15 | Ein Zeichen

| ♆︎ Xathros ♆︎ |

Ich hatte die Hälfte der Nacht draußen unter dem Sternenhimmel an den Überresten des Lagerfeuers verbracht und war erst ins Haus zurückgekehrt, als mein Körper komplett durchgefroren war. Dann hatte ich Feuer im Kamin des Wohnzimmers angezündet und gehofft, dass niemand aus der Familie ins Zimmer kommen und sich über das Feuer wundern würde. Erst als die ersten Sonnenstrahlen des Tages schließlich sanft durch das Fenster in das Wohnzimmer schien, ließ ich das Feuer ausglühen.

An den Schritten auf dem Holzboden des Hauses erkannte ich wenig später, dass die Familie langsam aufwachte. Ich drehte meinen Kopf nach hinten, als ich jemanden ins Wohnzimmer kommen hörte. Emilia erwiderte einige Sekunden meinen Blickkontakt.

"Sollen wir auf der Terasse frühstücken?", rief jemand unter einigem Poltern aus der Küche. "Die Sonne scheint so schön. Emilia, könntest du beim Decken helfen?"

"Natürlich", erwiderte Emilia und folgte der Stimme in die Küche.

Die alte Frau gestern am Lagerfeuer hatte Recht gehabt. Emilia würde mir ihre Niere geben. Aber nicht nur. Sie würde mir ihr Herz, ihre Seele und ihren ganzen Körper geben. So lautete zumindest der Plan.

Seufzend saß ich noch eine Weile im Wohnzimmer, völlig übermüdet von der schlaflosen Nacht. Schließlich rappelte ich mich auf meine Beine und sah aus dem Fenster, wo die Familie und Emilia frühstückten.

Ich wollte nicht mehr an ihre Geschichte denken. Aus irgendeinem Grund machte es mich fertig, dass Clyde ihr, dass ich ihr, so wichtig war. Und dass ich tatsächlich etwas Gutes für jemanden getan hatte. Wenn ich auf mein Leben im Jugendalter zurückblickte, dann hätte ich das kaum für möglich gehalten.

„Emilia!", rief Maria plötzlich auf der Terrasse und riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah, wie die Frau aufsprang und das Radio lauter drehte.

Es war Here comes the sun. Ich schluckte und dachte an die Nacht zurück, in der ich das Lied für die Katze gesummt hatte. Ich dachte an den Menschen, der ich einmal gewesen war. Wie ich meinem kleinen Bruder das Fahrradfahren beigebracht hatte oder wie ich regelmäßig mit den Hunden im Tierheim Gassi gegangen war und den Nachbarn im Garten geholfen hatte.

Wie konnte ich mich so verändern?

„Das ist ein Zeichen!", rief die alte Frau am Tisch aus und fuhr in die Höhe. „Dafür, dass du deinem Freund tatsächlich helfen wirst!"

Emilias Mund verzog sich zu einem riesigen Grinsen, bis sie schließlich in ein herzliches Gelächter ausbrach. Sie stand auf, lief die Stufen der Terrasse herunter und fing an, sich zu drehen und zu tanzen. „Das ist es wohl, nicht wahr?", rief sie lachend.

Ihre Augen waren geschlossen, während sie mit breitem Lächeln die Melodie mit summte. Das goldene Licht der aufgehenden Sonne funkelte in ihren Haaren und legte einen leuchtenden Schimmer um ihren tanzenden Körper. Sie drehte sich im Kreis und schwang sanft die Arme durch die Luft, während ihre Füße vor Leichtigkeit beinahe über den Boden schwebten.

Egal, was ich alles bisher gesehen hatte oder noch jemals sehen würde; dieser Anblick würde eindeutig der Schönste bleiben, den ich je im Leben erblicken würde.

Nachdem Maria uns in Kassel abgesetzt hatte, fanden wir tatsächlich ein älteres Ehepaar, welches uns mit nach Bonn nahm. Während sich Emilia offen mit den beiden über Gott und die Welt unterhielt, saß ich eingequetscht zwischen dem Sitz und dem Autodach und sah aus dem Fenster.

