22 | Die Wahrheit

| ♆︎ Clyde ♆︎ |

Ich blieb mitten auf dem Schulhof stehen. Ich spürte, wie die Schüler stehen blieben und mich anstarrten. Währenddessen suchte ich die flachen Dächer der Gebäude flüchtig mit den Augen ab. Als ich in der Ferne etwas sah, kniff ich die Augen zusammen und erkannte schwach, dass da jemand stehen könnte.

Emilias Vater hatte also Recht gehabt. Emilia war hier in der Schule.

Ich lief los, wich Menschen aus, rempelte Menschen an. Jeder, der mir ins Gesicht sah, blieb stehen und starrte mich mit großen Augen an. Ich schob mich an ihnen vorbei und rannte zum Treppenhaus. Ich nahm zwei Stufen auf einmal und lief, bis meine Seiten und Lungen brannten. Nach vier Stockwerken war ich endlich oben angekommen und stieß die Türen zum Dach auf.

Emilia stand mit dem Rücken zu mir, die Arme auf dem Geländer abgestützt, und schaute vorwärts auf die Stadt hinaus. Völlig außer Atem starrte ich sie an und spürte, wie sich mein Herzschlag noch mehr beschleunigte.

Als die Tür hinter mir mit einem lautem Geräusch zufiel, drehte Emilia sich zu mir um. Als ich sie anblickte begriff ich erst, wie froh ich war, sie zu sehen. Ich unterdrückte das heftige Bedürfnis, sie einfach in meine Arme zu schließen und betrachtete sie genauer.

Ihre Augen und die Ringe darunter verrieten mir, dass sie schon lange Zeit keinen Schlaf mehr gefunden hatte. Aber ihr Körper schien aus meinem Blickwinkel keine äußerlichen Verletzungen vorzuweisen. Was war in der Hölle passiert? Warum war sie nach solchen Erlebnissen direkt wieder in der Schule und blieb nicht erst einmal zu Hause? Etwa wegen ihrem Vater?

"Clyde", sagte Emilia und ich zuckte beinahe zusammen, als sie mich zum ersten Mal mit meinem richtigen Namen ansprach. Und außerdem deswegen, weil es ungewohnt kalt klang. Hatte etwa immer solch eine Wärme in ihrer Stimme gelegen, als sie mich noch mit Xathros angesprochen hatte?

Ein seltsames Gefühl überkam mich. Sie wusste nicht, dass wir uns kannten. Sie wusste nicht, dass wir zwei uns auf eine Rettungsmission begeben hatten, Tage und Nächte gemeinsam verbracht hatten, wir gemeinsam vor Engeln und Dämonen geflüchtet und gemeinsam in der Hölle gelandet waren.

Für sie war ich im Grunde nichts als ein Fremder.

"Du bist tatsächlich aufgewacht", fügte Emilia hinzu, als ich nichts erwiderte. Tatsächlich? Sie war bereits der Annahme gewesen, dass ich aufgewacht war? Auch ihr Tonfall hatte alles andere als überrascht geklungen. Entweder der Teufel hatte ihr das verraten oder die Neuigkeiten verbreiteten sich verdammt schnell in diesem Ort. Was hatte der Teufel ihr wohl alles verraten? Wie viel wusste sie?

"Wie geht es deinem Bruder?", fragte sie und riss mich aus meinen Gedanken heraus.

"Gut. Ist heute früh aufgewacht. Muss aber noch zur Kontrolle im Krankenhaus bleiben", antwortete ich knapp.

"Wie schön", erwiderte Emilia mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. "Ah, entschuldige. Wahrscheinlich wolltest du etwas Ruhe auf dem Dach und ich muss sowieso mal los."

"Ist ein schöner Ausblick hier", erwiderte ich nur, ihre Aussage ignorierend beiseite schiebend.

Für einen winzigen Moment sah Emilia mir direkt in die Augen und ich stockte. Sie sah so verdammt traurig aus. Die Augen leer und müde. Nicht strahlend und funkelnd, wie ich sie in Erinnerung hatte. Wenn sie nicht wusste, dass ich Xathros gewesen war, dann musste sie denken, dass Xathros noch in der Hölle sein musste. Dass er gerade gefoltert werden würde. Oder vielleicht schon tot war.

Emilia drehte sich wieder zum Ausblick um. "Ja", stimmte sie mir zur Schönheit des weiten Ausblicks zu. "Genau genommen dürften wir auch nicht hier sein. Ich habe schonmal eine Abmahnung vom Hausmeister bekommen." Sie seufzte, drehte sich von dem Ausblick weg und griff nach ihrem Rucksack neben sich.

"Ganz schon draufgängerisch, Skippy."

Emilia stockte mitten in der Bewegung. Ihr Körper war stocksteif geworden. Ich konnte sehen, wie sie starr geradeaus starrte. Dann richtete sie sich langsam auf und drehte ihren Kopf zu mir. "Was hast du gerade gesagt?"

