10 | Unerwartete Komplikationen
| ☼︎ Emilia ☼︎ |
Engelchen, Engelchen, flieg.
Die Stimme der Eltern hallten mir noch immer durch den Kopf.
Ich blickte an die Baumkrone hoch, durch die hier und da ein kleines Stückchen blauer Himmel erkennbar war. Engel existierten. Diese Erkenntnis war ich noch immer am verdauen.
Ich fragte mich unweigerlich, ob sie wohl zu einem Engel geworden war und all die Jahre über mich gewacht hatte. Andererseits wusste ich nicht, welche großartigen Taten man als Mensch vollbringen musste, damit die Seele in den Himmel aufgenommen wurde.
Ich drehte meinen Kopf zu Xathros herüber und hätte ihn gefragt, wenn er nicht so friedlich ausgesehen hätte. Seine Hände lagen auf seinem Bauch, die rötlichen, verbrannten Finger hatte er ineinander verschränkt. Die Cappy rutschte ihm fast von seinem Kopf. Ich fragte mich, welche grausamen Taten man vollbringen musste, um nach seinem Tod in der Hölle zu leiden. Und ich fragte mich, warum Dämonen die Hölle verlassen und sich bei uns in der Menschenwelt befinden konnten.
Es gab so viele Dinge, die ich nicht wusste. Und mit jeder neuen Erkenntnis kamen dutzende weitere neue Fragen hinzu.
Egal. Was letzendlich zählte war, dass Clyde wieder aufwachen würde. Und ich würde in mein altes Leben zurückkehren und versuchen, zu vergessen, welche Welten es außerhalb der Menschlichen noch gab.
Seufzend zog ich mein Handy aus meiner Hosentasche und sah auf das leuchtende Display. Anrufe hatte ich keine verpasst. Müsste mein Auto nicht langsam mal dran sein mit der Untersuchung?
"Immer noch nichts?", kam es von der Seite. Der Dämon hatte eines seiner leicht rötlichen Augen geöffnet und blickte mich von unten an.
"Immer noch nichts", wiederholte ich seine Worte in bedauerndem Ton. "Aber vielleicht gehen wir trotzdem lieber zurück und schauen mal nach."
"Sieh mal einer an. Skippy wird endlich vernünftig. Wer hätte das gedacht?", meinte Xathros sarkastisch und stand in sekundenschnelle aufrecht auf beiden Beinen.
Wortlos folgte ich dem Dämon, welcher sich eilig zum Ausgang des Parks bewegte. Ich beobachtete, wie Xathros unruhig den Himmel betrachtete. Wollten die Engel wirklich alles dem Zufall überlassen und sterbenden Menschen nicht weiterhelfen? Würden sie wirklich verhindern, dass wir Clyde retten? Irgendwie schien das keinen Sinn zu machen. Aber es gab auch keinen anderen Grund, warum sie uns auf den Fersen sein könnten.
Plötzlich spürte ich mein Handy in meiner Hosentasche vibrieren. Ich blieb stehen und nahm den Anruf an.
Mit Blickkontakt zu dem Dämon vor mir, welcher sich zu mir umgedreht hatte, versuchte ich die Worte des Werkstattmitarbeiters zu verdauen. Ich überlegte jetzt schon, wie ich Xathros die Neuigkeiten schonend überbringen konnte.
„Und, können wir weiterfahren?", erkundigte sich der Dämon von vorne, als das Telefonat beendet war.
„Ist leider nicht so einfach", druckste ich vor mich her. Unter dem stechenden Blick des Dämons sah ich zur Seite. „Es müsste repariert werden, aber das nötige Ersatzteil ist nicht auf Lager und müsste bestellt werden."
„So lange können wir unmöglich warten. Das dauert doch locker Tage", erwiderte Xathros sichtlich wütend.
„Wir fahren einfach per Anhalter weiter. Irgendwie kommen wir schon dahin", versicherte ich dem Dämon schnell.
