17 | In der Hölle
| Triggerwarnung |
| Inhalte dieses Kapitels behandeln die Themen Suizid & Depressionen |
| ☼︎ Emilia ☼︎ |
Als ich wach wurde, spürte ich zuerst eine sengende Hitze um mich herum. Die trockene Luft brannte in den Augen, sodass ich diese kaum offen halten konnte und einige Male wiederholt blinzeln musste. Ich richtete mich leicht auf und blieb auf dem warmen, beinahe heißen Boden sitzen. Unter meinen Händen spürte ich trockenen Sand oder Staub.
Als ich mit Mühe nach oben sah war das Ende so weit entfernt, dass es sich in völliger Dunkelheit verlor. Meine Augen brannten und tränten, sodass ich sie schnell wieder für einen Moment zukniff.
Als ich wieder nach vorne sah, entdeckte ich in der Ferne Jemanden auf mich zukommen und ich erschreckte mich, weil ich ihn zunächst für den Teufel hielt.
Fleisch und Muskeln waren zu seinem Körper zurückgekehrt, sodass seine Brust und seine Arme breiter aussahen. Sein Gang war zielstrebig und aufrecht, wodurch er plötzlich noch größer wirkte. Seine Haut hatte einen satten, rötlichen Ton. Die Hörner auf seiner Stirn, die zuvor gräulich gewirkt hatten, waren jetzt tiefschwarz und matt. Sein Gesicht war wieder ausgeprägt und markant. Es wirkte jung und sogar beinahe irgendwie vertraut.
Während er noch einige Schritte auf mich zukam, rappelte ich mich vom Boden auf, lief den restlichen Weg auf ihn zu und stürzte mich in seine Arme. "Du lebst", stieß ich aus und drückte Xathros fest, wobei ich kaum mit den Armen um seinen Körper herum kam. Erst jetzt realisierte ich, wie viel Angst ich um ihn gehabt hatte. Beinahe hätte ich meinen Freund verloren.
"Ja", hörte ich Xathros sagen, der damit zögerte, auch seine Arme um mich zu schließen. Stattdessen legte er schließlich seine Hände auf meine Schultern und schob mich ein Stück von ihm weg. "Was machst du hier, Emilia?", schnauzte er mich sauer an und rüttelte mich energisch an den Schultern.
Auf meinen fragenden Gesichtsausdruck hin senkte Xathros mit einem genervten Seufzer den Kopf und fixierte mich anschließend wieder mit ungeduldigem Blick. "Das hier ist nicht die Zwischenwelt, Emilia, falls du das noch nicht gecheckt hast. Wir sind in der Hölle!"
"Ja, ich weiß", schnaubte ich mit verteidigendem Tonfall. "Du musstest doch zurück."
Xathros sah mich für einen Moment lang an, als könne er nicht glauben, was er da hörte.
"Du bist freiwillig mitgekommen?", fragte Xathros schockiert. Als ich nicht antwortete, runzelte er die Stirn. "Du begleitest mich einfach mal so mit in die Hölle?"
"Jetzt, wo du es so sagst, klingt es schon ein wenig seltsam", druckste ich herum und sah zur Seite. Aus dem Augenwinkel erkannte ich dennoch, dass Xathros mich anstarrte, als sei ich vollkommen verrückt.
Ein wenig entfernt von uns nahm ich nun zwei Kreaturen in den Blick, welche reglos auf dem Boden lagen. In einem Haufen aus auseinandergerissenen Körperteilen.
„Sind das die beiden Dämonen von vorhin?", fragte ich , während mein Herz gegen meinen Brustkorb hämmerte.
„Ja", antwortete Xathros nur und griff plötzlich nach meiner Hand. „Los, wir müssen weg hier." Er zog mich mit sich und ich stolperte bei seinen großen Schritten neben ihm her. Weiterhin musste ich viel öfter als üblich blinzeln und kam mir deswegen halb blind vor.
Warum hatte Xathros die Dämonen getötet? Warum sollte ich nicht mit in der Hölle sein? Und wie es Clyde wohl gerade ging? Und irgendwo zwischen diesen ganzen Fragen und Ungewissheiten spürte ich eindeutige Erleichterung. Xathros ging es gut. Er war am Leben.
Ich versuchte mich auf meine Schritte zu konzentrieren und Xathros durch diese rötliche Wüste zu folgen, in der die Luft immer heißer und stickiger wurde. Als die erste Aufregung vorüber war und das Adrenalin um die Freude um Xathros aus meinem Körper verschwand, spürte ich ein ungewohntes Gewicht auf meiner Brust und blickte ich nach unten. „Was ist das?", fragte ich laut und nahm den metallernen, rötlichen Anhänger der Kette in die freie Hand, welche mir aus unerfindlichen Gründen um den Hals hing.
