24 | Ein stundenlanger Abschied
| ♆︎ Clyde ♆︎ |
Während ich im Auto saß und auf das Lenkrad starrte versuchte ich, das schlechte Gewissen wieder herunterzuschlucken, welches sich aus meinem Bauch meine Kehle hochbahnte.
Ich würde es ihr rechtzeitig erzählen. Damit sie selbst eine Entscheidung treffen konnte. Aber noch nicht. Noch konnte ich es nicht. Ich wollte vergessen, was passieren würde. Nur für ein paar Stunden.
Gerade als ich hochblickte beobachtete ich, wie Emilia aus der Haustür kam. Sie sah sich um, dann fiel ihr Blick auf mein Auto. Kurz stockte sie.
Ich fragte mich, ob auch sie das Wrack gesehen hatte.
Emilia kam auf mich zu und öffnete die Beifahrertür. "Ist das..?", fragte sie, ohne sich zu setzen. Ihre Reaktion beantwortete meine Frage und ich spürte, wie sich in mir etwas stechend zusammenzog. Sie hatte es gesehen.
"Nein", antwortete ich. Es war nicht dasselbe Auto, welches den Vollschaden erlitten hatte. Das war weit entfernt von einer möglichen Reparatur gewesen. "Meine Eltern haben das gleiche Modell noch einmal nachgekauft", erklärte ich.
Emilia setzte sich nun neben mich, schloss die Autotür und starrte auf das Armaturenbrett. "Aber wieso?"
Ich seufzte. "Ich schätze, sie haben es gekauft, damit wieder alles so wird, wie es war. Sie waren der Überzeugung gewesen, dass wir wieder aufwachen würden."
"Das muss eine wirklich schwere Zeit für deine Eltern gewesen sein", sagte Emilia und ich spürte das tiefe Mitleid in ihrer Stimme beinahe körperlich.
"Ja", sagte ich, schluckte und legte meine Finger um das Lenkrad. Mit einem halben, sich traurig anfühlendem Lächeln blickte ich Emilia an. "Bist du bereit?"
Emilia sah mich mit einem sanften Lächeln an. "Das bin ich, egal wo es auch hingeht."
Meinen Mundwinkeln fiel es schwer, sich aufrecht zu halten. "Okay."
Ich legte den Rückwärtsgang ein, fuhr vom Parkplatz und steuerte dann den Ausgang der Stadt an.
Plötzlich spürte ich Emilias Finger auf meinen. Ich hatte kaum gemerkt, wie diese leicht gezittert hatten. Wie steif und angespannt ich im Autositz saß.
"Soll ich fahren?", bot sie an, doch ich schüttelte den Kopf.
Es war wirklich beinahe furchteinflößend, wieder zu fahren. Und sich den ständigen Erinnerungen an diese Nacht zu stellen, die dabei aufkamen.
Es passierte wohl nicht jedermann, beim Autofahren zu sterben und danach wieder Auto zu fahren.
Aber ich wollte so viel wie möglich alleine von diesem Vorhaben schaffen und mir von Emilia letztendlich nur in einem unausweichlichen Punkt helfen lassen.
Über das Display des Autos startete ich eine Playlist meines Handys. In gemütlichem Tempo fuhren wir durch die Stadt und nahmen dann die Auffahrt zur Autobahn.
"Wie geht es Jonah?", fragte Emilia schließlich von der Seite.
"Ganz gut", antwortete ich und suchte etwas, um das Thema zu wechseln. Ich duckte mich leicht, um besser durch die Windschutzscheibe hoch in den Himmel zu sehen. "Es zieht sich zu da oben. Sieht so aus, als würde es nachher regnen."
Ich spürte Emilias Blick, als würde er sich in mich hineinbohren. "Keine Sorge, Clyde. Wir fahren ja vorsichtig. Außerdem finde ich es gut, dass wir das hier tun. Sich vor seinem Trauma zu verstecken ist nie gut, wie ich erst letztens gelernt habe."
Wortlos starrte ich auf die Straße und überlegte, was ich antworten sollte. "Eigentlich mag ich den Regen. Sehr sogar."
"Ich auch", stimmte Emilia mir zu und begutachtete die sich zuziehende, dunkle Wolkendecke in der Ferne.
"Ehrlich? Ich dachte, du wärst eher der Sonnentyp", bemerkte ich.
"Regen hat etwas beruhigendes. Etwas heilendes, so kommt es mir manchmal vor. Aber ja, ich mag auch die Sonne. Ich hatte die glücklichsten Momente meines Lebens in der Sonne."
Ich dachte zurück an den sonnigen Morgen, wo Emilia im Sonnenschein getanzt hatte. "Ich wünschte, du wärst in jedem Moment für den Rest deines Lebens glücklich."
Nun war Emilia es, die für einige lange Sekunden schwieg. "So funktioniert das Leben nicht. Man braucht auch traurige Momente, um die Glücklichen schätzen zu können."
Ich starrte auf die Straße vor mir. Natürlich hatte sie Recht. Und trotzdem war es das, was ich für sie wollte. Ich blickte auf die Anzeige des Handy-Displays, dass mir verriet, dass wir einige Stunden an Fahrt vor uns hätten.
