3 | Lügengeschichte
| ♆︎ Xathros ♆︎ |
„Clyde Clemonte?", wiederholte die Rezeptionistin mit der schwarzen Brille erstaunt. Das hier war ein kleines Krankenhaus. Wahrscheinlich wusste sie sofort, wer das war. „Wie ungewöhnlich", bemerkte sie so leise, dass wahrscheinlich nur ich sie hören konnte, weil ich genau neben ihr stand und Emilia unsichtbar beobachtete.
Schon gut. Musst mir ja nicht auch noch unter die Nase reiben, dass mich absolut niemand im Krankenhaus besuchen kam.
Nachdem sie Emilia den Weg zu meinem Zimmer beschrieben hatte, setzte ich mich in Bewegung und folgte der jungen Frau mit dem dunkelblonden Haarschopf. Was machte sie hier? Wie hätte sie ahnen können, dass Clyde und ich dieselbe Person waren? Ein panisches Klopfen meines Herzens setzte ein. Mein Höllenkörper sah meinem menschlichen Körper überhaupt nicht ähnlich. Jedenfalls nicht mehr.
Moment, wahrscheinlich hatte sie das gar nicht geahnt. Da sie meinen menschlichen Körper offensichtlich zum ersten Mal besuchte und dies somit keine ihrer Gewohnheiten war, ging ich stark davon aus, dass sie sich hier im Krankenhaus nur vor mir verstecken wollte. Und ihr Besuch bloß eine Ausrede für die Rezeptionistin gewesen war.
Aber warum? Ich hatte ihr doch gesagt, dass ich ihr einen Moment geben würde, um sich zu beruhigen. Dass ich später wieder zurückkommen würde und sie dann bloß nicht nochmal mit einem Messer nach mir werfen sollte. Dass ich ihr nichts tun würde. Anscheinend hatte sie mir nicht geglaubt.
Dabei war ich so zuvorkommend gewesen. Hatte mich für sie unsichtbar gemacht und war erst einmal zu meinem Haus geflogen. Meine Eltern waren nicht dort gewesen. Mein Zimmer hatte ich genauso vorgefunden, wie ich es zurückgelassen hatte. Jonahs ach so ordentlicher Raum war menschenleer gewesen. Aber im Haus hatte es keine Anzeichen für seinen Tod gegeben. Keine extra Fotos. Keinen Schrein oder Altar für den Lieblingssohn.
Jedenfalls war Emilia spurlos verschwunden, als ich wieder zurück zu ihrer Wohnung geflogen war. Im Krankenhaus zu suchen war mein erster Instinkt gewesen, welcher sich dann als richtig herausgestellt hatte, als die junge Frau aus dem Bus gesprungen und Richtung Eingang gerannt war.
Ich blieb hinter ihr stehen, als sie an dem Krankenzimmer angekommen war. Es roch irgendwie klinisch, nach Desinfektions- und Putzmittel. Die nackten, kahlen Wände und der weiße Boden wirkten kalt, sodass mich ein Schaudern überkam. Emilia drehte sich zu der Fensterscheibe um und legte langsam eine Hand auf das Glas. Mit weit geöffneten Augen blickte sie in das Zimmer hinein.
Mit zwei weiteren Schritten nach vorne konnte ich sehen, was auch sie sah. Meinen menschlichen Körper in einem Bett liegend, an mehrere verschiedene Geräte angeschlossen. Meine Augen waren geschlossen, die Haut blass. Die schwarzen Haare glänzten fettig und lagen platt auf der Kopfhaut. Ich wirkte beinahe tot. Und von dem, was ich über das Koma wusste, würde ich das vielleicht bald schon wirklich sein.
Dann gäbe es keine Chance mehr für mich. Ich würde den Rest der Ewigkeit unter nie endender Folter in der Hölle verbringen. Doch das wollte ich um jeden erdenklichen Preis verhindern. Dafür war ich hier. Dafür war sie hier.
„Oh, sind Sie für Clyde Clemonte hier?", fragte eine Frau in weißem Arztkittel, welche einige Schritte entfernt von uns auf dem Flur stand.
„Ja", beantwortete Emilia die Frage, ohne den Blick abzuwenden. In ihren Augen erkannte ich ehrliche Trauer. Also stimmte es, was der Teufel gesagt hatte? Aber wie konnte das sein? Wir kannten uns doch überhaupt nicht.
„Sind Sie seine Freundin?", fragte die Ärztin nun mit Blick auf die in Gedanken versunkene Emilia.
Ruckzuck entfernte diese sich von der Glasscheibe und wedelte abwehrend mit den flachen Handflächen. „Nein, nein, ich-"
Noch immer unsichtbar machte ich einen Schritt um sie herum und blickte in ihr errötendes Gesicht.
„-wollte nur mal gucken, wie es ihm geht", vollendete Emilia ihren Satz nach einigem nervösen Zögern.
