleich kehrt machen und wieder heimfahren würde, wenn sie noch misstrauischer werden würde und ich weitere Antworten verweigerte.
„Weil der Stau verlangsamt, dass neue Seelen in die Hölle und in den Himmel kommen. Neue Arbeitskräfte. Verstehste?"
Ich blickte in Emilias Augen. Bitte glaube mir. Glaube mir. Komm jetzt nur nicht auf den Gedanken, dass diese Zwischenwelt nicht einmal existiert. Dass Clydes Seele nicht dort war. Dass ich Clyde war. Dass ich sie in die Hölle locken wollte, damit sie meinen Platz einnahm und ich wieder in meinem menschlichen Körper aufwachen konnte. Und dass man einem Dämon, der für den Teufel arbeitete, nicht vertrauen sollte.
„Dann ist dein direkter Auftraggeber also der Teufel?", fragte sie, weshalb ich leicht zusammen zuckte. Es war, als hätte sie in meinen Kopf geblickt und meine Gedanken gelesen. Ich konnte nicht anders, als zu nicken.
„Und warum wollen die Engel uns aufhalten?"
„Weil sie Freaks sind. Reden ständig nur davon, dass man der Natur seinen Lauf lassen und sich nicht einmischen soll. Dass Leute wie Clyde von alleine aufwachen oder sterben werden." Ich spürte förmlich, wie ich das Lügennetz viel zu weit strickte. Irgendwann würde es zerreißen. In sich zusammenfallen, wie ein zu großes Kartenhaus.
„Ich verstehe aber nicht, warum..." Zögernd schweifte Emilias Blick in die Leere.
„Was?", drängte ich. Was war? Ansonsten zögerte sie mit ihren Fragen ja auch nie.
„Na ja, ohne dich jetzt vielleicht auf irgendwelche Ideen zu bringen, warum tötest du diese Fälle nicht einfach? Die Körper der Menschen, deren Seelen feststecken? Dann wären sie nicht mehr an ihre noch lebenden Körper gebunden und könnten weiterziehen."
Für einen kurzen Augenblick starrte ich sie an, dann wendete ich nachdenklich den Blick ab. „Stimmt, du hast Recht."
Ich machte einen Schritt Richtung Tür, während Emilia alles aus dem Gesicht fiel. „Moment, stopp!", rief sie, packte meinen Arm und stellte sich mir in den Weg.
Ausdruckslos sah ich auf ihre Finger, die auf meinem vergrößerten Unterarm schrecklich klein wirkten. Eine weitere Erinnerung, wie wenig menschlich ich geworden war. Die Berührung auf meiner verletzten Haut brannte und schmerzte, trotzdem riss ich meinen Arm nicht sofort weg. Die Wärme ihrer Hand hieß mich auf eine furchtbare, kranke Art Willkommen. Die Menschenwelt war mir zu kalt geworden. Die Höllenwelt war mit jedem Tag ein Stück mehr zu meinem Zuhause geworden. Einem Zuhause, in dem ich eigentlich überhaupt gar nicht leben wollte.
Ich trat einen Schritt zurück und die Wärme verließ mich wieder. „Skippy. Das war ein Scherz", merkte ich an.
Emilias erschrockenes Gesicht, über das nun leider Erleichterung fuhr, befriedigte mich kurz. Hoffentlich lernte sie nun, mir nicht ständig tausend nervende Fragen zu stellen, die ich eh nur mit Lügen beantworten konnte.
„Warum ich Clyde nicht umbringe? Ganz einfach", meinte ich. „Wahrscheinlich hast du schon geahnt, dass ich aus der Hölle komme. Denkst du, ich will meine Strafe verschlimmern, indem ich irgendwelche Menschen umbringe?"
Ausdruckslos starrte Emilia mich an. Unter ihrem prüfenden Blick überlegte ich, was sie denken könnte. Wahrscheinlich fragte sie sich, was ich angestellt hatte, um in die Hölle zu kommen.
Na ja. Ein großer Ausschlaggeber war wohl, dass ich meinen Bruder getötet hatte.
Emilia schwieg noch immer. Neugierhalber fragte ich mich, welche Taten sie mir zumutete. Andererseits interessierte es mich aber auch nicht, was sie von mir als Xathros hielt. Bedeutend war nur, was sie von mir als Clyde hielt. Aber der schien ihr ja eh aus mir unerfindlichen Gründen super wichtig zu sein.
„Also gut. Ich nehm das Bett", beendete ich die Stille abrupt und sprach damit das Offensichtliche aus. Ich passte nun mal nicht auf das Sofa.
„Warum schaust du nicht, ob irgendein anderes Zimmer frei ist?", hinterfragte Emilia und sah zu, wie ich mich auf das Bett setzte und vorsichtig nach hinten fallen ließ. Ich quetschte zwar meine Flügel unter mir ein, aber es war einfach unglaublich, endlich wieder in einem Bett zu liegen.
Ich seufzte. „Du hast eindeutig zu wenig Ahnung von Engeln. Selbst die haben ihre Feinde. Und diese sind momentan wir."
Sagte der Richtige. Ich hatte ebenfalls kaum Ahnung über Engel. Die einzigen, die ich jemals aus der Nähe gesehen hatte, waren die gefallenen Engel in der Hölle gewesen.
„Könnten die Engel uns denn wirklich verletzen?" Emilias Gesicht erschien über mir, als sie sich neugierig über mich beugte.
„Mich wahrscheinlich nicht", entfuhr es mir überheblich, während ich die Arme unter dem Kopf verschränkte und die Augen schloss. „Dich würden sie sicherlich aus Versehen mit ihrem göttlichen Licht blenden und für immer blind machen, damit du Clydes Seele nicht mehr aus der Zwischenwelt befreien kannst."
„Oh", kam es zurück, in der Stimme deutliche Sorge. „Na gut. Dann schläfst du wohl doch lieber hier." Die Lautstärke ihrer Stimme hatte abgenommen und die Geräusche ihrer Schritte sagten mir, dass sie sich wieder ins Badezimmer bewegt hatte.
Als kurz darauf das Wasser in der Dusche anging wurde ich neidisch beim Gedanken an wärmendes, dampfendes Wasser. Aber ich würde sowieso kaum in die Dusche passen. Oder würde mir meine empfindliche Haut verbrennen.
Fröstelnd zog ich mir die Schuhe aus, riss beide Bettdecken an mich und wickelte mich darin ein. Emilia war ein Mensch. Die würde auch ohne Decke schlafen können.
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