19 | Ein Monster

| ☼︎ Emilia ☼︎ |

Mein Herz schlug mir bis zum Halse, während ich auf die Stelle im Himmel starrte, wo Xathros in der Ferne verschwunden war. Wo wurde er hingebracht? Warum war er hier gefesselt gewesen? Warum waren alle so wütend auf ihn? Ob sie ihn verletzen oder foltern würden?

Irgendwas war gewaltig schief gelaufen. Ich musste Xathros irgendwie helfen, aber wie?

Ich versuchte meine zittrige Atmung zu beruhigen, drehte mich um und ging auf die Treppen zu, über die ich an diesen Ort gelangt war. Doch augenblicklich stellten sich dort zwei Dämonen auf und versperrten mir den Weg. So viel zu meiner Hoffnung, Xathros zu helfen.

Panisch blickte ich mich nach einem anderen Ausgang um und unterdrückte das Bedürfnis, einfach in Tränen auszubrechen. Doch mein Blick fiel nur auf Clyde, der noch immer gefesselt am Rande der Plattform lag.

Zügig beschleunigte ich meine Schritte. Ich verstand das alles nicht. Warum war Clyde eigentlich hier? Ich hatte ihn doch vor wenigen Tagen noch im Krankenhaus gesehen. Was machte er hier? Und was war mit seiner Seele? Steckte sie nicht mehr in der Zwischenwelt fest?

„Clyde?", fragte ich, während mein Herz gegen meinen Brustkorb trommelte. „Clyde?", wiederholte ich seinen Namen und streckte die Hand zu dem Gesicht aus, welches halb von seinen schwarzen Haaren bedeckt war.

Als ich seine Wange berührte, drangen meine Fingerspitzen durch seine Haut wie weiche Butter. Ich zog meine Hand zurück, als hätte ich mich an einer Herdplatte verbrannt. Geschockt starrte ich auf meine blutüberdeckten Fingerspitzen und bemerkte eine Bewegung in Clydes Gesicht.

An der Stelle, wo meine Fingerspitzen die Wange berührt hatten, klappte nun die Haut auf. Die herunter hängenden Hautlappen offenbarten eine rote Flüssigkeit, die nun herauslief.

Verstört rappelte ich mich auf. Es war nicht nur die eine Stelle, an der das passierte. Clydes ganzes Gesicht schien zu schmelzen wie Wachs in der prallen Sonne. Dickliches, schleimiges Blut lief über das Gesicht und machte es völlig unkenntlich.

Ich trat einen Schritt zurück und unterdrückte mit Mühe ein Würgen. Clydes Kopf verkleinerte sich, bis auch der restliche Körper zu schmelzen begann. Mein Blick fiel auf den Boden, wo die dunkelrote Flüssigkeit sich rasch ausgebreitet hatte. Ich stand mitten drin. Das Blut hatte den unteren Teil meiner Schuhe bereits rot gefärbt. Als ich zu Clyde zurücksah, war da nur noch ein stinkender Haufen aus breiiger roter Flüssigkeit und weißen Knochenstücken.

Ich stolperte noch weiter zurück, beugte mich vorne über und brach die saure Flüssigkeit aus, die sich meine Speiseröhre hochgebahnt hatte. Als ich wieder zu Clyde herüber sah, würgte ich von Neuem.

War das wirklich Clyde gewesen? Hatte ich ihn... umgebracht?

„Emilia", sagte eine dunkle, fast unmenschlich klingende Stimme hinter mir.

Langsam drehte ich meinen Kopf nach hinten. Da stand sie wieder. Die Kreatur, die ich in der Ferne gesehen hatte, als Xathros mit mir aus der Hölle fliegen wollte. Die Kreatur, die Xathros vorhin weggeschleppt hatte.

„Was ist das?", fragte ich mit bedeckter Stimme, noch immer kurz vor einem erneuten Übergeben. Der saure Geruch drang mir in die Nase, also atmete ich flach durch den Mund weiter.

Die Kreatur starrte mich an. Da war überhaupt kein Ausdruck einer Emotion in seinem Gesicht. Das musste der Teufel sein.

