20 | Verstaubte Erinnerungen
| ♆︎ Clyde ♆︎ |
Als ich wach wurde, war ich noch immer benommen. Es fühlte sich an, als müsste ich mich selbst unter enormer Anstrengung aus dem Schlaf herausholen.
Endlich schaffte ich es, die Augen zu öffnen. Fuck, was war passiert?
Vorsichtig stützte ich mich auf die Unterarme und richtete mich dann langsam auf. Mein Körper fühlte sich taub und schläfrig an.
Ich sah mich in dem Zimmer um. Krankenhaus. Ich war im Krankenhaus.
Mit einem Schlag kam alles zurück, was passiert war, und Panik fuhr in meinen Körper.
Emilia war in der Hölle zurückgeblieben. Ich hatte Jonah aufgetragen, sie zurück zu holen. Aber wer wusste schon, ob er das in seiner Engelform mitbekommen hatte? Wenn er das nicht gehört hatte, würde er vielleicht bald von den Engeln erfahren, dass sie in ihrem Schutzauftrag versagt hatten und Emilia in der Hölle war. Dann würde Jonah wissen, dass ich meinen ursprünglichen Plan geschafft hatte und hierher kommen, um sich zu versichern, dass ich meinen Teil der Abmachung einhielt: Frieden mit meinen Eltern zu schließen. Und dann musste ich ihm irgendwie mitteilen, dass er Emilia doch da rausholen sollte. Auch, wenn ich mitgehen und dort bleiben müsste.
Wie es ihr wohl ging? Was Luzifer wohl für sie geplant hat?
Eiskalter Schweiß brach mir aus allen Poren, als ich daran dachte, wie viel Schmerz sie bereits hatte erfahren müssen. Und das ich nicht wollte, dass sie auch nur eine Sekunde lang weitere Schmerzen hatte. Ich dachte an ihr strahlendes Lächeln und ihre Gutgläubigkeit und ihren Körper, der mir im Nachhinein viel zu zerbrechlich vorkam. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
"Clyde", kam es vom Türeingang und ich zuckte vor Schreck zusammen.
Die Frau, die dort stand, sah einerseits aus wie meine Mutter und andererseits auch nicht. Ich hatte sie in Erinnerung mit glänzendem Haar, gesunder Haut und perfekt geschminktem Gesicht. Nun war ihre Haut blass, die Haare hatten ihren Glanz verloren und sie sah aus, als sei sie nur aus Haut und Knochen. Sie sah furchtbar krank und ungesund aus.
"Mama", erwiderte ich erschrocken und stockte dann. Ich wusste nicht, wie lange ich dieses Wort nicht mehr ausgesprochen hatte.
Bitch. Fotze. Egoistisches Stück.
Ich krümmte mich beinahe, als ich mich erinnerte, wie ich sie zuvor immer genannt hatte.
Für ein paar Sekunden sah meine Mutter mich reglos an. Ihre Augen waren weit geöffnet und ich erkannte, dass sie über dasselbe nachdachte. "Wie geht es dir?", fragte sie schließlich mit schwacher Stimme.
"Gut", antwortete ich nach kurzem Zögern und beobachtete, wie sich Tränen in ihren Augen bildeten. "Was ist los?"
"Ich war eine schreckliche Mutter", behauptete sie schließlich.
"Was sagst du denn da?" Verdutzt richtete ich mich weiter auf. Ich hätte nie damit gerechnet, dass sie so von sich selbst dachte.
"Ich hatte dich aufgegeben", stieß sie nun unter Tränen hervor, dessen Anblick mir einen Stich ins Herz versetzte.
"Ich war so lange im Koma. Da ist es doch verständlich, dass-"
"Nein", unterbrach sie mich mit erstickter Stimme. "Vor dem Unfall."
Wir schwiegen ein paar Sekunden. Mein Hals brannte. "Ich mich auch." Und das begriff ich erst jetzt.
Ich hatte das Gefühl, als würde mich meine Mutter das allererste Mal richtig ansehen, nach vielen, vielen Jahren. Sie schluchzte, dann machte sie ein paar Schritte nach vorne.
Sie schloss mich in die Arme und ich legte meine Hände um ihren dürren Körper. Sie roch nach Zuhause.
Ich schloss die Augen und mir fuhr ein schmerzhafter Stich durchs Herz. Letzten Endes hatten wir wieder zusammen gefunden.
