5 | Seine einzige Überlebenschance

| ☼︎ Emilia ☼︎ |

Regungslos, halb liegend, halb sitzend, lehnte mein Vater an der Zimmerwand. Blut lief ihm aus der Nase über den Mund und tropfte auf sein graues, mit Flecken übersätes T-Shirt, welches sich über dem dicklichen Bierbauch spannte. Sein Kopf hing seltsam auf seiner Schulter.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Das war das einzige, was ich hörte, bis der Dämon zu sprechen begann. „Ups. Hab vergessen, dass ich ja viel stärker als Menschen bin."

Seine gleichgültige Stimme raubte mir beinahe den Atem. „Bist du vollkommen irre?", hörte ich mich selbst mit schrillem, panischem Tonfall ausrufen. Ich trat vor, schob den Dämon auf Seite und rannte zu meinem Vater. Den Zeige- und Mittelfinger meiner zitternden Hand presste ich auf seine Halsschlagader. Als ich einen Puls spürte, fiel sämtliche Anspannung von mir ab und ich hätte vor Glück fast aufgeschluchzt. Ich hatte schon gedacht, der Aufprall hätte ihm vielleicht den Nacken gebrochen.

„Ob ich irre bin?", fragte der Dämon hinter mir verdutzt. „Ich habe dich gerade gerettet."

„Nein. Du hast alles noch schlimmer gemacht", erwiderte ich mit vor Wut erstickter Stimme und untersuchte die Nase meines Vater, welche zweifelsohne gebrochen war. Wenn er aufwachen würde, dann würde er fuchsteufelswütend sein. Ich hielt mein Ohr an seinen Mund und überprüfte, ob er noch normal atmete. 

„Dem geht's gut. Der schläft jetzt erstmal seinen Rausch aus. Bis dahin werden wir schon längst verschwunden sein."

Unsicher prüfte ich, ob er wirklich keine weiteren äußerlichen Verletzungen hatte. Am Hinterkopf blutete er nicht.

„Du hättest ihn umbringen können", sagte ich. Der Schock steckte mir noch immer in der Stimme. Ich stand auf und drehte mich zum Dämon um.

„Die Härte des Schlags war keine Absicht", erwiderte Xathros, als wäre das eine gültige Rechtfertigung. Er hätte ihn überhaupt nicht schlagen dürfen, nicht einmal leicht.

„Hat er dich sehen können?", fragte ich ihn.

Xathros schüttelte den Kopf. „Ich war nur für dich sichtbar."

Erschöpft seufzte ich und legte mir meine Handfläche an die noch immer schmerzende Wange, welche ich gleich würde kühlen müssen. Wenn mein Vater aufwachen würde, dann würde er wahrscheinlich glauben, dass ich ihn geschlagen hätte. Xathros hatte alles wirklich nur noch viel schlimmer gemacht.

Langsam schielte ich zu meinem Vater herüber, bei dem die Blutung mittlerweile bereits gestoppt hatte. Ich wollte nicht hier sein, wenn er wieder aufwachte.

Aber eigentlich wollte ich dann auch nicht fort sein. Mein Blick fiel auf den Laptop. Mein Vater würde überzeugt sein, dass ich abgehauen wäre.

Aber ich hatte keine Wahl.

„Wie lange werden wir weg sein?", erkundigte ich mich schließlich.

„Ein, zwei Tage wahrscheinlich."

Also packte ich einen Rucksack für einige Tage. Ich besaß keinerlei Ahnung darüber, wie ich das über mich gebracht hatte, während mein Vater bewusstlos in meinem Zimmer lag.

☼︎

„Gut, ich treffe dich dann am Flughafen. Der Flug geht in weniger als drei Stunden, also lass dir nicht zu viel Zeit", erinnerte Xathros mich abermals.

„Mache ich nicht", seufzte ich. Das war ein erschöpfender Tag gewesen. Ich hatte einen Dämon getroffen, pure Angst um mein Leben gehabt, hatte Clyde halb tot im Krankenhaus gesehen und nun meinen Vater seinen Rausch ausschlafend in meinem Zimmer zurück gelassen.

Nachdem wir so kurzfristig keine Flüge im Internet erhalten konnten, hatte ich angerufen und beschrieben, dass es sich um einen Notfall handelte. Im nächsten Flugzeug nach Bonn waren noch Plätze frei gewesen.

Ich öffnete die Autotür und warf meinen Rucksack auf den Rücksitz. Als ich mich umdrehte, zog sich Xathros seine Jacke und zu meinem Entsetzen auch sein T-Shirt aus. „Was machst du da?", wollte ich unsicher wissen.