Mir wurde übler, je weiter wir unserem Ziel kamen. Und ich verstand überhaupt nicht, wieso. Das machte mich so wütend und frustriert, dass ich am liebsten die Fensterscheibe neben mir zerschlagen hätte. Es waren zwar nicht die schlimmsten Stunden meines Lebens, aber sie waren doch ziemlich beschissen.

Umso erleichterter war ich, als wir endlich angekommen waren und das enge Auto verlassen konnten. Ich verließ den Wagen so eilig, dass ich beinahe mit meinem Fuß hängen geblieben und auf meiner Fresse gelandet wäre. Schnell holte ich mich wieder ins Gleichgewicht.

Während Emilia dem Ehepaar noch nachwinkte, starrte ich auf ihren Rücken und konnte das bedrückende Gefühl nicht loswerden. Wir hatten seit Stunden kein einziges Wort gewechselt.

„Sorry, dass ich mich so dumm verhalten hab", quetschte ich dann nach einiger Anstrengung hervor.

Emilia drehte ihren Kopf zu mir herum. Ihre Augen waren weit geöffnet und ihre Augenbrauen leicht angehoben. Nach dem Bruchteil einer Sekunde lächelte sie. „Entschuldigung angenommen."

Ich versuchte zurück zu lächeln, schaffte es aber irgendwie nicht richtig. Mir war schlecht und übel und ich fühlte mich so kraftlos wie noch nie.

"Xathros", sagte Emilia und erlangte meine Aufmerksamkeit zurück. „Bin ich eigentlich Skippy das Buschkänguru oder Skippy die Erdnussbutter?"

Verdutzt starrte ich sie an. Ihr Gesicht war todernst. In ihrer Hand fiel mir das leuchtende Display ihres Handys auf.

Ohne es zurückhalten zu können, platzte ein Lachen aus mir heraus. Ihr ernster Gesichtsausdruck war einfach urkomisch. Für sowas verschwendete Emilia also ihr Datenvolumen. Um das Wort Skippy zu googeln. Um sowas machte sie sich Gedanken.

„Du kannst ja lachen", kam es von der grinsenden Emilia.

„Auslachen, ja", konterte ich, um den letzten Rest meiner Ehre nach diesem Ausrutscher zu retten.

„Mir egal. Du hast gelacht."

Zwanghaft bemühte ich mich, ein Grinsen zu unterdrücken. Du bist weder Skippy die Erdnussbutter, noch Skippy das Buschkänguru. Du bist Skippy der selten ruhige, niedliche Terrier von nebenan.

Während ich Emilias Lächeln betrachtete, fuhr ein schmerzhafter Stich furch meine Brust. Zuerst dachte ich, das käme von meinem schlechten Gewissen, welches sich nach jahrelangem Untertauchen wieder bei mir meldete, weil ich dabei war, Emilia in ihren Untergang zu schicken.

Aber es hörte nicht auf. Und der Schmerz wurde noch stärker.

"Xathros, was ist los?", hörte ich Emilias beunruhigte Stimme am Rand meines Bewusstseins.

Nun hatte ich auch noch das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Mein Körper fühlte sich so schwer an. Und so kalt. Eiskalt.

Ich realisierte erst, dass ich mich auf den Boden hatte fallen lassen, als Emilia sich zu mir herunter kniete und eine Hand auf meine Schulter legte. Mit Mühe versuchte ich, ruhig zu atmen und konzentrierte mich auf die Wärme, die ihre Haut ausstrahlte.

Mein Blick war auf meine starren, steifen Hände gerichtet. Langsam drehte ich mich ein wenig beiseite und legte meine Handflächen vorsichtig an Emilias Wangen. Meine Hände waren so groß, dass mein kleiner Finger an ihrem Hals lag und meine restlichen Finger ihre Ohren bedeckten. Ihre Haut war überall so weich und so warm. Irgendwo in meinem Hinterkopf wusste ich, wie seltsam ich mich verhielt und trotzdem war ich kaum in der Lage, über irgendwas nachzudenken.

Mit ernstem Blick machte mir Emilia die Geste nach und legte auch ihre Handflächen auf meine Wangen. Wie ein Kind, das auf die neugierige Geste eines anderen Kindes mit Nachahmung reagierte. Aber Mann, sie hatte keine Ahnung, wie gut diese Wärme tat. Meine Augenlider wurden so schwer.