"Verdammte Scheiße", fluchte der nur von vorne.
Gedankenverloren trottete ich hinter ihm her, bis ich bemerkte, wie wir nach einer kurzen Weile schon wieder den Parkplatz der Autowerkstatt betraten. Xathros wartete draußen im Schutz der Markise, welche den Bereich des Eingangs vor Regen schützen sollte.
In der Werkstatt fragte ich, wo man mein Auto abgestellt hatte und folgte den Wegbeschreibungen, die man mir gegeben hatte. Neben den Toiletten im hinteren Teil des Gebäudes fand ich den Ausgang zum hinteren Abstellplatz, wo mein Auto neben ein paar anderen heruntergekommenen Wagen stand.
Zuerst öffnete ich den Kofferraum und quetschte so viel Proviant in meinen Rucksack, wie nur reinpasste. Dann ging ich zur Beifahrertür und wühlte in dem Handschuhfach, bis ich endlich das kleine Foto fand, welches ich sogleich in meiner Hosentasche verschwinden ließ.
Als ich die Tür wieder zuwarf, vernahm ich den Hauch eines Schattens hinter mir, dann spürte ich einen kräftigen Druck auf meinem Mund, sodass kein Laut daraus herauskommen konnte. Jemand presste mir von hinten eine Hand auf den Mund.
Augenblicklich überkam mich Panik und ich versuchte, meinen Kopf zur Seite zu reißen, doch der Griff war steinhart. Die Panik wurde noch stärker. Ich dachte an die Hände meines Vaters und kam von dem Gedanken nicht mehr los. Mein Körper stand unter solchem Stress, dass schmerzhafte Stiche durch meine Brust fuhren.
Der andere Arm der Person war um meinen Bauch geschlungen und hielt gleichzeitig meine Arme eingeklemmt. So stark war doch kein Mensch.
Mit einem Male fuhr ein Ruck durch meinen Bauch, als würde mein gesamter Magen angehoben werden. Meine Beine zappelten in der Luft. Ich hatte keinen Boden mehr unter meinen Füßen.
Mit einem Ruck riss ich meinen Kopf herum. Noch immer war die Hand auf meinen Mund gepresst, als ich in goldene Augen blickte, die von einem Kranz aus langen und dichten, weißen Wimpern umgeben waren. Neben dem Gesicht sah ich Teile von weißen, in der Luft schlagenden Schwingen.
Dann schielte ich runter zu meinen Füßen. Der Parkplatz lag weit unter uns. Mir wurde speiübel. Ich hatte das Gefühl, mich gleich in die fremde Hand vor meinem Mund übergeben zu müssen.
Die Engel hatten mich gefunden. Aber wenigstens war ich bei dem Blick in die Augen nicht erblindet.
Während wir weiterflogen versuchte ich, zurück zur Werkstatt zu sehen. Doch diese war schon nicht mehr in meinem Sichtfeld. Hatte Xathros uns nicht gesehen? Oder irgendein Mensch?
Verdammte Scheiße! Wie kam ich hier nur wieder raus? Clydes Leben hing davon ab. Ich musste mir irgendwas einfallen lassen.
Der Engel flog aus der Stadt heraus. Als wir uns über einer riesigen Feldlandschaft befanden, schaffte ich es endlich, einen meiner Arme aus der Umklammerung zu lösen. Sogleich riss ich meinen Ellbogen nach hinten und spürte erleichtert, wie ich sein Gesicht traf und er einen schmerzerfüllten Laut ausstieß.
Die Erleichterung verflog, als mein Angreifer zurückzuckte und sich der Griff um meinen Bauch löste. Die Hand vor meinem Mund rutschte ab. Am meisten spürte ich ein Ziehen in meinem Magen, als ich mich im freien Fall nach unten befand. Der Boden kam mir immer näher.