„Die Möglichkeit, dass er aufwacht, besteht nach wie vor", erklärte die Ärztin vorsichtig. „Ich muss aber ehrlich sagen, dass es bisher keine Anzeichen einer Besserung gibt."
Während Emilia und die Ärztin sich weiter unterhielten ging ich ein paar Meter weiter den Flur entlang und blieb beim nächsten Zimmer stehen.
Jonah lag dort im Krankenbett und sah genauso leblos aus wie mein eigener Körper. Der Unterschied war aber, dass sein Raum mit einigen mehr Blumen vollgestellt war. Und dass meine Eltern auf Stühlen neben seinem Bett saßen. Meine Mutter heulte. Mein Vater sprach ihr anscheinend beruhigende Worte zu. Und mein Körper lag im anderen Zimmer, ganz allein.
Nach einiger Zeit drehte ich mich langsam wieder um. Emilia stand noch an Ort und Stelle, wobei die Ärztin schon wieder gegangen war. Ein Krankenpfleger und eine Krankenschwester huschten eilig an ihr vorbei und verschwanden Richtung Treppenhaus.
„Willst du ihn retten?", fragte ich durch die Stille hindurch.
Emilia drehte sich zu mir um und erstarrte abermals, schien allerdings nicht gänzlich überrascht darüber, dass ich sie wieder gefunden hatte. „Was?", entfuhr es ihr schließlich nach einigen Sekunden.
„Würdest du ihn retten, wenn du könntest?", formulierte ich die Frage um, trat näher an Emilia heran und betrachtete meinen menschlichen Körper durch die Glasscheibe.
Doch ich bekam keine Antwort. "Wer bist du?", fragte Emilia stattdessen flüsternd. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie mich anblickte und ich schloss meine Augen.
"Mein Name ist Xathros." Mein Höllenname, den der Teufel mir beim Beginn meiner Arbeit für ihn gegeben hatte. "Ich komme aus der Zwischenwelt und meine Aufgabe ist es, Kerlen wie diesen in solchen Situationen zu helfen", tischte ich ihr problemlos die Lügengeschichte auf, die ich zuvor vorbereitet hatte.
"Clyde", erwiderte Emilia nur. "Sein Name ist Clyde."
Als ich die Augen wieder öffnete, bemerkte ich, wie ernst sie mich ansah. Ihre dunkelblauen, weiten Augen funkelten mich an und schienen mir beinahe einen Vorwurf zu machen.
"Natürlich", entgegnete ich harsch. Ich wusste doch wohl am besten, wie mein eigener Name lautete. "Clyde steckt in dieser Zwischenwelt fest. Das ist der Grund, weshalb er nicht aufwachen kann."
Genau genommen war der Grund, dass seine Seele bereits der Hölle angehörte. Sie gehörte dem Teufel. Und der würde sie erst wieder freigeben, wenn ich ihm Emilia geliefert hatte.
"Was habe ich mit all dem zutun?", hinterfragte diese nun.
Nachdenklich wandte ich mich ihr zu und betrachtete Emilia, während diese einen kleinen Schritt zurückwich und mich leicht ängstlich beäugte. Genau das fragte ich mich auch. Woher kannte Emilia mich? Und noch wichtiger, warum sollte sie mich lieben? Aber diese Fragen konnte ich ihr nicht stellen. Jedenfalls noch nicht. Ich durfte sie auf keinen Fall misstrauisch machen.
Also seufzte ich und holte zu meiner durchdachten Erklärung aus. "Für diesen Prozess brauche ich die Hilfe von einem Menschen. Und in diesem Fall gibt es niemand anderen, der es tun würde."
Bevor ich weitersprechen konnte beobachtete ich, wie sich Emilias Augen weiteten und verstummte plötzlich. Die junge Frau hatte sich wieder zu meinem menschlichen Körper umgedreht. Das Mitleid in ihrem Gesicht ließ mich stocken.
"So ist es auch bei mir", sprach sie so leise, dass ich das Gefühl bekam, dass sie überhaupt nicht mit mir redete. "Bei mir gäbe es auch niemanden, der mir helfen würde."
Emilia konnte hoffentlich nicht sehen, wie ich angeekelt mit den Augenbrauen runzelte. Ja, natürlich nicht. Natürlich gab es überhaupt niemanden, der ihr helfen würde. Ich hasste Menschen wie sie. Mit ihren perfekten Familien und Freunden. Trotzdem dachten sie immer, dass es ihnen genauso ginge und sie einen verstehen würden. Dabei hatten sie überhaupt keine Ahnung. Einen Scheiß wussten und verstanden sie.
"Was ist mit Jonah?", riss Emilia mich aus meinen Gedanken und wirbelte plötzlich zu mir herum.
"Wer ist Jonah?", entgegnete ich und tat zur Tarnung so, als würde ich keinen Jonah kennen. Was sollte mit dem sein? Ich ging stark davon aus, dass seine Seele nicht aus der Hölle befreit werden wusste. Der machte sich wahrscheinlich gerade ein schönes Leben in Gottes Schoß.
