23 | Welcome

| ☼︎ Emilia ☼︎ |

Welcome.

Ich starrte auf die Aufschrift unserer neuen Fußmatte, bevor ich behutsam die Sohlen meiner Schuhe darüber rieb. Meine Schuhe waren jetzt schwarz. Ich hatte lange gebraucht, um sie im Keller zu finden. Das Blut hatte ich nicht mehr herausbekommen. Als ich die Tür aufschloss und öffnete kam mir frische Luft und Licht entgegen.

Ich zog meine Schuhe aus und steuerte die Küche an. Dort stellte ich die Tüte mit den Einkäufen auf dem Küchentresen ab, holte eine Vase aus einem Schrank und füllte sie mit frischem Wasser. Ich griff nach den Sonnenblumen aus dem Blumenladen, schnitt die Stängel schräg an und ließ sie in die Vase gleiten. Während ich die Einkäufe einsortierte ließ ich Teewasser aufkochen, machte mir dann einen Kamillentee und setzte mich an den Küchentisch. Ich betrachtete die strahlend gelben Blumen in der Vase vor mir.

Während ich an dem Tee nippte erinnerte ich mich daran, zwischendurch tief ein- und auszuatmen. Endlich hatte ich das Gefühl, hier wieder atmen zu können. Zuvor hatte sich jeder Atemzug zu laut angefühlt und mich daran gehindert, dass ich in dieser Wohnung vollkommen verschwinden konnte. Mit den Schatten verschmelzen konnte.

Mein Vater war jetzt schon eine Woche lang in der Entzugsklinik. Ich hatte die letzten Tage die Zeit nach der Schule dafür genutzt, alle Gardinen, Kissen und Decken zu waschen, die Teppiche auszuklopfen, den Staub von den Schränken zu wischen und die klebrigen Böden zu putzen. Ich hatte die Ritzen zwischen den Badezimmerfliesen geschrubbt und alle Fenster aufgerissen und durchgelüftet. Ich hatte die Bilder an den Wänden entstaubt und wieder gerade gehangen. Es war lange her, dass ich diese Fotos richtig gesehen hatte.

Wir waren noch nicht über den Berg, das wusste ich. Das würden wir niemals vollständig sein. Es konnte sein, dass mein Vater den Entzug nicht schaffen würde. Oder dass er rückfällig werden würde. Aber ich konnte nicht anders, als mir endlich wieder eine gemeinsame Zukunft zu erhoffen. Auch wenn es umso mehr wehtun würde, wenn diese Hoffnung zerschlagen werden würde.

Ich warf einen Blick auf die Uhrzeit meines Handys. Die Besuchszeit der Klinik begann am Wochenende etwas später, also hatte ich noch genug Zeit, bis ich losfahren konnte. Ich fragte mich, wie es meinem Vater heute ging. Ihn zu besuchen war nicht immer angenehm. Manchmal war er schlecht gelaunt und gereizt und das brachte mich augenblicklich gedanklich zu einigen schlimmen Tagen zurück. Jedoch konnte ich ihm das kaum verübeln. Ich hatte kaum eine Ahnung davon, wie schwierig ein Entzug sein musste. Weiterhin hatte ich auch manchmal das Gefühl, dass meine Besuche ihm gut taten und er sich weniger einsam und allein fühlte.

Und in der restlichen Zeit beschäftigte ich mich mit mir. Ich flüchtete mich nicht mehr in Bücher und andere Welten. Ich dachte viel an die Zukunft und die Vergangenheit und viel an Sam und das, was ich damals hätte besser machen können. Ich versuchte, alle jahrelang verdrängten Erinnerungen zu durchdenken, mich damit zu beschäftigen und das alles irgendwie zu verarbeiten.

Irgendwie hatte ich Sam nie losgelassen. Ich hatte ihren Geist stets fest mit meinen Fingern umklammert und ihn an mich gekrallt, anstatt ihm einen warmen Platz in meinem Herzen zu geben und den Rest loszulassen. Meine Schuldgefühle zu realisieren, sie zuzulassen und schließlich damit abzuschließen war nicht einfach. Auch, weil das viele negative Gefühle und Tränen mit sich brachte.

Und das ironische an der ganzen Sache war, dass erst der Teufel mich auf den Weg meiner Heilung gebracht hatte.

Ein Klingeln ertönte und ich brauchte zwei Sekunden, um zu realisieren, dass das die Klingel an der Haustür war. Ich hatte dieses Geräusch ewig nicht mehr gehört. Wir hatten nie etwas bestellt und ich konnte mich nicht daran erinnern, wann wir das letzte Mal einen Besucher hatten. Ich stellte meine Tasse ab, stand auf und ging mit schneller klopfendem Herz zur Tür.

Ging es meinem Vater gut? Kam jemand, um mir zu berichten, dass ihm irgendwas passiert war?