„Ich werde fliegen", erklärte mir der Dämon. Die Flügel, die anscheinend unter der weiten Kleidung zusammengefaltet waren, kamen nun wieder zum Vorschein.

Er blickte in mein anscheinend verwirrtes Gesicht und drückte mir seine Kleidung in die Hände. „Ich kann meinen Körper unabhängig von der Materie dieser Welt machen. Zum Beispiel, um durch Wände zu fliegen. Alles, was aus der menschlichen Welt kommt, kann ich dann nicht mehr spüren, wie in einer Parallelwelt. Meine menschliche Kleidung würde einfach an mir herunter fallen."

„Warum hast du sie dann überhaupt angezogen?", hakte ich nach und legte die Klamotten auf den Beifahrersitz.

„Weil es hier echt schweinekalt ist."

Ein kleines bisschen frisch war es abends ohne die Mittagswärme vielleicht, ja. Aber auf jeden Fall eigentlich nicht frisch genug für eine gefütterte Herbstjacke.

Als ich mich umdrehte starrte ich für einen Moment auf seinen Oberkörper. „Der Schnitt ist verschwunden", bemerkte ich leise.

„Mein Körper heilt schnell", entgegnete er, verzog dabei jedoch das Gesicht, als verfolgten ihn schmerzhafte Erinnerungen.

Trotz der schnellen Heilung zierten seinen nackten Oberkörper immer noch Narben und Brandverletzungen. Es gab kaum eine Stelle an Haut, die unverletzt zu sein schien. Xathros Körper schien sehr muskulös und gleichzeitig aber auch furchtbar dürr. Ich fragte mich, ob Dämonen überhaupt etwas aßen.

Doch bevor ich ihn wieder ausfragen konnte trat er einen Schritt zurück und spannte die Flügel, auf denen schwarze, dicke Haut zu liegen schien. „Dann bis später."

Ich nickte und stieg ins Auto. Als ich aus dem Fenster sah, war der Dämon bereits verschwunden.

Obwohl die Zeit drängte, blieb ich noch regungslos sitzen. Die Stille dröhnte in meinen Ohren. Was tat ich hier? Worauf hatte ich mich nur eingelassen? Wenn ich dieses Monster auch nur irgendwie verärgern würde, dann wäre ich diejenige, die blutend an einer Wand herunter rutschte.

Aber das Bild von Clyde ließ mich nicht mehr los. Seine blasse Haut, als hätte er schon längst das Atmen aufgegeben. Mit jedem Tag wurde sein Körper schwächer, während seine Seele in der Zwischenwelt herum irrte. Wenn der Dämon Recht hatte, dann war ich die einzige, die ihm helfen konnte. Was bedeutete, dass ich mir niemals verzeihen könnte, falls er sterben würde. Es war, als würde sein Blut dann an meinen Händen kleben.

Aber das war nicht alles. Ich wollte, dass er wieder lebte. Dass er wieder atmen und sein Leben leben konnte. Ich wollte ihm helfen. Wünschte mir, dass er weitere Erfahrungen und Erlebnisse machen konnte. Alt werden konnte.

Trotzdem war mir zum Heulen zumute. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das schaffen sollte. Das war eine viel zu große Verantwortung. Dass ich ein Leben retten sollte passte nicht in meinen Kopf hinein. So mutig und stark war ich nicht.

Langsam ließ ich einen zitternden Atemzug aus meinem Mund. Versuchte, mich durch eine langsamere Atmung zu beruhigen.

Dann schaltete ich den Motor ein und fuhr los. Auf dem ganzen Weg zum Flughafen fühlte ich mich weggetreten, als stünde ich neben mir selbst. Ich versuchte einfach nur, mich auf den Verkehr und die Musik zu konzentrieren.

Autos und Lichter rasten neben mir hinweg. Es hatte keinen Sinn, sich weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich musste es einfach tun. Mich beeilen und Xathros' Anweisungen folgen. Selbst wenn ich letztendlich scheitern sollte, dann hätte ich zumindest mein Bestes gegeben und alles versucht, was ich konnte. 

Als ich mein Auto im Parkhaus des Flughafens abstellte, fühlte ich mich noch immer nicht wirklich bereit. Trotzdem griff ich nach meinem Rucksack auf dem Rücksitz und nahm Xathros' Kleidung in die Hände. Nachdem ich den Wagen abgeschlossen hatte verstaute ich den Autoschlüssel.

Der Dämon wartete schon an dem Eingang auf mich. Als er mich sah, stieß er von der Wand ab, an welcher er gelehnt hatte, und streckte die Hand aus.

Schweigend übergab ich ihm seine Klamotten. Während er seine Flügel zusammenfaltete und das Shirt umständlich anzog, starrte ich ihn an. Der Dämon war tatsächlich nur für mich sichtbar.

