Für ein Jahr

Es soll Menschen geben die schon als kleines Kind wissen was sie in ihrem Leben einmal erreichen wollen.
Sie wissen wo sie arbeiten werden, wen sie wann und wo heiraten und wie viele Kinder sie einmal haben werden.
Und dann gibt es Leute wie mich, ahnungslos und immer mit der Hoffnung einmal den Geistesblitz zu bekommen.
Nun war ich zwanzig Jahre alt, hatte ein überraschend gutes Abitur in der Tasche aber keinen Plan wie es jetzt weiter gehen sollte.
Studium?
Ausbildung?
Auslandsjahr?
Ich hatte keine Ahnung.
Option eins ging schon mal gar nicht. Mit meiner Faulheit würde ich nicht mal einen Monat auf dem Campus, geschweige denn im Studentenwohnheim zu überleben. Mangels Kochkunst würden sie mich vermutlich spätestens nach dem ersten Großbrand Raus werfen und der war bei mir vorprogrammiert. Eine Ausbildung wäre auch eine schwierige Sache. Ich wüsste nicht mal als was ich mich bewerben sollte. Als Bürofrau?
Einzelhandelskauffrau?
Arzthelferin?
Alles nichts.
Von Computern hatte ich keine Ahnung, wöchentlich lud ich mir irgendwelche Viruse runter die meinen Laptop langsam aber sicher schrotteten.
Als Verkäuferin konnte man mich auch vergessen. Statt Regale einzuräumen schmiss ich diese lieber um, Kartons stellten für mich eine Lebensgefahr dar.
Und als Arzthelferin war ich auch nicht geeignet. Ein Tropfen Blut und man konnte mich ohnmächtig auf dem Boden aufgabeln. Da ich aber irgendwas machen musste stand ich jetzt hier, in meinem Zimmer, umgeben von einem Berg Klamotten und einem Koffer der irgendwie schon nach drei Hosen voll war.

,,Chantalle, bist du jetzt endlich fertig?!" Meine Mutter stand im Türrahmen und tippte genervt auf ihre Uhr. ,,Wir müssen langsam dann echt mal los." Als sie das Chaos in meinem Zimmer sah stöhnte sie auf. ,,Du bist echt unmöglich! Musst du immer alles auf den letzten Drücker machen?!" Sie stapfte zu meinem Koffer in dem alles Kreuz und Quer und zerknittert lag. ,,Ach, du packst ja wie immer. Ich dachte du wolltest ausnahmsweise mal ordentlich packen."
Genervt verdrehte ich die Augen. ,,Nein, eigentlich nicht.", gab ich leicht zickig zurück.

Nicht mal mit zwanzig Jahren durfte ich meinen Koffer so packen wie ich es wollte!

,,Jetzt schau dir das doch mal an!", rief sie und hielt ein völlig zerknittertes Top in der Hand. ,,Das kannst du so doch nicht anziehen!" Sie wühlte weiter und hielt als nächstes eine ziemlich kurze Hotpan mit Franzen und zwei kleinen Löchern in der Hand. ,,Und was ist das? Willst du so am ersten Tag bei deinem Arbeitgeber antreten?!" Ich riss ihr die Hose aus der Hand und legte sie zurück in den Koffer. ,,Ich bin alt genug um zu wissen wie ich wo und wann rum laufen kann!" ,,Da wäre ich mir nicht so sicher!", murmelte sie und hielt mir als nächstes meinen roten Spitzen BH unter die Nase. ,,Ach und was ist damit? Willst du damit strippen oder im Bordell tanzen?!" ,,MAMA!", rief ich Fassungslos und riss ihn ihr aus der Hand. ,,Ist doch so. Gerade als Frau musst du höllisch aufpassen sonst liegst du direkt vergewaltigt in der Ecke! Apropos, hast du dein Pfefferspray? Und den Elektroschocker!" Ja verdammt und die Notfallmedikamente auch!" ,,Und was ist mit deiner Krankenkassenkarte? Und deinem Personalausweis? Und den Gastgeschenken?"
Sie wühlte weiter und wedelte dann mit einem Zettel in einer Plastikfolie. ,,Und was hat das hier drin zu suchen?" Erwartungsvoll tippte sie mit ihrem linken Fuß auf dem Boden auf und ab und hob ihre Augenbraue. Sie wollte noch etwas sagen, aber ich unterbrach sie und schob sie aus meinem Zimmer. ,,Raus jetzt, verdammt nochmal!"
Mit beiden Händen packte ich sie und als sie im Flur war knallte ich die Tür zu. ,,Himmel noch mal!", fluchte ich und stapfte zurück zu meinem Koffer. Verzweifelt wanderte mein Blick über mein Bett wo das meiste Chaos aus Klamotten und Schuhen bestand, dann weiter zu meiner Uhr und zu meinem Handy auf dem das WhatsApp Symbol oben in der Ecke angezeigt wurde. Ich klickte drauf, Schokoladencupcake hatte mir eine Nachricht geschrieben.

Und geht Koffer zu?