Emilia hingegen hatte keine Mutter mehr. Nicht, weil diese durch einen Unfall oder eine Krankheit aus ihrem Leben gerissen wurde. Sondern, weil sie gegangen war. Sie hatte Emilia verlassen und mit einem gewalttätigen Vater ganz alleine zurückgelassen.
Und jetzt hatte Emilia meinen Platz in der Hölle eingenommen.
"Es tut mir so leid", brachte ich hervor, und sagte das nicht nur zu meiner Mutter und zu Emilia. Ich wollte mich bei der Welt entschuldigen, für den Menschen, der ich gewesen war.
Solange ich noch am Leben war, würde ich meine Fehler wieder gut machen.
♆︎
Ein paar Stunden später stand ich vor einem tristen Mehrfamilienhaus und starrte auf das Klingelschild mit der Aufschrift May.
Mein Herz pochte schneller, als ich die Hand ausstreckte und auf den Knopf drückte. Ich wartete bestimmt eine Minute lang, doch niemand öffnete die Eingangstür. Noch einmal betätigte ich die Klingel und wartete mit abnehmender Hoffnung.
"Ich kaufe nichts", ertönte dann eine dunkle Stimme aus der Freisprechanlage.
"Nein!", entfuhr es mir panisch. "Ist Emilia da?"
Die Stimme verstummte für einige Sekunden. Mein Herz klopfte noch schneller. War sie aus der Hölle entkommen? War sie zu Hause?
"Wer ist da?", kam die misstrauisch klingende Gegenfrage.
"Clyde. Ein Schulfreund."
Als plötzlich die Tür bestätigend summte, brauchte ich zwei unvorbereitete Sekunden lang, um sie aufzustoßen.
Nervös trat ich in das Gebäude hinein und fühlte mich so, als würde mir bei jeder Treppenstufe mehr Gewicht auf die Schultern gelegt werden. Bald kam ich an einer Tür an, die nur halb geöffnet war. Emilias Vater stand halb im Schatten, halb im Licht und starrte mich an. Obwohl ich nur die Hälfte seines Gesichtes sah erkannte ich den unrasierten Bart und die zerzausten Haare, die wohl seit Langem keinen Kamm mehr gesehen hatten. Das eine Auge, welches ich deutlicher sehen konnte, wirkte leer und wurde von tiefen, dunklen Augenringen unterstrichen.
"Ist Emilia hier?", fragte ich leise und hatte Angst vor der möglichen Antwort.
"Was weißt du von Emilia?", kam es genauso leise und schwach mit rauchiger Stimme zurück.
Pure Enttäuschung fuhr durch meinen Körper, obwohl ich dies bereits geahnt hatte. Ich war kurz davor, dem Gewicht auf mir nachzugeben und erschöpft auf die Knie zu sinken. Sie war schon viel zu lange da. Selbst eine Sekunde war zu viel und jetzt steckte sie stundenlang, vielleicht noch tagelang dort fest.
"Hey", kam es jetzt eindringlicher von der Wohnungstür. "Was du über sie weißt, hab ich gefragt."
Ich hob den Kopf und sah ihm in die Augen. "Nichts. Ich hatte gehofft, du könntest mir etwas verraten. Sie war nicht mehr in der Schule."
Ich drehte mich um und war im Begriff, wieder zu gehen. Irgendwie musste ich Ausschau nach Jonah halten und ihm erzählen, was passiert war.
Bevor mein Fuß die erste Treppenstufe nach unten trat, sah ich mich noch einmal um. Emilias Vater stand noch genauso an der Tür wie vorhin, den Blick hatte er jedoch auf den Boden gesenkt. "Das letzte Mal habe ich vor einer Woche von ihr gehört. Sie ist weg von hier."
Ich schluckte und mein Magen verkrampfte sich. Einerseits wollte ich ihm sagen, dass Emilia ihn nicht freiwillig verlassen hatte. Andererseits wollte ich ihn nicht damit beunruhigen, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Und andererseits wollte ich, dass er Schmerz und Trauer empfand und sich selbst die Schuld an ihrem Verschwinden gab. Aber diesen hasserfüllten Teil von mir wollte ich hinter mir lassen.
"Willst du reinkommen?", fragte Emilias Vater nun und mein Körper sträubte sich gegen diese Idee. Mir war es schon zu viel, auch nur hier im Flur zu stehen. Ich vermisste Emilia und ich wollte nichts mehr, als sie wieder hier zu haben. Mein schlechtes Gewissen zerriss mich von Innen und es war zu schmerzhaft, noch weiter mit ihrem Verschwinden auf diese Weise konfrontiert zu werden.