"Xathros, du siehst schrecklich aus", sagte Emilia, bevor ich meine Augen vollständig schließen und eindösen konnte.

"Na, vielen Dank, Skippy", erwiderte ich mit rauer Stimme.

"So meinte ich das nicht", erklärte Emilia mit halbem, leicht geqüaltem Grinsen. "Komm, du musst dich irgendwo ausruhen."

Ich ließ zu, dass sie mir hoch half und bemerkte die Fußgänger, die langsamer geworden waren, um Emilia anzustarren. Aber diese interessierte es wieder mal kein Stück, was andere von ihr dachten. Mann, sie war echt ziemlich cool. Aber ich müsste schon kurz vor meinem Tod stehen, um das offen zuzugeben.

Emilia und ich betraten schließlich das erstbeste, schäbig aussehende Hotel. Sie stützte meinen großen Körper mit ihrem eigenen kleinen Körper so gut es ging, bis ich es endlich ins Bett geschafft hatte.

Ich bekam kaum noch mit, wie sie mich zudeckte, da war ich schon abgedriftet.

Ich hatte wieder einen normalen Körper. Seit gefühlten Ewigkeiten steckte ich wieder in meiner eigenen, gewohnten Haut. Mitten in der Nacht wanderte ich durch die Straßen und genoss die kühle Sommernachtsluft. Ich sah mich lächeln.

Emilia lachte nicht. An dem Platz in der Hölle, wo sonst mein Bruder oder meine Eltern standen, befand sich nun Emilia. Heute hörte ich nicht von Jonah, dass ich ihn umgebracht hatte. Hörte nicht von meinen Eltern, dass ich ihnen ihr Leben ruiniert hatte.

Nein, denn heute stand Emilia dort. Sie blickte durch mich hindurch, als stünde ich gar nicht da. Als sie aber sprach, trafen mich ihre Worte ganz genau. „Du darfst nur leben, weil ich hier für dich leide."

„Ich hab es nicht mehr ausgehalten in der Hölle. Ich konnte einfach nicht mehr", versuchte ich zu erklären und spürte, wie meine Stimme beinahe erstickte.

„Und ich bin in der Lage, es auszuhalten?", kam es zurück.

Es fing bei brennenden Schuhen an. Der gelbe Stoff löste sich langsam in schwarzen Ruß und graue Asche auf. Als die Höllenwesen kamen, banden sie Seile und Ketten an Emilias Körperteilen fest.

„Aufhören!", schrie ich, aber niemand beachtete mich. Emilias blaue Augen schienen sich durch meinen Kopf zu bohren, während die Dämonen zu reißen und zu ziehen begannen.

Ich machte einen Schritt nach vorne, wurde aber sogleich von hinten gepackt. Als ich mich umdrehte, blickte ich in wahnsinnige Augen. Ich blickte in mein eigenes Gesicht.

Nun hörte ich Schreie hinter mir. Ich wusste nicht, ob ich mir die Ohren zuhalten oder gegen mich selbst kämpfen wollte.

"Hey, Xathros", drang eine Stimme schließlich zu mir durch. Sie war sanfter, als sie es vor ein paar Sekunden gewesen war. Die Schreie aus der Unterwelt verschwanden langsam. Ich spürte, wie eine Hand an meinem Oberarm rüttelte und riss mit einem Male die Augen auf.

Ich sah in blaue Augen und eine Stirn mit leichten Sorgenfalten. Dann blickte ich runter zu ihrer Hand, welche auf der empfindlichen Haut meines Armes brannte.

"Ah, entschuldige", flüsterte Emilia und zog ihre Hand weg. "Du sahst aus, als hättest du schlimme Albträume. Ich dachte, ich hole dich da mal aus. Tut mir leid, wenn-"

Aber weiter kam Emilia nicht, weil ich mich aufrichtete, sie ohne Vorwarnung in meine Arme schloss und ihren Körper an mich drückte.

Ich spürte, wie sie sich verdutzt versteifte und die Hände so von meinem Körper weghielt, als zeige sie jemandem, dass sie unbewaffnet sei.

"Wenn du das nicht willst, dann sag es mir", flüsterte ich nach ein paar Sekunden voller Regungslosigkeit. "Ich lasse dich sofort los."