Nach etwa einer halben Stunde bemerkte ich, dass Emilia einnickte und machte das Radio leiser. Ich fuhr weiter und weiter, ohne selbst müde zu werden.
Kurz vor dem Ende des Lebens wurde man nicht müde. Ich beobachtete den Himmel und die Wolken und die Vögel und die vorbeirauschende Natur, die mächtigen Bäume und die saftig-grünen Wiesen. Die Windräder und die Getreidefelder, die Wohnmobile und die Familienautos.
Hin und wieder sah ich hinüber zu Emilia, der eine Strähne des hellen Haares ins Gesicht gefallen war. Es juckte mich in den Fingern, die Strähne zurück hinter ihr Ohr zu streichen, aber ich hielt mich zurück. Ich war dankbar, dass ich noch ein paar Stunden Zeit mit ihr verbringen durfte und wollte ihr all das wirklich nicht noch schwerer machen.
Nach einer Stunde wachte Emilia auf und nach einer weiteren Stunde nahm ich die Ausfahrt zu einer Autobahnraststätte. Ich parkte und wir stiegen aus dem Auto. Auf dem kleinen Stück Fußweg zum Gebäude fiel mir auf, dass Emilia einigen Abstand zu mir hielt. Mit weiterem Überlegen fiel mir auf, dass das jedoch ein normaler Abstand zwischen zwei Menschen war, die sich nicht gut kannten. Emilias Abstand war viel geringer zu mir gewesen, als ich noch den Körper von einem Dämon gehabt hatte.
Drinnen angekommen ging Emilia zum Sanitärbereich, während ich schon einmal etwas zu Essen bestellte. Als Emilia und das Essen da waren, setzten wir uns an einen der kleinen Tische am Fenster. Für einen Sonntagmittag war es erstaunlich leer hier. Ein paar Familien mit Kindern und eine Gruppe von jungen Frauen, die etwa in unserem Alter waren. Ich bemerkte ihre Blicke und fragte mich, ob sie Emilia und mich für ein Paar hielten.
Seufzend atmete ich aus und starrte aus dem Fenster auf die vorbeirasenden Autos. Trotz ganzen neunzehn Lebensjahren hatte ich noch nie etwas wie eine richtige Beziehung gehabt. Und erst jetzt dämmte es mir, dass ich all das gerne ernsthaft mit jemanden erleben würde. Keine einmaligen Sachen oder Herumgespiele. Sondern ernsthaft mit jemanden, auf den man sich voll und ganz einlassen würde. Mit jemand tollem und einfühlsamen und lebensfrohem wie Emilia es war.
Ganz schön ironisch, wie ich diese Eingebung bekam. Erst dann, wenn es schon zu spät war.
"Clyde", hörte ich meinen Namen plötzlich in mein Bewusstsein dringen, begleitet von einer Hand, die in sanften Bewegungen in mein Gesicht winkte. "Alles okay bei dir?"
"Ja", antwortete ich Emilia, die sich leicht über den Tisch lehnte, mich genau betrachtete und bemühte mich, ihren wachsamen Blickkontakt standfest zu erwidern.
"Wenn du mir bei der riesigen Portion nicht hilfst, schaffe ich das nicht alleine", sagte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf die Pommes auf dem Tablett zwischen uns.
Obwohl ich wusste, dass in der Hölle eines Tages der Tag kommen würde, wo ich mir wünschen würde, das hier gegessen zu haben, konnte ich es einfach nicht. Mir war der Appetit vergangen.
"Wir können den Rest auch einpacken", erwiderte Emilia schulterzuckend und begann kurz darauf, das Essen zusammenzupacken.
Ich beobachtete Emilia und streckte die Hand zu ihrem Gesicht aus, um ihr einen kleinen Krümel vom Mundwinkel zu wischen. Doch Emilia zuckte zusammen, sobald sich meine Hand auf sie zubewegte und ging leicht mit ihrem Körper zurück.
Für einen Moment verweilte meine Hand in der Luft, dann zog ich sie schnell zurück und ärgerte mich über mich selbst. Vollidiot.
"Entschuldige", sagte ich atemlos.
"Nein, alles gut", erwiderte Emilia und wischte sich selbst übers Gesicht. "Jetzt alles sauber?"
"Ja", antwortete ich etwas abwesend, schon wieder halb in Gedanken. "Du hattest weniger Angst vor mir, als ich noch ein Dämon war", sprach ich dann aus, was mir nun schon mehrmals aufgefallen war.
Emilia sah mir einen Moment in die Augen und dann irgendwo anders hin. "Da hat dein Aussehen ja auch zu deinem Inneren gepasst."
Ich grinste, amüsiert von ihrer Stichelei. "Willst du mir damit gerade etwa sagen, dass ich gut aussehe?"
Emilia lachte. "Nein... Ja... Ich meine, das war eigentlich sowieso ein Scherz. Ich habe den Eindruck, dass du dich sehr verändert hast und dein Charakter gar nicht mehr so... dämonisch ist."