Doch dann warf ich einen weiteren Blick in sein müdes, erschöpftes Gesicht und nickte. Das schuldete ich Emilia.
Langsam folgte ich ihm in die dunkle, muffige Wohnung. Als ich das erste Mal hier gewesen war, hatte ich nicht ein bisschen auf dieses Umfeld geachtet. Nun nahm ich jedes Detail ins Auge: die leeren Bierflaschen, den klebrigen Boden, die verstaubten Bilder und die abblätternde Farbe an den Wänden.
Emilia hatte jeden Tag den Weg über diesen Wohnungsflur zu ihrem Zimmer zurücklegen müssen. Die Füße so bewegen, dass sie keine Flaschen umschubsten und den Blick an den vergessenen Fotos vorbeiziehen lassen, unter deren staubigem Schleier einmal ein lächelndes Mädchen mit einem lächelnden Vater zu sehen gewesen waren.
Ich folgte dem Mann bis zum Ende des Flurs, wo er eine Tür öffnete. Emilias Zimmer, so wie ich es noch schwach in Erinnerung hatte. Mit brennender Kehle ging ich an dem Mann vorbei, schaltete den Lichtschalter an und sah mich in dem Zimmer um, welches ein genaues Gegenteil dieser Wohnung war.
Die Gardinen waren zur Seite gezogen und Sonnenlicht fiel in den Raum. Die Wände waren in einem sanften, pastellfarbenen Gelbton gestrichten. An den Wänden hingen Bilder von Wäldern und Bergen und Seen und Wolken und Städten und ich fragte mich, wie oft sich Emilia schon in diese Orte hinein geträumt hatte.
Überall waren Bücher verstreut. Das kleine Bücherregal war vollgestopft, also sammelten sie sich davor und auf dem Nachttisch und auf dem Bett.
Als ich nach oben blickte, entdeckte ich die Sternenaufkleber, die in der Nacht leuchteten, welche ich ebenfalls als Kind an der Decke kleben hatte. Ich schaltete das Licht wieder aus. Die gesamte Decke des Zimmers war mit jetzt nur leicht leuchtenden Sternen übersäht.
Irgendetwas in mir zerbrach und ich blinzelte mit Mühe die sich bildenden Tränen weg. Ich konnte nicht daran denken, wie oft Emilia hier in ihrem furchtbaren Zuhause gelegen und sich in die Ferne weggeträumt hatte. Ich konnte einfach nicht.
Als ich das Licht wieder anschaltete und einige Sekunden schwieg, räusperte sich Emilias Vater hinter mir. "Ich habe nichts gefunden, was irgendwas über ihre Pläne verraten hätte. Du kennst nicht zufällig das Passwort zu ihrem Laptop, oder?", fragte er dann und klang dabei eher scherzhaft und hoffnungsvoll statt vollkommen ernst.
Ich drehte mich um und sah ihn an. Woher sollte ich...? Dann stockte ich.
Here comes the sun.
Sie hatte es mir verraten und ich hatte es eingegeben. Und ich hatte noch keine Ahnung gehabt, was das alles bedeutete.
Ich hob die Hände und wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln bei dem Gedanken an das Lied und wie sie im Sonnenschein dazu getanzt hatte.
"Denkst du, du kannst sie davon überzeugen, zurück zu kommen?", wollte Emilias Vater nun wissen und in seiner erstickten Stimme hörte ich, dass er ebenfalls kurz vor dem Weinen war.
"Ich habe es versucht", stieß ich das erstbeste aus, was mir einfiel.
Emilias Vater ließ sich am Türrahmen hinab auf den Boden sinken und verdeckte das Gesicht mit den Händen. "Ich bin wirklich kein guter Vater gewesen, ich weiß das. Aber wenn ich noch eine einzige Chance hätte, dann würde ich sie nutzen. Das weiß ich einfach. Emilia ist das wichtigste in meinem Leben, das habe ich jetzt begriffen. Wenn ich nur noch einmal... wenn ich doch nur noch eine Chance hätte. Ich würde alles tun, um ihr endlich wieder ein guter Vater zu sein."
Ich blickte ihn ein paar Sekunden an. "Vielleicht wird Emilia eines Tages zurück kommen. Die Zeit solltest du nutzen, um ein besserer Mensch zu werden. Erst dann kannst du auch ein besserer Vater sein. Und bereit für ihre Rückkehr sein."
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