18 | Ein neuer Pakt

| ♆︎ Xathros ♆︎ |

Mein Kopf schmerzte. Das war das erste, was ich realisierte, als ich aufwachte und meine Augen öffnete.

Es war ein dumpfer, dröhnender Schmerz, als hätte mir jemand voll eins über gehauen. Mit einem Baseballschläger. Oder einem herumliegenden Oberschenkelknochen, die waren in der Hölle wahrscheinlicher zu finden.

War ich k.o. geschlagen worden? Wie lange war ich weg gewesen? Wo war Emilia? Und wo war ich? Ich blinzelte und setzte mich auf, konnte aber nicht aufstehen, weil ich plötzlich zurückgezogen wurde. Meine Hände und Beine waren an Eisenketten gefesselt.

Ich saß auf einer Art großer, runder Plattform. Am Rand der Plattform schien es nach unten zu gehen. Wie weit konnte ich von hier aus nicht sagen.

Geradeaus von mir am anderen Ende der Plattform sah es aus, als würde eine Treppe hinunterführen. Ich kannte diesen Ort nicht. Wo war ich?

Ich drehte meinen Kopf nach links und stockte. Einige Meter entfernt von mir war eine weitere Person gefesselt. Die Augen waren geschlossen und die Haare hingen halb im Gesicht. Aber ich wusste, wer das war.

Clyde. Das war ich.

„Was?", entfuhr es mir. Mein menschlicher Körper lag im Krankenhaus. Das sollte er zumindest.

Es sei denn... Mein Mund wurde mit einem Male staubtrocken. Ich war bereits tot.

„Xathros, endlich bist du aufgewacht."

Mir fuhr ein Schauder über den Rücken, als ich diese Stimme hörte. Ich drehte meinen Kopf nach hinten. Da saß er, der Teufel, auf seinem Thron mit aneinander gebundenen Dämonen und Sklaven.

Ich vermied es, ihm direkt in die Augen zu schauen, als er aufstand und auf mich zuging.

„Keine Sorge. Das ist nicht dein echter Körper", erklärte er mir nun mit langsamem Ton, als würde er das Spektakel genießen und vollkommen auskosten. „Ich habe ihn aus Blut und anderen Teilen geformt. Täuschend echt, findest du nicht auch?"

Ich erinnerte mich an den Tag unseres Paktes zurück, an die Schüssel mit roter Flüssigkeit und Emilias Gesicht, das sich darin geformt hatte. 

Ich wendete den Blick ab und beobachtete das leblose, gefesselte Wesen, welches mir vollkommen ähnlich sah. Ich realisierte, dass ich mich überhaupt nicht mehr mit Clyde oder diesem Körper identifizierte. Clyde war für mich gestorben, seit ich beschlossen hatte, ihn nicht mehr aufwachen zu lassen.

„Aber wem sage ich, er solle sich keine Sorgen machen. Dein menschlicher Körper hat dich die letzte Zeit ja sowieso nicht besonders interessiert."

Ich biss die Zähne zusammen, presste meine Hände auf den heißen Boden und ließ den Kopf hängen. „Wie geht es Emilia? Wo ist sie?"

„Emilia geht es gut, sei unbesorgt. Du hast mein Wort."

Erleichterung überkam mich und ich spürte mit einem tiefen Ausatmen, wie ein großer Teil meiner Anspannung von mir abfiel.

„Lucifer. Ich habe meine Meinung geändert. Ich werde hier bleiben. Bitte lass sie gehen."

„Wir hatten einen Pakt, Xathros. Ich habe dich in die Welt der Menschen gehen lassen. Unter der Bedingung, dass du sie mitbringst und mit ihr Plätze tauscht."

Panik formte sich tief in meinem Inneren und kroch langsam meine Kehle hinauf. „Dafür werde ich bleiben, Lucifer. Für immer. Ich werde alle Aufgaben erledigen, die du möchtest. So lange du möchtest."

„Ich wollte aber nicht dich. Ich wollte Emilia", erwiderte er.

Ich schluckte. Warum war er so bedauernd? Hatte er Emilia nicht schon längst in seiner Gewalt? Konnte er sie nicht einfach hier lassen? „Aber?"

„Aber nicht so", sagte der Teufel. Irgendeine Emotion lag in seiner Stimme, doch ich konnte sie nicht zuordnen. "Sie muss den Platz ihres geliebten Clyde einnehmen. Wie könnte ich sonst rechtfertigen, dass sie hier bleibt?"

„Aber sie weiß nicht, dass ich Clyde bin..."

„Ich weiß. Das macht das Ganze aber noch viel interessanter. Was meinst du, warum ich mir den Aufwand von Clydes Nachbildung überhaupt gemacht habe?"

Ich runzelte die Stirn. Wovon redete er da?