Ein paar Sekunden vergingen, in denen ich mein Herz mit voller Wucht hart gegen meinen Brustkorb schlagen hörte. "Ich muss dir etwas erzählen, Emilia", sagte ich nur, ohne mich zu wiederholen. Sie hatte verstanden, was ich gesagt hatte. Das konnte ich ihn ihrem Gesichtsausdruck sehen. "Und ich hoffe, dass du mir für einen Moment zuhören kannst."

Emilia starrte mich ohne eine Antwort an. So lange, bis es mir unangenehm wurde. Ich konnte wortwörtlich sehen, wie sie sich fragte, wie das sein konnte. Wie der Dämon Xathros die ganze Zeit Clyde Clemonte gewesen sein konnte. Und wie ich sie so hatte anlügen können.

"Ich würde es dir gerne von Anfang an erklären, wenn ich darf", brachte ich hervor, erstaunt darüber, wie meine Stimme beinahe zitterte. Innerhalb weniger Sekunden war die Atmosphäre schrecklich ernst geworden. Und ich merkte, dass ich Angst hatte.

Irgendwie hatte ich die ganze Zeit nur daran gedacht, dass sie sich vielleicht darüber freuen würde, dass Xathros nicht tot war oder gefoltert wird. Dass sie sich keine Sorgen mehr über ihn machen musste. Allerdings wurde mir gerade bewusst, dass Emilia mich in wenigen Minuten vielleicht hassen könnte.

Ich atmete tief durch und sah an ihr vorbei zu den entfernten Bäumen der umliegenden Wälder, ohne diese wirklich anzusehen. "Vor drei Monaten hatte ich einen schweren Autounfall. Es war dunkel und nass auf den Straßen. Ich hab die Kurve viel zu schnell genommen. Ich hatte meinen kleinen Bruder auf dem Beifahrersitz. Ich bin so schnell gefahren, weil ich ihm Angst machen wollte. Einfach nur, weil ich angepisst gewesen war, ihn abholen zu müssen. Und in den nächsten Sekunden spürte ich keinen Schmerz, sondern einfach nur, wie das Leben meinen Körper verlässt."

Mit zitterndem Atem schloss ich meine Augen. Die Erinnerung an diese Nacht sendete ein eiskaltes Schaudern durch meine Knochen.

"Ich bin alleine in der Hölle aufgewacht", fuhr ich fort. "Ich hatte keine Ahnung, wo ich war oder wo mein Bruder war. Man hat mich gezwungen, mit der Arbeit zu beginnen. Du hast ja gesehen, wie ein Teil davon aussieht. Für ein paar Vorteile habe ich dann angefangen, für den Teufel zu arbeiten. Die ganze Zeit über dachte ich, ich wäre tot. Doch dann hat mir Luzifer erzählt, dass nur meine Seele in die Hölle gekommen war. Und mein menschlicher Körper sich noch immer an das Leben klammerte."

Reglos sah Emilia mich an und ich erkannte nicht, ob sie mich verstand oder nicht. Aber ich wollte ihr so viel wie möglich mitteilen, während sie mir noch zuhörte.

„Luzifer erzählte mir, dass ein anderer Mensch meinen Platz einnehmen könnte. Einer, der mich liebt. Luzifer zeigte mir dein Gesicht, und ich hätte schwören können, dass ich es noch nie gesehen hatte. Ich wusste da noch nicht einmal, dass wir auf die gleiche Schule gingen. Das macht es nicht besser, ich weiß. Es tut mir leid", brachte ich die entschuldigenden Worte hervor, obwohl diese und jegliche andere Entschuldigung nicht ausreichen würde.

„Du wolltest mich in die Hölle locken?", waren Emilias erste Worte, als könnte sie nicht begreifen, was sie da hörte. "Die ganze Zeit?"

„Anfangs zumindest", erwiderte ich und spürte, wie sich Scham und Angst in meinem Körper ausbreitete.

„Du hast mir erzählt, dass wir Clydes Seele retten würden." In Emilias Augen war Leben gekehrt, allerdings wirkten sie nur lebendig, weil sie so einen verletzten Ausdruck hatten.

„Ja", erwiderte ich. Das hatte ich. "Aber meine Seele war nicht in der Zwischenwelt. Sondern in der Hölle in dem Körper des Dämonen, den du als Xathros kennst."

Emilia blickte mich an und ich erkannte, dass ihre Augen einen feuchten Schimmer bekamen. "Xathros hat mir wirklich etwas bedeutet", sagte sie.

Das wusste ich. Immerhin hatte sie sich in der Hölle unbewusst für ihn entschieden und nicht für Clyde.