„Nicht Clyde", antwortete er mit einem Blick auf die Masse hinter mir. „Dem müsste es gut gehen. Wahrscheinlich ist er gerade wieder aufgewacht."

Clyde war hier geschmolzen weil er in der Menschenwelt wieder aufgewacht war?

„Und Xathros? Wo hast du ihn hingebracht?", fragte ich und drehte nun meinen gesamten Körper zu ihm um.

„Ich habe ihn an einen anderen Ort in der Hölle geflogen."

„Und wie geht es ihm?"

„Jetzt gerade? Wahrscheinlich nicht so gut, würde ich sagen."

Xathros steckte wirklich in Schwierigkeiten.

„Ich verstehe das nicht. Wir wollten die Mission zu Ende bringen, wirklich", versuchte ich, ihm alles zu erklären. "Es war meine Schuld, dass es so lange gedauert hat. Xathros musste nur kurz in die Hölle zurück. Wir wollten unseren Job doch vollenden. Wir wollten ihn nie abbrechen."

„Nie? Auch Xathros nicht?", hinterfragte der Teufel kritisch. Irgendwoher ahnte er, dass Xathros die Mission hatte abbrechen wollen. Aber das durfte sicher niemand erfahren. Xathros hatte das zwanghaft vor den zwei Dämonen verstecken wollen, die uns im Hotelzimmer gefunden hatten.

„Nein", log ich also erneut.

„Ich verstehe", erwiderte der Teufel. In seinem Gesicht änderte sich nichts. Ich wusste nicht, ob er mir glaubte oder nicht. Wahrscheinlich nicht.

„Er hat nichts Schlechtes getan", versuchte ich es weiter und nahm meinen ganzen Mut für meine nächsten Worte zusammen. „Bitte bestraf ihn nicht." Meine Augen füllten sich mit Tränen.

„Du hältst mich für gut", erwiderte der Teufel nur. „Ich habe es in den Erinnerungen deiner Freundin gesehen, als sie in die Hölle kam. Seitdem wollte ich mit dir darüber sprechen, Emilia."

„Nein", widersprach ich und schüttelte den Kopf. „Ich hielt dich für gut. Früher mal. Aber jetzt weiß ich, dass du Sam und Xathros folterst. Du hast Sam in die Hölle gebracht. Du wirst Xathros verletzen. Das haben sie nicht verdient."

„Das sehen die beiden, ich und dieser Ort jedoch anders, Emilia."

„Dieser Ort?", hakte ich verwirrt nach.

„Dachtest du, ich bestimme über die Entscheidung, ob ein Mensch in die Hölle kommt? Oder für wie lange?", fragte der Teufel. „Das tut dieser Ort. Er bringt die Menschen hierher. Und wenn er entscheidet, dass sie ihre Zeit abgegessen haben, lässt er nur noch ihre leblosen Körper in der Hölle zurück. Ich habe da kaum einen Einfluss drauf."

„Aber du bestrafst sie."

„Und das war einmal der Grund, warum du mich für gut empfunden hast."

Das stimmte. Darüber hatte ich sehr oft mit Sam gesprochen.

„Ja", bestätigte ich. "Ich dachte, weil der Teufel diejenigen bestraft, die etwas Falsches getan haben, muss der Teufel wissen, dass es falsch war und die Taten verabscheuen, die er bestraft. Wenn die Hölle jemanden hätte, der diese Taten nicht schlimm fände, dann wäre auch die Hölle nicht schlimm."

„Ich weiß", entgegnete der Teufel und ich fragte mich, wie viel er von den Diskussionen zwischen Sam und mir mitbekommen hatte, als wir darüber philosophiert hatten, ob es Himmel und Hölle gab. Sam hatte sich immer darüber lustig gemacht, dass ich sogar mit dem Teufel Mitleid gehabt hätte. Ich hatte es traurig gefunden, dass er, wenn es den Teufel denn geben würde, jeden Tag unendlich viel Bösem ins Auge sehen musste. All die grausamen Taten der Menschen ansehen und miterleben musste.