„Emilia darf sich entscheiden. Was glaubst du, für wen?"

„Für Clyde natürlich", entgegnete ich mit Blick auf die perfekte Nachbildung meines menschlichen Körpers, die mir so fremd vorkam.

„Dann schließen wir einen neuen Pakt, Xathros. Wenn du Recht hast und sie Clyde auswählt, dann bekommst du deinen Willen und sie darf zurück nach Hause. Wenn sie Xathros auswählt, dann hast du es vermasselt und sie muss in der Hölle bleiben."

Ich konnte nicht unterdrücken, erleichtert auszuatmen. Er würde Emilia wirklich gehen lassen. Im letzten Moment würde doch noch alles gut gehen, obwohl sie sogar bis in die Hölle gekommen war.

„Holt sie her", befahl der Teufel nun laut, woraufhin er auf mich zukam und die Finger nach mir ausstreckte. Ich wich so weit zurück, wie meine Fesseln es zuließen. Trotzdem legte er mir seine Hand auf den Mund und starrte mich mit seinen leuchtend roten Augen an. „Natürlich darfst du ihr von unserer Abmachung nichts verraten."

Als er die Hand von meinem Mund wegnahm und etwas erwidern wollte, kam kein einziges Wort zwischen meinen Lippen hervor. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich spürte einen erneuten leichten Anflug von Panik in mir aufkommen.

Der Teufel trat zurück und stellte sich mittig hinter der Körpernachahmung und mir auf. Dann sah er zum Ende der Plattform.

Ich drehte meinen Kopf nach vorne und folgte seinem Blick.

Nach einigen Sekunden erschien ein Dämon, der die Treppe hochging und auf die Plattform stieg. Ihm folgte Emilia und ich verrenkte beinahe meinen Hals, um einen besseren Blick auf sie haben zu können. Ihre Haare waren durcheinander, ihr Gesicht schmutzig und trotz der Hitze fehlte es ihrem Gesicht an jeglicher Röte. Aber die Blassheit war das einzige, was mir an ihr auffiel, und ich wollte einen erleichterten Seufzer ausstoßen. Aber nicht einmal das konnte ich.

Hinter Emilia stiegen drei weitere Dämonen die Treppe hoch. Der erste Dämon trat zur Seite, damit Emilia hinter ihm einen Blick auf die Plattform werfen konnte.

Ihre Augen waren geweitet, als sie etwas anstarrte, was sich hinter mir befand. Wahrscheinlich den Teufel, der das Spektakel amüsiert beobachtete. Dann fiel ihr Blick auf Clyde und sie kniff die Augen zusammen. Die Verwirrung stand ihr offen ins Gesicht geschrieben. Dann fiel ihr Blick auf mich.

Und dann wieder auf Clyde.

Sie würde Clyde wählen. Ich hatte Recht gehabt. Sie würde wieder in die Welt der Menschen zurückkehren und konnte ihr Leben leben und ich hätte endlich wieder den Weg dazu gefunden, Gutes zu tun.

Sie würde die Version wählen, die ich einmal gewesen war. Die Version, die man durch den Vorfall auf dem Schrottplatz noch in mir hatte vermuten können.

Sie hatte diese ganze Reise für Clyde auf sich genommen.

"Ich will Clyde helfen, um jeden Preis. Aber ich traue mir nicht zu, das auch wirklich zu schaffen. Ich würde seine einzige Überlebenschance nicht auf mich setzen. Also sag mir, dass du dir sicher bist. Es ist mir wirklich, wirklich wichtig, dass Clyde wieder leben kann."

"Clyde hat an diesem Tag nicht nur ein einziges Leben gerettet, sondern unwissentlich auch meines. Er hat mir zu spüren gegeben, warum ich weiterleben sollte. Clyde war ein Lichtblick in einer völligen Finsternis. Seine Gutherzigkeit hat mein Herz wieder zum Schlagen gebracht. Ich habe alles ihm zu verdanken. Dass ich Sonnenaufgänge sehen und tolle Musik hören und von meiner Zukunft träumen kann. Er hat mir mein Leben gerettet und deswegen werde ich auch seines retten."

"Ich habe aber nie diese eine Nacht vergessen. Ich hatte die Gewissheit, dass seine Gutherzigkeit irgendwo unter dieser äußerlichen Erscheinung lag. Und das war mir immer genug gewesen."

Sie würde Clyde wählen.

Und das war gut so. Also warum spürte ich diesen Schmerz in meiner Brust? Warum fühlte ich mich so verdammt... einsam?

Es war doch einzig allein meine Schuld, dass sich niemand für mein echtes und aktuelles Ich entschied. Ich hatte einen nach dem anderem weggeschubst, immer und immer wieder, bis niemand mehr einen Schritt auf mich zugemacht hatte. Und das war verständlich.