„Wahrscheinlich der Grund, warum du in deinem menschlichen Körper noch nicht geschmolzen bist", antwortete mir Xathros und zog mich vorwärts.
In der Ferne tauchten riesige, nebeneinander stehende Steinwände auf, die den gesamten Horizont füllten.
"Was ist das?", schnaufte ich fast atemlos.
"Einige Arbeitsstellen", antwortete Xathros mit einem schnellen Seitenblick zu mir. "Solange es geht, werden wir durchlaufen und nur im Notfall fliegen. Das ist unauffälliger."
Meine Antwort war nur ein leises "Mhm", da ich damit beschäftigt war, zu den Steinwänden voraus zu blicken. Irgendwelche Wesen hatten sich bei ihnen versammelt. Eine große Vielzahl von ihnen. Erst bei weiterem Vorangehen realisierte ich, welche Wesen. Das sah beinahe aus wie... Menschen.
Starrend ließ ich mich von Xathros weiter ziehen. Jede Steinwand war einen halben Fußballplatz voneinander entfernt. Zwischen den zwei Wänden, die wir ansteuerten, wurde in der Mitte Stein gesammelt. Xathros und ich versuchten, möglichst unauffällig zwischen den Steinhaufen voran zu kommen und viel Abstand zu den Menschen zu halten, die aussahen wie eine Mischung als gewöhnlichem Mensch und Dämon.
Die nackten Männer und Frauen bearbeiteten die Steinwände mit verschiedenen Werkzeugen. In dieser Hitze. Barfuß auf dem heißen Sand. Ich erkannte Brandnarben und Verbrennungen auf den Körpern der Menschen. Von irgendwo hörte ich gequälte Schreie, welche Übelkeit in mir auslösten.
Ich wusste zwar nicht, was diese Menschen getan hatten, um in die Hölle zu kommen, aber das hier war Sklaverei. Die sollte es weder irgendwo auf der Erde noch in der Unterwelt geben.
"Xathros", flüsterte ich mit schwerer Stimme, weil mir fast die Luft zum Atmen fehlte. Sanft verstärkte ich den Druck auf seiner Hand in der meinen. "Musstest du auch...?"
Xathros sah weiterhin geradeaus und führte uns zwischen den Steinen entlang. "Unter anderem", antwortete er mir, ohne mich dabei anzusehen.
Mit einem einengenden Gefühl im Brustkorb sah ich wieder zu den Seiten hin. Dann stockte ich abrupt und blieb starr stehen. Ich spürte einen Ruck an meiner Hand, weil Xathros wahrscheinlich hängen blieb. „Was ist denn?", wisperte er leise.
Ich starrte weiterhin geradeaus. Dieses Gesicht würde ich überall wieder erkennen. Auch, wenn ich es nur von der Seite sah. Und es zuletzt vor drei Jahren gesehen hatte.
„Das ist Sam", flüsterte ich schwach. Aber das...
„Nein", entfuhr es mir, während ich einen Schritt zurück machte. „Das muss ein Fehler sein."
Mein Brustkorb schien sich noch mehr zusammen zu ziehen und ich bekam das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
„Ruhig, Emilia, ganz ruhig", hörte ich Xathros neben mir sagen und ließ geschehen, dass er mich sanft an den Schultern auf die Knie drückte. Dann kam er ebenfalls auf dem Boden neben mir auf die Knie und wendete sich mir zu.
Ich konnte sie jetzt zwar nicht mehr sehen, aber das war eindeutig Sam gewesen. Aber wie konnte das sein? Warum war sie hier?
„Ich verstehe das nicht", sprach ich meine Gedanken frei aus. „Sie war nicht... Sie war... Sie hat nie etwas ansatzweise so Schlechtes getan, das hier zu verdienen", brachte ich mit zitternder Stimme hervor.
Xathros schwieg einige Sekunden. „Und ihr Tod? Du sagtest, sie sei von einer Brücke gestürzt."
„Ja. Es war ein Unfall", erwiderte ich verwirrt und verstand nicht, worauf er hinaus wollte.
Der Dämon sah mich an und griff vorsichtig nach meiner Hand. „Und wenn es kein Unfall war, Emilia?", fragte er leise und sprach damit die heimliche Vermutung aus, die mich die letzten Jahre nächtelang wach gehalten und gequält hatte.
„Aber", kam es mit einem schnellen Atemzug zwischen meinen Lippen hervor, welche ich daraufhin für einen Moment zusammen presste. „Aber Suizid ist keine Straftat. Deshalb kommt man doch nicht in die Hölle. Ich verstehe das nicht."