Ich schluckte und merkte, wie angespannt meine Finger sich anfühlten. „Aber jetzt bin ich mir bei all dem nicht mehr so sicher. Du wirkst wie jemand, der sogar Spaß am Leid anderer Menschen hat. Wie jemand, der aus Langeweile grausame Spiele spielt."

Für zwei, drei Sekunden sah der Teufel mich einfach nur an. „Da hast du vielleicht nicht einmal Unrecht. Ich schätze es ist so: Wenn du für eine lange Zeit Monster bestrafst, wirst du irgendwann selbst zu einem Monster."

"Aber du kannst jederzeit einen Schritt in die richtige Richtung machen", versuchte ich es dann und konnte kaum verbergen, wie verzweifelt meine Stimme klang. "Bitte lass Xathros gehen. Dann können wir unsere Aufgabe zu Ende bringen. Clyde ist zwar aufgewacht, aber Jonahs Seele ist vielleicht noch in der Zwischenwelt gefangen."

„Jonah?", wiederholte der Teufel.

„Clydes Bruder", erklärte ich. „Sie sind gemeinsam verunglückt."

„Interessant", kommentierte er in einem Tonfall, der andeutete, dass er diese Information eventuell zu seinem Vorteil nutzen könnte.

"Mach dir um Jonah keine Sorgen. Wenn er nicht hier ist, wird es ihm gut gehen." Mit diesen Worten drehte die Kreatur sich um und ging ein paar Schritte zum Rand der Plattform zu.

"Das glaube ich nicht", widersprach ich und lief ihm ein paar Schritte hinterher, besorgt, dass er das Interesse verlieren und ich nichts mehr für Xathros und Jonah tun könnte. "Er liegt immer noch im Koma. Doch er hat eine Chance, wieder aufzuwachen. So wie Clyde es geschafft hat."

"Du machst dir viele Gedanken um andere Menschen, nicht wahr? Fragst du dich nicht, was jetzt mit dir geschehen wird?", fragte Lucifer, drehte seinen Kopf zu mir herum und betrachtete mich mit ernstem Gesichtsausdruck.

Ein paar Sekunden lang starrte ich ihn wortlos an. "Ich weiß nicht", erwiderte ich leise und blickte herunter auf meine Schuhe und die blutbefleckte Sohle. "Ich denke, ich muss Jonah irgendwie helfen. Ich muss wissen, wie es Xathros geht. Ich muss nach Hause zu meinem Vater zurück, denn er ist ganz alleine und hat sonst niemanden mehr. Ich muss Frieden mit mir selbst schließen, damit Sam nicht mehr wegen mir leiden muss. Irgendwie muss ich alles wieder gerade biegen, was ich vermasselt habe."

"Weißt du, was dabei vielleicht helfen könnte, Emilia?"

Ich sah zu Luzifer hoch, der einen Mundwinkel hob. "Buße tun."

War das so? Sollte ich hier sein, um Verantwortung dafür zu übernehmen, was ich Sam angetan hatte? Dafür, dass ich meinen Vater auf diese Weise verlassen und verletzt hatte und er sich wahrscheinlich die ganze Zeit über Sorgen machte? Dafür, dass ich es nicht rechtzeitig geschafft hatte, Clyde gemeinsam mit Xathros zu retten? Litt Xathros jetzt, weil ich es nicht geschafft hatte? Hatte ich Jonahs Chance auf ein Aufwachen verspielt, weil ich zu langsam gewesen war?

Tränen bildeten sich in meinen Augen und verschwammen mir die Sicht. "Gehöre ich an diesen Ort, Luzifer?"

"Das ist eine Frage, die du selbst am besten beantworten kannst", sagte der Teufel und blickte mich mit roten, blutunterlaufenen Augen an.

Ich schwieg, während der Teufel davon flog. Zwei Dämonen kamen auf mich zu und packten mich fest an meinen Oberarmen. Mein Herz drohte, aus meinem Brustkorb zu brechen, solche Angst fühlte ich. Doch ich ließ zu, dass ich von der Plattform geführt wurde. Jonahs Blut klebte wahrscheinlich an meinen Fingern. Und wie es aussah, gab es keinen Weg mehr, ihn zu retten.

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