Dann wurde mein Fall abrupt gestoppt. Wie versteinert starrte ich auf das Feld, das sich etwa zwei Meter unter mir befand. Zwei Hände hielten mich an meiner Taille fest.
Vorsichtig warf ich einen Blick nach oben. Ein Gesicht mit makelloser, sonnengebräunter Haut blickte mir entgegen. Die goldenen Augen waren weit aufgerissen und die vollen, rötlichen Lippen ein wenig geöffnet. Die weißen Flügel schwangen kräftig in der Luft, um uns an Ort und Stelle zu halten.
Der Engel sah genauso geschockt aus, wie ich mich fühlte. Anscheinend hatte er mich gerade noch so zu fassen bekommen.
Ich hatte mich gerade fast umgebracht. Das war echt nochmal gut gegangen. Tot hätte ich Clyde auch nichts mehr genützt.
Ich versuchte, an dem Engel vorbei Richtung Stadt zu sehen. Wo zum Teufel lungerte Xathros herum? Irgendwie musste ich wieder zu ihm kommen.
„Das war gefährlich", sprach der Engel nun mit einer dunklen, sehr männlichen Stimme, die wenig zu seinem goldenen Erscheinungsbild passte.
„Dann lass mich runter!", entgegnete ich und versuchte, seine Hände von mir zu schieben. Mit einem Male wurde mir jede Berührung zu viel und ich wollte einfach nur, dass er sofort aufhörte, mich anzufassen.
Der Engel über mir schüttelte den Kopf. „Hör mal, wir müssen schnell von diesem Dämon weg, sonst-„
„Lass mich sofort runter!", schrie ich ihn mit Leibeskräften an, obwohl meine mit Panik erfüllte Stimme fast brach. Mein Herz klopfte wie wild. Nimm die Hände von mir. Nimm die Hände von mir.
Tatsächlich näherte der Engel sich nun dem Feld und setzte mich ab. Als meine Füße den Boden berührten, machte ich augenblicklich zwei wackelige Schritte nach hinten. Erleichtert atmete ich aus und umklammerte meine Oberarme mit meinen Händen, was eine beruhigende Wirkung hatte.
Ich beobachtete, wie sich der Engel mit seinen nackten Füßen ebenfalls auf dem Boden niederließ. Er trug ein weißes Gewand, welches ihm bis zu den Fußknöcheln reichte. Die schulterlangen Haare waren blond und lockig. Seine Gesichtsform jedoch war markant und wenig sanft.
"Dem Dämon kann man nicht vertrauen, Emilia."
Es überraschte mich wenig, dass er meinen Namen kannte. Es verwunderte mich mehr, dass er andeutete, dass er selbst vertrauenswürdiger war.
„Warum wollt ihr Engel uns aufzuhalten? Wir versuchen, zwei Menschenleben zu retten", warf ich ihm vor, offen gesagt ziemlich enttäuscht davon, dass Engel wirklich nicht so gutherzig waren, wie ich bisher vermutet hatte.
„Hast du gerade zwei gesagt?", wunderte der Engel sich.
Verdutzt runzelte ich die Stirn. „Ihr habt also nicht mal eine genaue Ahnung von unserem Vorhaben."
"Doch", entgegnete die Kreatur. "Ihr wollt Clyde Clemontes Seele befreien."
"Und Jonahs. Die beiden liegen im Koma und können bis dahin nicht aufwachen."
Verwundert und wortlos starrte der Engel mich an. Dann blinzelte er kurz mit den goldenen Augen. „Du hast vor, Jonahs Seele zu be-"
Mit einem heftigen Aufprall wurde der Engel von einer dunklen Silhouette mitgerissen, die so knapp vor mir vorbeigerast war, dass meine Haare vor mein Gesicht wehten.
Verdutzt drehte ich mich zur Seite und sah den beiden Gestalten hinterher, die durch die Luft wirbelten.
Xathros hatte uns gefunden. Und ein Kampf zwischen Engel und Dämon hatte begonnen.
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