"Warum können andere Menschen denn die Kleidung an deinem Körper nicht sehen?", hinterfragte ich.

"Hm", machte der Dämon und zog sich seine Jacke über. "Wahrscheinlich, weil ich sie berühre?"

"Aber den Boden unter deinen Füßen berührst du auch", wandte ich ein.

"Ich weiß es nicht, okay? Wende dich mit deinen Bedenken doch an den Teufel. Schick ein Formular oder so."

Seine genervte Stimme alarmierte mich. Ich musste wirklich sparsamer mit meinen Fragen umgehen, wenn ich überhaupt noch Antworten bekommen wollte. Als Clyde angezogen war, legten wir zügig den Weg zum Eingang des Terminals zurück und schritten auf die automatisch aufgehenden Glastüren zu.

"Okay. Kannst du mir bitte wenigstens verraten, was wir in Bonn tun werden?", versuchte ich mein Glück erneut.

"Wir fahren zum aktiven vulkanischen System in der Eifel und gelangen da zur Zwischenwelt", kam die Antwort von vorne. Der Dämon betrat das Flughafengebäude, während ich ihm ins Innere folgte.

Obwohl mir einige Rückfragen auf der Zunge brannten, beschränkte ich mich auf das Wichtigste. "Wie genau befreie ich denn Clydes und Jonahs Seele aus der Zwischenwelt?"

"Hast du keine Kopfhörer?", kam die prompte Rückfrage von Xathros, der sich nicht einmal zu mir umdrehte, sondern irgendeine Richtung ansteuerte. "Die Leute starren dich an, als würden sie gleich das Flughafenpersonal über eine Verrückte in Kenntnis setzen."

Mit einem Male wurde ich mir wieder über meine Umgebung bewusst. Die schwer bepackten, wartenden Menschen um mich herum warfen mir seltsame Blicke zu. Wahrscheinlich nicht nur, weil ich in ihren Augen mit mir selbst redete, sondern auch noch davon, irgendwelche Seelen zu befreien.

Also kramte ich in meinem Rucksack nach meinen Kopfhörern, verband das Kabel mit meinem Handy und steckte sie mir in die Ohren, ohne Musik anzuschalten. Xathros war in der Zeit schon weiter gegangen. Es dauerte einige schnelle Schritte, bis ich ihn wieder eingeholt hatte.

Wir steuerten den Check-in an. „Xathros, warte", stieß ich hervor und wurde langsamer, bis ich schließlich gänzlich stehen blieb.

„Was ist denn?", seufzte der Dämon ungeduldig, blieb aber ebenfalls stehen und drehte sich zu mir um. Die rötlichen Augen funkelten mich an, das Gesicht blieb fast ausdruckslos.

„Warum ich?", flüsterte ich nun, meine Sorge erstmals laut aussprechend.

Der Dämon blickte mich schweigend an, so als hätte auch er keine Antwort auf meine Frage. Oder als wartete er ab, meine Frage genauer auszudrücken.

Seufzend blickte ich zu Boden und starrte auf meine alten Chucks. „Ich meine, bin ich wirklich die einzige, die Clyde helfen kann? Warum hast du nicht zum Beispiel seine Eltern gefragt?"

„Ich weiß auch nicht mehr als die Informationen, die ich für diesen Job bekommen hab", kam die unbefriedigende Antwort von vorne.

„Gut", stieß ich enttäuscht aus und blickte wieder hoch. „Dann sag mir, dass ich nichts falsch machen kann. Dass es einfach sein wird, seine Seele zu retten. Ich will Clyde helfen, um jeden Preis. Aber ich traue mir nicht zu, das auch wirklich zu schaffen. Ich würde seine einzige Überlebenschance nicht auf mich setzen. Also sag mir, dass du dir sicher bist", verlangte ich mit bebender Stimme. „Es ist mir wirklich, wirklich wichtig, dass Clyde wieder leben kann."

Die Augen des Dämons weiteten sich merklich. Verwundert über seinen überraschten Blick hielt ich den Augenkontakt und wartete auf eine Antwort. Auf irgendeine weitere Reaktion.

„Ich-", stieß der Dämon hervor, schien dann aber keine Worte mehr zu finden. Sein zuvor fester Blickkontakt schweifte ab und fiel auf irgendetwas hinter mir. Statt erneut die Augen zu weiten, kniff er sie ein wenig zusammen, als erkenne er irgendetwas nicht richtig.

Als ich mich herumdrehte, um zu sehen, was ihn so überraschte, packte der Dämon mich mit hartem Griff am Oberarm. „Wir müssen weg, sofort."

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