Xathros drückte meine Hand sanft, als wolle er mich trösten oder auf das vorbereiten, was er mir sagen wollte. „Emilia... Ich glaube nicht, dass Sam für ihr Sterben bestraft wird."
„Was?", fragte ich verwirrt und sah zu der Richtung, wo sich Sam befinden musste.
„Sondern dafür, andere Menschen verletzt zu haben."
„Was redest du denn da? Sam hatte niemanden. Niemanden außer... mich." Nach dem letzten Wort blickte ich langsam zu Xathros, welcher mich genauestens beobachtete. Zögerlich analysierte er mein Gesicht. So, als würde ich langsam zu verstehen beginnen.
Wegen mir sollte Sam hier sein?
"Du irrst dich", entgegnete ich. "Ich würde niemals..." Meine Worte stockten. Was wollte ich überhaupt sagen?
"Hast du ihr denn verziehen, Emilia?"
"Verziehen?", wiederholte ich ungläubig. "Da gibt es nichts zu verzeihen. Eine Depression ist eine schwere Krankheit. Ich würde auch einer Person mit Tod durch Krebs nicht verzeihen müssen."
"Emilia, ich glaube nicht, dass es um ihren Tod geht. Satt verletzt im Sinne von gekränkt könntest du vielleicht auch einfach sehr, sehr traurig sein."
"Natürlich bin ich traurig", schoss es so schnell aus mir hervor, dass ich ihm beinahe ins Wort fiel. "Es gab noch so viel, was wir hatten zusammen erleben wollen. Es gab noch so viel, was ich ihr hätte sagen sollen."
"Du hast sie geliebt."
Mein Kopf fuhr nach oben und ich starrte ihm ins Gesicht, erschrocken von den Worten, die er gerade ausgesprochen hatte. Mein Mund öffnete sich, aber meine Fähigkeit, Sätze zu formulieren, war plötzlich wie ausgeschaltet. Ich hatte den Moment des Leugnens verpasst.
"Ja, das habe ich", offenbarte ich leise und blinzelte, weil mir sofort Tränen in die Augen schossen.
Hatte ich geglaubt, dass ich ihren Tod mit meinem Geständnis hätte verhindern können? Weil sie dann gewusst hätte, dass es wenigstens einen Menschen auf der Welt gab, der sie wirklich wahrhaftig liebte?
Mir wurde deutlich, dass sie überhaupt nicht schuld daran war, dass ich es ihr nicht sagen konnte. Ich hatte tausend Möglichkeiten, ihr meine Gefühle zu gestehen. Aber ich hatte es nicht getan, weil ich zu feige gewesen war. Es war nicht ihre Schuld gewesen, sondern meine.
Ich hätte es ihr jeden Tag sagen können und doch hatte ich es nicht getan. Warum? Weil sie ein Mädchen gewesen war?
Hatte ich jahrelang meine Feigheit verleugnet und stattdessen lieber unbewusst Sam die Schuld an allem gegeben?
Ich presste die Hände auf meinen Bauch und beugte mich vorn über. Mir war kotzübel. Sam hatte drei Jahre lang in Folter und Qual gelitten. Und das wahrscheinlich ausgerechnet wegen mir. Ich war der egoistischste Mensch überhaupt. Ich hatte nur an meinen eigenen Schmerz gedacht, obwohl Sam diejenige gewesen war, die gelitten hatte. Vor ihrem Tod, so wie nach ihrem Tod.
Ich spürte, wie Xathros sanft eine Hand auf meine Schulter legte und ich hatte das Bedürfnis, mich von seiner Berührung weg zu winden. Wahrscheinlich verachtete er mich. Xathros hatte dasselbe durchgemacht wie Sam jetzt. Er wusste, wie sich die Folter anfühlte. Und er wusste, dass ich für die gleiche Folter bei jemand anders verantwortlich war.
"Wir müssen sie mitnehmen", forderte ich und blickte Xathros nun wieder an.
Der Dämon schüttelte jedoch den Kopf. "Das können wir nicht. Das hier ist Sams Höllenkörper. Er ist an diesen Ort gebunden."
"Aber irgendwie müssen wir sie befreien."
"Dir wurden die Augen geöffnet, Emilia. Du kannst deinen Schmerz ab jetzt verarbeiten. Das ist das Beste, was du nun für Sam tun kannst."
Ich ließ zu, dass mir Xathros nach einigen Sekunden auf die Beine half. Mit einem leichten Drehen meines Kopfes nahm ich Sam in mein Blickfeld auf, betrübt von den Tränen, die mir in den Augen standen. Meine Kehle brannte, als stünde sie in Flammen. Es tat weh, Sam so zu sehen. Aber noch schmerzhafter war es, sie hier zu lassen.