"Vielleicht, ja", murmelte ich nachdenklich.
Langsam verließen wir die Raststätte und setzten uns wieder ins Auto. Ich fuhr los und als ich mich in den Verkehr eingefädelt hatte, räusperte sich Emilia. "Also, was hat sich verändert?", fragte sie leise.
Für ein paar Sekunden starrte ich wortlos auf die Straße und suchte nach einer Antwort.
"Bezüglich deines undämonischen Charakters, meine ich", fügte Emilia nach einer Weile der Stille hinzu, was nicht nötig gewesen wäre. Ich wusste, was sie meinte.
"Meine Einstellung zum Leben, nehme ich an", sagte ich zögerlich. "Ich bin nicht plötzlich ein anderer Mensch..." Meine Stimme, fast so leise wie ein Flüstern, kam plötzlich kurz zum Stocken, bevor ich meine Worte wiederfand. "Aber ich habe realisiert, wie wertvoll das Leben ist und dass man nur ein einziges davon hat."
"Und das wusstest du davor nicht?", fragte Emilia nach, mit einer sanften Stimme, die sich langsam einen Weg in meinen Kopf bahnte.
"Zumindest nicht bewusst. Mir war vieles egal, was mir nicht hätte egal sein sollen. Ich glaube, ich hatte einfach nur Angst, verletzt zu werden."
Ich spürte, wie mich Emilia von der Seite aus anblickte. "Von deinen Eltern?", fragte sie.
Mein Bauch verzog sich zu einem schmerzhaft ziehenden Krampf, als ich die Frage hörte. "Wie könnte ich vor dir über meine Eltern sprechen... Wenn deine..." Meine Stimme versagte und der Griff meiner Finger um das Lenkrad versteifte sich.
"Schmerz ist kein Wettkampf, Clyde", erwiderte Emilia nur. Im Augenwinkel sah ich, wie sie sich zum Fenster wandte und den vorbeirauschenden Bäumen hinterher sah.
"Ich hatte das Gefühl, dass meine Eltern ständig etwas an mir auszusetzen hatten", erzählte ich schließlich leise. "Sie versuchten mich zu verändern, weil ich irgendwie nicht in ihre Vorstellungen als Sohn passte. Bei meinem Bruder, Jonah, war das anders. Er hatte gar keine Schwierigkeiten, in die Familie zu passen. Ich war irgendwie eifersüchtig und dickköpfig und immer, wenn sie wollten, dass ich in eine bestimmte Richtung ging, schlug ich genau die andere ein. Irgendwann waren wir so lange in verschiedene Richtungen gegangen, dass wir uns nicht mehr sehen und hören konnten, nehme ich an."
"Warst du deswegen immer so wütend auf die Welt?"
"Ja, das war ich. Wütend und enttäuscht und... ängstlich. Aber ich habe eine Menge schlimme Dinge in meinem Leben getan und selbst all das rechtfertigt es nicht."
"Nein", stimmte Emilia mir zu. "Aber weißt du, trotz allem bist du wohl der einzige, der eben nicht nur ein einziges Leben hatte. Du hast eine neue Chance bekommen und kannst aus deinen Fehlern lernen. Ab jetzt kannst du es besser machen."
Dabei hatte Emilia vollkommen Recht. Und ich würde es besser machen.
Ich räusperte mich. "Skippy. Das ist übrigens der Name von unserem Nachbarshund gewesen", erzählte ich nun.
Emilia lachte, was ich mir erhofft hatte, und mir wurde warm ums Herz.
"Warum hast du mir das nicht einfach früher erzählt?", fragte sie. "Ich hatte mir den Kopf darüber zerbrochen, weißt du. Was habe ich überhaupt für Gemeinsamkeiten mit einem Hund?"
Ich zuckte mit den Schultern und grinste. "Er erinnerte mich einfach an dich."
Seufzend betrachtete ich Emilia kurz, die leise lachend den Kopf schüttelte und wandte meinen Blick schnell wieder der Straße zu. "Ich bin oft mit ihm spazieren gegangen. Damals hab ich mir so sehr einen eigenen Hund gewünscht. Aber meine Mutter wollte keine Tierhaare im Haus haben."
"Das ist doch das schönste am Erwachsen werden. Du kannst selbst entscheiden, wie dein Leben verlaufen soll. Weißt du, du könnest gleich zehn Skippy's haben, wenn du möchtest und einen Schal aus den Hundehaaren stricken", erwiderte Emilia.
Emilias Optimismus war verführerisch und ich bemühte mich sehr, mich den Träumen über so eine Zukunft nicht zu lange hinzugeben. Es gab keine Hoffnung für jemanden, der schon bald ein toter Mann war.
Emilia und ich sprachen noch eine Weile - über die Vergangenheit und die Zukunft und alles, was dazwischen lag. Es fühlte sich an, als befänden wir uns gerade in einem Kennenlernen. Doch Emilia wusste nicht, dass es eigentlich ein Abschied war. Der Beginn eines stundenlangen Abschieds, in dem wir uns nur zufällig näher kennenlernten.
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