"Emilia, ich packe mir gleich dich und deinen Wagen und schmeiße mindestens eines von beidem zwischen die rasenden Autos auf der verschissenen Autobahn."

"Also gut. Wie lange lässt du dich zu Hause schon verprügeln?"

"Clyde könnte morgen früh schon tot sein, Emilia. Aber der interessiert dich ja kaum. Du siehst das hier alles sowieso wie deinen persönlichen Urlaub, um endlich mal deinem erbärmlichem Leben zu entkommen."

Ich spürte, wie sich mein Körper vor Scham fast krümmte, als ich an meine unfairen Worte dachte. Emilia war alles andere als egoistisch. Sie hatte alles stehen und liegen gelassen und einem Dämon vertraut, um Clyde das Leben zu retten. Sie war die ganze Zeit darauf bedacht gewesen, auch die Seele meines Bruders zu befreien. Sie war mir freiwillig in die Hölle gefolgt, um mir zu helfen. Auch trotz der Tatsache, dass ich sie die ganze Zeit so furchtbar behandelt hatte.

Und nicht nur sie hatte ich furchtbar behandelt. Auch meine Mutter und meinen Vater und meinen Bruder und meine Freunde und alle anderen, die versucht hatten, mir zu helfen.

Das war das erste Mal, dass ich es so richtig verstand. Ich gehörte an diesen Ort hier. Und das für eine lange, lange Zeit.

Als ich über die Plattform hallende Schritte hörte, hob ich meinen Kopf nach oben. Zuerst entdeckte ich die gelben Schuhe auf mich zulaufen und mir drehte sich der Magen um.

Nein. Ich sah hoch in Emilias besorgtes Gesicht und machte den Mund auf, aber das Wort blieb mir in der Kehle stecken. Dreh um. Ich flehe dich an, bitte dreh wieder um.

Ich schüttelte den Kopf, erst langsam, dann panisch. Nein, tu das nicht. Aber es nützte nichts. Als Emilia die letzten Schritte auf mich zulief, konnte ich sie einfach nur anstarren.

Was tust du da? Was tust du da? Was tust du da?

"Xathros", hörte ich sie ausstoßen, aber das war nur am Rande meines Bewusstseins. Das konnte doch nicht wahr sein.

Emilias große Augen drängten sich in mein Sichtfeld und ich spürte etwas an meinem Gesicht, bis ich realisierte, dass sie ihre Hände auf meine Wangen gelegt hatte. "Geht es dir gut?", fragte sie mit hektischem Unterton. "Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Oh Gott, du blutest am Kopf." Sie nahm ihre Hände aus meinem Gesicht und drehte meinen Kopf, sodass sie die warme, pochende Stelle auf meiner Kopfhaut ansehen konnte.

Mit weiten Augen und schrecklich schnell schlagendem Herzen sah ich an ihr vorbei und blickte auf Clydes Körper einige Meter von uns entfernt, der alleine auf der Plattform lag. Ich hatte das Gefühl, als stünde ich kurz vor einer Panikattacke. Es ging alles schief. Es ging einfach alles schief.

Luzifer erschien in meinem Gesichtsfeld. Langsam trat er auf uns zu und bei jedem weiteren Schritt hatte ich das Gefühl, dass ich mich übergeben musste. Ich wollte ihm sagen, dass ich es verschissen hatte, dass Emilia nichts dafür konnte, dass ich alles dafür tun würde, dass sie wieder gehen konnte. Doch ich konnte nicht. 

Als er bei uns war, griff er nach meiner Schulter und grub seine Fingernägel in mein Fleisch. Ich zischte auf und zuckte instinktiv zurück, überrascht davon, dass ich überhaupt zurückweichen konnte. Meine Fesseln hatten sich in Luft aufgelöst.

Doch im nächsten Moment wurde ich nach oben gerissen und Emilias Hände glitten von mir ab.

„Xathros!", schrie sie und richtete sich auf, die Augen voller Angst und Entsetzen.

Luzifer zog mich weiter in die Luft hinauf und ich hatte das Gefühl, als würde meine Schulter bald zerreißen. Emilia wurde immer kleiner und kleiner, bis ich sie kaum noch sehen konnte. Dann spürte ich, wie Luzifer die Richtung wechselte und uns noch weiter von der Plattform weg flog, bis ich diese auch nicht mehr sehen konnte.

Was passierte jetzt mit Emilia?

Mit einem Ruck wurde ich umgedreht, sodass ich dem Teufel ins Gesicht sah. Er hielt mich an beiden Schultern fest, als würde ich überhaupt nichts wiegen. Luzifer stoppte in der Luft und starrte mich mit seinen roten, teuflischen Augen an.