"Ich kann dir nicht beschreiben, wie leid mir das alles tut und wie sehr ich wünschte, dass ich dir nicht so wehgetan hätte. Ich weiß, dass ich das niemals wieder gutmachen kann, aber ich hoffe trotzdem, dass ich es irgendwann irgendwie besser machen kann."

Emilia sah mich noch für einen kurzen Moment an, dann wendete sie den Blick ab. „Danke, dass du mir die Wahrheit gesagt hast, Clyde. Du hättest das alles auch geheim halten können. Das hat sicher Mut gefordert." Sie stockte für eine Sekunde, dann atmete sie einmal tief ein und aus. „Und ich bin wirklich froh, dass es dir gut geht und dass du nicht mehr in der Hölle bist. Aber ich kann das einfach nicht."

„Was kannst du nicht?" Meine Worte hallten schienen noch in der Luft nachzuhallen. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, sie ausgesprochen zu haben.

„Ich kann nicht noch mehr Menschen in meinem Leben haben, die ihre eigenen Wünsche rücksichtslos über die Gefühle Anderer stellen. Ich kann einfach nicht."

Sie sprach es nicht laut aus, aber wir wussten beide, dass ich so ein Mensch war. Ich hatte sie angelogen, ausgenutzt und manipuliert. Wollte einen unschuldigen Menschen für meine eigenen Vergehen in der Hölle leiden lassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ich war egoistisch gewesen und hatte seit Jahren nur an mich selbst gedacht.

„Es tut mir leid", sagte sie in einem Tonfall, der mir vermittelte, dass sie gerade beendete, was immer auch zwischen uns war. "Unsere Reise hat mir einen Sinn für mich selbst gegeben. Ich dachte immer es wäre okay, wie ich behandelt werde. Dass meine Mutter mich für einen anderen Mann zurückgelassen hat oder dass mein Vater mich aus Frustration geschlagen hat. Dass meine Nachbarn nicht eingegriffen haben, obwohl alle wussten, worunter ich zu leiden hatte und dass mich alle in der Schule meiden weil ich alte Klamotten trage und deswegen meine blauen Flecken ignorieren. Aber die Schlimmste war ich selbst, weil ich dachte, dass es okay sei, mich so zu behandeln. Und deshalb muss ich jetzt anfangen, Partei für mich selbst zu ergreifen."

Wortlos sah ich Emilia an und tatsächlich bemerkte ich einen Unterschied in ihrem Auftreten. Sie wirkte ein wenig größer als sonst, aufgerichteter, und die Schultern ein bisschen zurückgeschoben. Ihr Gesicht, welches ich anfangs als naiv aussehend empfand, wirkte nun ernst. Die blauen Augen, welche immer so gutgläubig auf mich gewirkt hatten, waren nun voller Tiefe, in die man hinabsinken konnte.

"Das bin ich Sam schuldig", fuhr Emilia fort. "Ich muss aufstehen und beginnen, meine Schritte vorwärts zu gehen."

"Ich verstehe", brachte ich unterstützend hervor, weil ich wusste, dass dies das Richtige war.

"Ich bin mir bewusst, dass du deinen Plan geändert hattest", warf Emilia ein. "Jetzt macht das alles auch einen Sinn. Unsere Flucht vor den Dämonen. Deinen Sinneswandel bezüglich den Engeln und unserer Rettungsmission. Ich weiß das alles. Aber ich weiß auch, dass Menschen sich nicht einfach so über Nacht ändern können."

Ihre Stimme wurde zittrig und ich sah, wie sich Tränen in ihren Augen bildeten.

Ich verschloss die Augen vor diesem Anblick und atmete durch.

Im Gegensatz zu dem hier war die Hölle nichts. Emilia weinen zu sehen, das war die größere Bestrafung. Es traf mich mit einem heftigen Schlag, für alles, was ich je getan hatte, um andere Menschen zu verletzen. Das hier tat mehr weh, als mir jemals irgendetwas im Leben weh getan hatte.

Nein, Menschen änderten sich nicht über Nacht. Ich würde eine lange Zeit brauchen, um den richtigen Weg zu finden. Um mich wirklich zu verändern und eines Tages die richtigen Entscheidungen aus Überzeugung und moralischem Grundsatz zu treffen. Und Emilia hatte Recht, das passierte nicht so einfach. Und ich sollte mich von ihr fernhalten, solange ich sie auch nur noch einmal verletzen könnte.

"Du hast Recht, Emilia", sagte ich so leise, dass ich fast flüsterte, die Augen noch immer geschlossen. "Und du bist stärker, als du es glaubst, zu sein."

Ich öffnete die Augen, sah Emilia noch einmal an und drehte mich um.

Unter anderen Umständen würde ich mit der Hoffnung gehen, vielleicht irgendwann wieder mit Emilia befreundet sein zu können. Aber Hoffnung war nichts mehr, was ich mit mir trug. Meine Zeit war bald vorbei. 

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