"Nein. Es ist okay", erwiderte sie leise. Dass sie ihre Arme umständlich unter meine Flügel schob und vorsichtig um meinen Torso legte, unterstreichte ihre Worte nochmal. "Aber was ist los mit dir? Ich mache mir Sorgen um dich."

Unter tiefem Ausatmen senkte ich vorsichtig meinen Kopf auf ihre Schulter und achtete darauf, sie nicht mit meinen Hörnern zu verletzen. Fehlte nur noch, dass ich ihr zu allem Überfluss auch noch ein Auge mit den Scheißdingern ausstach. Ich grub meine Stirn in ihren Nacken. Ihre Haut roch süß und ihre Haare kitzelten an meinen Hinterkopf.

Emilia legte nun eine Hand auf meinen Kopf, die andere auf mein Schulterblatt neben der Stelle, wo meine Flügel aus der Haut kamen. "Ruh dich aus. Es ist okay", flüsterte sie.

Es war nicht okay. Ich hatte diese Worte nicht verdient.

Ich atmete tief durch. Langsam nahm ich meinen Kopf und meinen Oberkörper zurück. "Lass uns noch ein paar Stunden schlafen. Morgen früh bin ich sicher wieder fit."

"Ein guter Plan", erwiderte Emilia lächelnd, aber ich konnte sehen, dass das Lächeln ihre Augen nicht erreichte. Sie machte sich immer noch Sorgen.

Ich wartete, bis sich Emilia auf dem Sofa schlafen legte und stand erst auf, als ich sie laut, ruhig und gleichmäßig atmen hörte. Während ich leise auf sie zuging sah ich mit einem Blick auf die Heizung, dass Emilia diese für mich hochgedreht hatte.

Möglichst vorsichtig hob ich Emilia hoch und trug sie Richtung Bett. Sie war wirklich erschreckend leicht in meinen Armen. Sanft legte ich sie ins Bett und deckte sie zu. Dann setzte ich mich neben sie auf die Bettkante und dachte darüber nach, wie viel Clyde ihr bedeutet hatte. Wie viel ich ihr bedeutet hatte.

Der größte Teil meines ganzen Lebens hatte bisher nur aus Dunkelheit bestanden. Doch dabei hatte es eine Person gegeben, die mich stets mit warmem Blick angesehen hatte. Wenn ich das doch nur vorher bemerkt hätte. Wenn ich mich zuvor einmal umgedreht hätte.

Es war zu spät. Aber das war in Ordnung so.

Für einen Moment betrachtete ich ihr Gesicht, als würde ich es mir einprägen wollen. Ihre zarten Augenbrauen, die dichten Wimpern, die kleine Nase und die darum verteilten Sommersprossen, die schmalen und zartrosa Lippen. War es das, was ich hier tat? Mir ihr Gesicht einzuprägen?

Es war nicht überraschend für mich, dass ich Emilia nicht mehr in die Hölle locken würde. Eigentlich hatte ich meinen Plan schon vor einiger Zeit geändert. Richtig bewusst wurde mir das erst jetzt, hier in diesem Moment.

Ich würde sterben. Mein menschlicher Körper würde sterben und mit ihm die Chance, jemals in mein altes Leben zurückzukehren. Ich würde meine restliche Strafe in der Hölle absitzen, bis jeglicher Rest an Menschlichkeit in mir ausgelöscht worden war. Jegliche Erinnerungen und Gedanken und Gefühle.

Emilia musste weiterleben. Sie hatte so viel überstanden, tausend Mal schmerzhaftere Erlebnisse als ich. Das sollte nicht umsonst gewesen sein. Sie hatte ein Recht auf ihr Leben und die Möglichkeit, nach ihren Träumen zu greifen. Sie würde ihren Weg finden und jeden Sonnenschein mit einem Lächeln begrüßen. Sie sollte andere Menschen lieben lernen und geliebt werden, für den Rest ihres Lebens. 

Seufzend warf ich einen Blick auf die mit Vorhängen zugezogenen Fenster. Sicher würde es nicht ausreichen, sie wieder nach Hause zu bringen. Wahrscheinlich war sie bei den Engeln momentan am sichersten.

Denn ich wusste nicht, ob der Teufel andere Dämonen schicken würde, um sie für sich zu holen.

Jeder wollte ein Licht in der Dunkelheit.

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