"Ja?", sagte ich atemlos in das Telefon der Freisprechanlage hinein, das ich neben der Wohnungstür aus der Halterung hob.

"Emilia?"

Mein Herz machte einen Satz und ich stockte mit meiner Antwort. Ich hatte mich noch nicht mit dieser ganzen Sache beschäftigen können. Ich hatte versucht, eine Sache nach der anderen anzugehen und daher jeden Gedanken an ihn aufgeschoben. Ein Mensch konnte sich eben nicht mit allem gleichzeitig beschäftigen.

"Clyde?", antwortete ich schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit.

"Es tut mir wirklich leid, hier einfach so aufzutauchen. Aber wenn du gerade Zeit hast, würde ich gerne über etwas mit dir reden. Etwas Wichtiges."

Stocksteif stand ich an der Wohnungstür. Ich hatte Clyde nicht mehr gesehen, seit wir das Gespräch auf dem Schuldach geführt hatten. Er und Jonah waren seitdem nicht mehr in der Schule gewesen. Was ich als logisch empfunden hatte, da die beiden sich sicher erholen mussten und erst einmal Zeit mit der Familie verbringen wollten.

Er hat niemanden, der ihm helfen würde.

Ich erinnerte mich plötzlich, als wäre es erst gestern gewesen. Das hatte Xathros über Clyde gesagt. Das hatte Clyde also über sich selbst gesagt.

Warum hatte er mich ausgewählt? Warum war ich die einzige gewesen, die seinen Platz hatte einnehmen können? Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Clyde mir mehr bedeutet hatte als seinen eigenen Eltern. Andererseits realisierte ich, dass ich überhaupt nichts über Clyde und sein Leben zu wissen schien.

"Okay", erwiderte ich und drückte den Knopf, damit Clyde unten die Haustür öffnen konnte. Er schien meine Sicht bei unserem letzten Gespräch wirklich verstanden zu haben, deshalb glaubte ich nicht, dass er mit irgendetwas Belanglosem zu mir kommen würde.

Ob es um Jonah ging? Ging es ihm gut? Ich wusste von Clyde, dass er ebenfalls aufgewacht war. Ansonsten hatte ich nichts weiter über ihn gehört, auch keine Gerüchte in der Schule. Über Clyde hingegen wurde jedoch täglich getuschelt und gemurmelt. Was wahrscheinlich daran lag, dass ihn so viele in der Schule gesehen hatten, als er zu mir auf das Dach gekommen war.

Ich öffnete die Wohnungstür und lauschte seinen Schritten, als er die Treppenstufen hinaufstieg. Zuerst sah ich seinen vollen, schwarzen Haarschopf mit den leicht zerzausten Haaren. Seine Haut hatte eine gesündere Farbe bekommen und er war nicht mehr so dünn, wie als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Die blauen Augen blickten mich an, als er schließlich vor mir stand.

Viele Mädchen in der Schule würden seines guten Aussehens wegen sicherlich heimlich für ihn schwärmen, wenn er etwas sozialer gewesen wäre und mehr Interesse für sie gezeigt hätte.

Ich richtete meinen Blick ein wenig nach oben. Er war nicht so groß wie Xathros es gewesen war, trotzdem überragte er mich um etwas mehr als einen halben Kopf.

Ein kleiner Stich fuhr mir durchs Herz. Ich wusste, dass es dämlich war, weil die eigentliche Person genau vor mir stand, aber ich vermisste Xathros. Ich vermisste den grimmigen Dämon, der mit jedem Tag mehr zu einem Freund geworden war. Ich blinzelte und versuchte damit, die Erinnerung an ihn zu verscheuchen.

"Hey", sagte Clyde nach ein paar Sekunden des Schweigens und schenkte mir ein halbes Lächeln.

"Was ist los?", fragte ich und schob beiseite, dass sich ein warmes, positives Gefühl in mir ausbreitete. Ich freute mich, dass er hier war, und das sollte nicht so sein.

Ich bemerkte, wie Clyde mit den Augen mein Gesicht absuchte und mich genau betrachtete. Dann fuhr sein Blick zu meinen Armen und begutachtete auch diese. Mich unwohl fühlend verschränkte ich die Arme vor der Brust.

"Darf ich hereinkommen?", fragte er, nachdem er mit seiner Inspektion fertig war.

Ich zögerte. Würde das Gespräch so lange dauern, dass er herein musste? So sehr ich Xathros vermisste und so viel Bewunderung ich für Clyde hatte, so wollte ich mit dieser Person eigentlich nichts mehr zutun haben. Ich musste lernen, mich guten Menschen zuwenden. Außerdem hatte ich momentan nur die Kraft für einen einzigen Menschen, der sich gerade grundlegend verändern wollte, und das war mein Vater. Doch selbst diese Kraft fehlte mir manchmal. Und nebenbei hatte ich noch eigene Dämonen, mit denen ich zu kämpfen hatte.