Doch ich vertraute Xathros. Wenn er sagte, dass ich hier und jetzt nichts für sie tun konnte, dann glaubte ich ihm das.
Und es gab noch zwei weitere Personen, die auf mich zählten.
Xathros nahm meine Hand und zog mich sanft vorwärts. Ich versuchte dabei, nicht nach hinten, sondern starr nach vorne zu sehen.
„Wir müssen nur noch ein Stück weiter. Dann kann ich uns wieder hier rausbringen, Emilia. Schaffst du das?"
„Ja", stieß ich mit der gleichen leisen Lautstärke hervor. „Und dann retten wir Clyde und Jonah."
Xathros drückte meine Hand, was ich als Zustimmung interpretierte. Wir bahnten uns einen Weg durch die unendlich lang scheinenden Arbeitslager, bis wir endlich das Ende erreicht hatten und sich eine riesige staubige, sandige Fläche vor uns erstreckte, die bis zum Horizont reichte.
Der Dämon an meiner Hand blickte sich nun zu allen Seiten um. Aber vor uns war niemand zu sehen. Xathros ließ meine Hand los und wandte sich mir zu. „Wir müssen da hoch fliegen."
Ich streckte meinen Kopf nach oben und entdeckte eine Art Gesteinsformation, die nach unten wuchs. Das war ziemlich weit oben. Mit schwummrigem Gefühl im Magen blickte ich Xathros wieder an und ließ mich von ihm in seine Arme heben.
Sein nackter Oberkörper war an meinen Arm gepresst und mir war es, als fühlte ich jeden festen Muskel und jede Narbe auf seiner Haut. Nervös vermied ich es, ihm ins Gesicht zu blicken und sah zu der Steinformation an der Decke.
Xathros stieß sich vom Boden ab und ich spürte das bekannte Gefühl, als würde sich mein Magen mit anheben.
„Geht es deinem Flügel besser?", fragte ich und sah an seinem Gesicht vorbei zu den schwingenden Flügeln auf seinem Rücken. Äußerlich waren jedenfalls keine Verletzungen mehr zu erkennen.
"Ja", erwiderte Xathros, wobei ich die Vibration seiner tiefen Stimme aus seinem Brustkorb spüren konnte. "Je näher wir der Hölle gekommen waren, desto besser konnte er heilen."
"Verstehe", antwortete ich leise. Xathros gehörte wahrhaftig an diesen Ort. Das wurde mir mit jeder weiteren Minute in der Hölle bewusst. Ob ich ihn jemals wieder sehen würde, nachdem wir Clyde und Jonah gerettet hatten?
Ich war nicht so naiv, zu glauben, dass ich mich in Zukunft regelmäßig mit einem Dämon aus der Hölle ohne Weiteres einfach so zum Kaffee trinken treffen könnte. Auch, wenn mir diese Vorstellung sehr gefiel.
Als ich nach oben sah, entdeckte ich in der sich nähernden Steinformation eine Art Tor. Xathros flog genau darauf zu und streckte den Arm aus, auf dem meine Kniekehlen lagen. Er drückte die Klinge der Tür herunter und zog dann daran. Aber sie ließ sich nicht öffnen.
"Nein", hörte ich Xathros in einem Atemzug ausstoßen.
Ich suchte die Tür mit meinen Augen ab, konnte aber nirgendwo ein Schloss entdecken.
"Nein, warum öffnest du dich nicht!", rief Xathros dann und rüttelte so stark, dass ich Angst hatte, aus seinen Armen zu fallen.
"Na, weil er euch noch nicht gehen lassen möchte".
Ich kannte diese Stimme. Als Xathros sich umdrehte, flog vor uns der Dämon mit den intakten Hörnern in der Luft, der uns verfolgt hatte, obwohl ich diesen vor Kurzem noch in mehreren Körperteilen auf dem Boden liegend gesehen hatte. Aber mein Blick wanderte an dem Dämon vorbei und wurde von einer Kreatur angezogen, die sich in einiger Ferne hinter ihm befand.
Mein gesamter Körper wurde steif, als ich ihr in die blutroten Augen schaute, und mein Brustkorb fühlte sich beklemmend eingeengt an, als würden sich meine Rippen ineinander verhakten und immer weiter zudrücken.
"Emilia?"
Obwohl es gerade eben noch brühend heiß gewesen war, fühlte sich die Haut meines Körpers plötzlich eiskalt an.
"Emilia!", hörte ich Xathros Stimme, aber sie hörte sich an, als käme sie aus einer weiten, unendlichen und unerreichbaren Ferne.
Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, bis sie mein Sichtfeld langsam vollständig verschluckten.
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