"Clydes Bruder. Der ist sicher auch in der Zwischenwelt. Ihm müssen wir auch helfen", drängte Emilia.
"Nicht mein Aufgabenbereich", lehnte ich knapp ab.
"Dann mach es zu deinem Aufgabenbereich", forderte sie. "Wenn Clyde wieder aufwacht und Jonah nicht, dann wird er sich Vorwürfe machen. Er wird glauben, dass er Jonah umgebracht hätte. Weißt du denn überhaupt nicht, was passiert ist?"
Für einige Sekunden schwieg ich und verdrängte die Bilder, die vor meinem inneren Auge auftauchten. "Nein, muss ich auch nicht", antwortete ich dann schließlich. "Was ich aber weiß ist, dass man dich hier im Krankenhaus behalten wird, wenn du weiterhin so laut mit dir selbst redest."
Tatsächlich schwieg Emilia nun, als hätte sie vergessen, dass mich andere Menschen nicht sehen konnten und trat einen Schritt zurück. Einen Schritt, den sie zuvor auf mich zugegangen sein musste. Obwohl ich so aussah, wie ich aussah. Es war erstaunlich, wie gut sie die Existenz von Höllenwesen aufgefasst hatte.
Andererseits ... Sie hatte mir auch ein Messer in die Brust geworfen. Unwillkürlich rieb ich mir die Haut um den noch stechenden Schnitt. Trotzdem war der Schmerz nichts verglichen mit dem, was man in der Hölle spürte. Es war eine willkommene Abwechslung, wieder in der Welt der Menschen zu sein.
Auch, wenn mein Höllenkörper das nicht lange aushalten würde. Aber ich musste mich so oder so beeilen, denn sonst wäre es für meinen menschlichen Körper endgültig zu spät und ich würde für immer in der Hölle gefangen sein.
Ich breitete die Flügel auf meinem Rücken aus. "Okay, wir treffen uns nachher bei dir zu Hause. Ich muss noch was erledigen und komme danach sofort zu dir, um dir alles genauer zu erklären."
"Aber-", erwiderte sie noch, doch schon hatte ich mich unsichtbar gemacht. Ich schlug mit den Flügeln, hob ab und schwebte durch die Räume und Wände des Krankenhauses hindurch. Draußen regnete es noch immer, sodass ich schon nach kurzer Zeit komplett nass war. Mit gerader Luftlinie dauerte es nicht lange, bis ich am großen Backsteinhaus angekommen war. Erst in meinem Zimmer machte ich wieder halt.
In der Hölle war es so heiß gewesen, dass ich mich anscheinend irgendwie ein wenig daran gewöhnt hatte. Die Temperaturen der menschlichen Welt erschienen mir nun eiskalt, selbst wenn es Sommer war. Ich riss den Kleiderschrank auf und suchte nach Anziehsachen, die mir noch passten. Mein Höllenkörper war gute dreißig Zentimeter gewachsen, weshalb sich das als ein wenig schwierig herausstellte. Wütend gab ich auf und schleuderte die Kleidung in den Schrank zurück.
Also widmete ich mich dem, weshalb ich hauptsächlich her gekommen war: Dem Safe meiner Eltern. Den Code musste ich nicht wissen. Wenn ich wollte, dann konnte mein Höllenkörper unabhängig von der Materie dieser Welt sein. Das war der Grund, warum ich mit meiner Hand nach dem Bargeld greifen konnte. Der Grund, warum ich durch Wände fliegen konnte. Oder vom unteren Erdmantel durch verschiedenste Erdschichten bis zur Erdoberfläche. Satte 700 Kilometer. Vierzehn verdammte Stunden.
Aufgrund des Mangels an Hosentaschen an meiner Lederhose klemmte ich den Stapel an Bargeld zwischen meinen Hosenbund und meine Hüfte. Natürlich hätte ich mich auch einfach bei einer Bank bedienen können. Aber es war eine zu große Genugtuung, meinen Eltern ihr geliebtes Geld zu nehmen. Welches ihnen fast so viel wert gewesen war wie ihr sozialer Status.
Ich blickte zu dem großen Bild von uns vieren, das hinter dem Schreibtisch an der Wand hing. Es war eines der seltenen Bilder, in denen ich mit drauf war, weil ich mich fast immer für Fotos verweigert hatte. Es zeigte meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder und mich vor einem simplen, weißen Hintergrund. Das war schon vor ein paar Jahren entstanden und es lag ein Lächeln auf meinem Gesicht, welches aber überhaupt nicht bis zu meinen Augen hin reichte.
Seufzend wandte ich mich ab. Leider würde ich nicht lange genug bleiben können, um das Entsetzen auf ihren Gesichtern zu sehen, wenn sie die durchwühlten Räume und den geplünderten Safe entdeckten. Denn jetzt hieß es erstmal, ihr Bargeld auf ein anderes Konto zu überweisen. Und ein Kleidungsgeschäft auszurauben.
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