Ich betrachtete Clydes ernsten Blick für einen Moment, dann seufzte ich und trat beiseite.

Clydes Blick glitt in die Wohnung hinein. Ich sah, wie sich seine Augen ein klein wenig weiteten. Dann zog er sich die Schuhe aus, trat ein und betrachtete während des Gehens die Fotos an den Wänden des Flures.

Ich schloss die Wohnungstür und folgte Clyde, der sich ausgiebig umsah. Er fand seinen Weg in die Küche und sah sich auch dort um, bis er sich langsam einmal im Kreis gedreht hatte. Mir zugewendet blieb er schließlich stehen. "Wo ist dein Vater?"

Ich wendete meinen Blick von ihm ab und räumte meine Teetasse in die Spülmaschine, um irgendetwas zu tun zu haben. "In einer Klinik."

Als ich keine Antwort hörte, begann ich, mit meinen Fingern zu spielen und fühlte mich verpflichtet, noch irgendetwas zu sagen. "Der Entzug läuft gut, schätze ich."

"Das ist schön zu hören", sagte Clyde irgendwo hinter mir mit aufrichtigem Tonfall.

Plötzlich, wo ich in diesem Moment nicht mehr allein war, überkam mich doch ein Gefühl großer Einsamkeit. Ich wünschte mir, dass ich eine Person hätte, mit der ich über all das reden konnte. Die sich so aufrichtig über jeden kleinen Schritt für mich freuen und meine Hoffnungen teilen würde. 

"Also, was wolltest du mir sagen?", fuhr ich fort und brachte die Überwindung auf, mich zu ihm umzudrehen.

Clyde, der mich wohl die ganze Zeit angesehen hatte, wendete nun den Blick ab. "Ich brauche deine Hilfe, Emilia."

"Meine Hilfe?", wiederholte ich verdutzt.

"Ich muss etwas tun, was ich dir nicht verraten kann", sagte Clyde. "Es hat etwas mit meiner Vergangenheit zutun. Und es ist sehr, sehr wichtig. Ich weiß, dass du mir nicht mehr vertrauen kannst. Aber schon zum zweiten Mal bist du die einzige, die mir helfen kann. Alleine schaffe ich es nicht."

"Was?", war das einzige, was ich hervorbrachte.

"Würdest du mir helfen, Emilia?", fragte Clyde, und ein Bild von Xathros vor der Scheibe eines Krankenzimmers erschien vor meinem inneren Auge. Würdest du ihm helfen, Emilia?

"Es wird das letzte Mal sein, dass ich um deine Hilfe bitte", fügte Clyde hinzu.

"Und du kannst mir nicht sagen, wofür?", hakte ich verwirrt nach.

"Im Moment nicht, nein", antwortete er und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, worum es sich dabei handelte.

"Und was müsste ich tun?", forschte ich misstrauisch weiter.

"Mir einfach nur ein paar Stunden deiner Zeit schenken", antwortete Clyde vage. "Und spätestens morgen bist du sicher wieder zu Hause."

"Morgen? Ich verstehe nicht", meinte ich. Hatte er vielleicht ein schlechtes Gewissen und mir eine Überraschung oder so vorbereitet? Aber ich hatte deutlich gemacht, dass ich Abstand zu ihm wollte. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mich wieder anlügen würde. Darüber, dass es sich um etwas Wichtiges handelte.

"Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht so wichtig wäre." Clyde blickte mich mit ernsten Augen an.

Wortlos blickte ich ihn an und merkte jetzt schon, dass ich nicht würde nein sagen können. Vielleicht war ich naiv. Vielleicht war es vernünftiger, mich an meinen Plan zu halten und mich nur auf meinen Vater und mich selbst zu konzentrieren. Aber vielleicht brauchte diese Welt auch Menschen, die zu einer verzweifelten Bitte nicht nein sagten und versuchten, etwas Gutes zu tun und Anderen zu helfen.

"Gut, ich helfe dir", seufzte ich also.

"Ich danke dir", erwiderte Clyde. "Danke, Emilia."

"Ich muss nur noch einen Anruf machen, dann bin ich für dich da", teilte ich Clyde mit, der verständnisvoll nickte.

"Lass dir Zeit, ich warte schonmal im Auto."

Im Auto? Ohne weitere Nachfragen sah ich zu, wie er an mir vorbeiging und die Wohnung verließ.

Seufzend griff ich zu meinem Handy und rief in der Klinik an. Ich bat darum, dass man meinem Vater mitteilen würde, dass ich erkältet war und ihn nicht anstecken wollte. Dass ich dafür am Montag vorbeischauen würde.

Dann packte ich die nötigsten Sachen zusammen, sah im Flur noch einmal in die Wohnung zurück und zog dann die Tür hinter mir zu.

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