„Sei ganz beruhigt, Xathros. Natürlich werde ich ihr von unseren Abmachungen nichts verraten. Immerhin habe ich ja auch meine Schweigepflicht."

„Bitte lass sie gehen", kam es aus meinem Mund. Ich war kaum überrascht davon, dass ich wieder sprechen konnte. „Ich flehe dich an."

„Du hast es geschafft, Xathros", sprach Luzifer weiter, als hätte er meine Bitte nicht einmal gehört. „Dein Platz in der Hölle wird von einem Menschen eingenommen, der dich liebt. Du kannst gehen."

„Nein", erwiderte ich mit erstickter Stimme. „Wenn da noch ein Hauch an Menschlichkeit in dir ist, dann bitte ich dich, sie gehen zu lassen."

„Menschlichkeit?", wiederholte Luzifer amüsiert. „Wer von uns beiden hatte doch gleich beschlossen, einen unschuldigen Menschen für seine Taten leiden zu lassen?"

Ich starrte in Luzifers Augen, vollkommen wortlos. Das war ich gewesen. Ich war derjenige ohne einen Hauch von Menschlichkeit.

„Viel Erfolg bei deiner zweiten Chance, Clyde."

Luzifer zog seine Fingernägel aus meinen Schultern. Ein Ruck fuhr durch meinen Körper, als ich fiel und auf den Boden zuraste. Ich wollte mit meinen Flügeln schlagen, aber ich konnte nicht. Diese Flügel gehörten nicht mehr mir.

Mein Blick war nach oben gerichtet, als ich weiter fiel. Als ich auf dem Boden aufkam spürte ich den Aufprall in jeder Einzelheit. Meinen Hinterkopf, dessen Schädel aufplatzte und meine Rippen, die ineinander brachen. Meine Lungen, die von Knochenstücken zerfetzt wurden und das Blut, das sich um mich herum ausbreitete. Ich schnappte nach Luft, konnte aber nur noch röcheln.

Luzifer flog hoch über mir in der Luft und sah auf mich herunter, während ich nun nicht einmal mehr röcheln konnte. Dieser Körper gehörte nicht mehr mir, aber ich spürte seinen Schmerz trotzdem noch. Ich sog nach Sauerstoff, doch es tat sich nichts. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich erstickte. Das war nicht mehr mein Körper.

♆︎

| ♆︎ Clyde ♆︎ |

Als ich das nächste Mal nach Luft schnappte, füllten sich meine Lungen so weit, dass ich panisch hustete. Ich hörte ein lautes, schnelles und unregelmäßiges Piepsen. Es entsprach dem kräftigen Klopfen von meinem Herz gegen meinen Brustkorb.

Schwer atmend richtete ich mich auf und zog mir die Beatmungsmaske von dem Mund. Als ich aus dem Bett stieg, wurde ich von Schläuchen zurückgezogen, also riss ich mir auch die scheiß Nadeln aus dem Arm. Irgendwo ertönte ein alarmierendes Geräusch, als ich auf wackeligen Beinen zur gläsernen Tür des Zimmers stolperte. Als ich sie aufriss drehte ich mich nach rechts und rannte die wenigen Meter zum nächsten Zimmer mit nackten Füßen über den Flur entlang.

Ich stieß die Tür auf und rannte zum Krankenbett. Fest griff ich nach Jonahs dürren Schultern und rüttelte heftig. „Sie ist in der Hölle, Jonah!", schrie ich ihn an, als wäre das seine Schuld und nicht meine.

„Du musst sie da rausholen, verstehst du?!", rief ich in sein fahles, knochiges, tot aussehendes Gesicht und hoffte, dass meine Worte irgendwie zu seinem jetzigen Engelskörper durchdringen konnten. „Nimm dir eine Armee und hol sie aus der Hölle raus, Jonah!"

„Was machen Sie da?", hörte ich eine schrille Stimme hinter mir.

„Sofort loslassen!", bellte eine andere, woraufhin ich an den Schultern gepackt und nach hinten gerissen wurde.

„Du musst sie da rausholen!", brüllte ich, bevor ich endgültig weggerissen wurde und meine Hände von Jonahs Körper glitten.

„Loslassen! Ihr versteht das nicht!", schrie ich und schlug wild um mich herum.

Ich spürte ein kurzes Stechen in meinem Nacken. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie eine Person den Arm hob und etwas aus meiner Haut herauszog. Ein leichter, stechender Schmerz blieb an der Stelle zurück.

Ich fühlte mich schwer. Meine Arme sackten herab. Meine Beine fühlten sich an wie aus Beton, als ich sie vorwärts schieben wollte. „Jonah", murmelte ich und streckte die Hand aus, kurz bevor ich das Gleichgewicht verlor. „Jonah."

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