NOPE UND ICH HAB NOCH NICHT MAL ANSATZWEISE ALLES DRIN, antwortete ich leicht panisch. Darauf bekam ich keine Antwort, sieben Minuten später klopfte es allerdings an meiner Zimmertür und eine breit grinsende Jacqueline betrat mein Zimmer.
,,Na du, brauchst du Hilfe?", fragte sie zwinkernd und scheuchte mich zur Seite. ,,So, als allererstes Hosen. Lang, kurz und mittel."
Sie sah sich meine Stapel an und schüttelte den Kopf. ,,Ich meine ich wusste ja, dass du nicht gerade klug packen wirst, aber das übertrifft selbst meine Erwartungen!"
Fragend blickte ich sie an und sie deutete auf den lange Hosen Stapel. ,,Du bist in Australien, da ist es brütend heiß und du nimmst sieben dicke und lange Hosen mit und allen ernstes drei kurze." ,,Aber auch in Australien wird es kalt!", versuchte ich mich erfolglos zu rechtfertigen und irgendwie meinen Hosenstapel zu erklären. ,,Chan, es wird in einem halben Jahr kalt, und bis dahin willst du in drei kurzen Hosen da rum laufen?"
Vorsichtig nickte ich. Meine Freundin verdrehte die Augen. ,,Du setzt dich da jetzt schön hin", sie zeigte auf meinen roten Sitzsack, ,,und lässt mich mal machen."
Artig setzte ich mich auf den Sitzsack, ernstes weil protestieren nichts half und zweitens weil Jaqui schon oft bewiesen hatte das sie in Sachen Koffer packen einige Tricks hatte. Staunend sah ich ihr dabei zu wie sie das Klamottenchaos, dass ich verursacht hatte, neu sortierte, Einiges zurück in meinen Schrank legte und neues dazu tat.
,,Ich hab dir noch was mit gebracht.", sagte sie und breitete einige große Tüten mit komischen Loch auf meinem Boden aus. ,,Du musst die Klamotten rollen, so passt viel mehr in den Koffer."
In die erste Tüte packte sie meine T-Shirt's, Top's, Krop-Top's und so weiter. In die nächste alles was mit Hosen zu tun hatte. In die letze stopfte sie meine dicke Winterjacke, holte sie aber sofort wieder raus. ,,Was willst du denn mit der?", fragte sie verwirrt. ,,Ehm anziehen...", antwortete ich, ebenfalls fragend. ,,Wann?", fragte sie zurück. ,,Im Winter..."
Ich bekam den 'Willst-du-mich-verarschen?' Blick und hatte im nächsten Moment die Jacke auf dem Kopf. ,,Im Winter ist es mittags 20°C warm, wann willst du bitte die Jacke anziehen?!"
Jaqui wartet erst gar nicht auf meine Antwort sondern schickte mich mit den Worten: ,,Hol mal bitte den Staubsauger.", in den Keller. Neugierig holte ich ihn und wartete dann gespannt, was sie mit dem Sauger wohl anstellen würde. ,,Willst du mein Zommer saugen?", fragte ich aber sie schüttelte den Kopf, steckte den Schlauch des Staubsaugers in das Loch in der Tüte und schaltete den Sauger dann an. In wenigen Sekunden war die ganze Luft aus den Tüten geweicht und Jaqui legte alles in meinen Koffer. Daneben plazierte sie meine Schuhe, Unterwäsche und Badesachen. Zum Schluss stellte sie meinen Kosmetikkoffer in das letzte freie Eck, klappte den Deckel herunter und verschloss den Koffer mit dem Reißverschluss.
,,Und jetzt nur noch wiegen.", erklärte sie und hiefte meinen Koffer auf die Waage. Ich hielt den Atem an, atmete dann wieder ungläubig aus. ,,16,3 Kilo?!" Jaqui nickte. ,,Du hast 6,7 Kilo Luft." ,,Wahnsinn!", staunte ich beeindruckt. Von den maximal 23 Kilo die ein Koffer wiegen durfte, hatte ich gerade mal 16.3 Kilo!
,,Und jetzt zu deinem Handgepäck. Wie ich dich kenne ist da alles unnötige drin, nur nicht das, was du wirklich brauchst." Ich seufzte leise. ,,Also eigentlich...", begann ich wurde aber von einem lauten und genervten ruf unterbrochen:
,,Chantalle es ist gleich sieben Uhr, kommst du jetzt endlich?" ,,Noch 15 Minuten!", rief ich meiner Mutter zurück und ich hörte sie irgendwas von "immer auf den letzten Drücker" murmeln.
,,Was wolltest du sagen?", fragte Jaqui und ich seufzte nochmal. ,,Ich hab noch nicht angefangen zu packen.", gestand ich ihr. Sie sah mich Fassungslos an. ,,Du fliegst in weniger als 9 Stunden nach Australien und hast noch nicht mal gepackt?!"
Ich nickte leicht. ,,Oh man!", fluchte sie, zog mich dann aber zurück in mein Zimmer. ,,Halten!", ordnete sie mich an und drückte mir meinen Rucksack in die Hand. ,,Also du brauchst: Dein Visum, Hotel und Flugunterlagen, Reiswaffeln, Gummibärchen, Geld, dein aufblasbares Nackenkissen, ein Haargummi und dein Notfalltäschchen!" Sie wuselte in meinem Zimmer herum und legte alles nach und nach in meinen Rucksack.
,,Das sollte es dann sein.", meinte sie und verschloss meinen Rucksack. Ich fiel ihr um den Hals. ,,DANKE!" Sie nickte. ,,Wir sehen uns heute Nacht." Ich nickte und sie klopfte mir auf die Schulter. ,,Werd vor Aufregung bloß nicht wahnsinnig." Sie zwinkerte mir noch einmal zu und schwang sich dann auf ihr Fahrrad.

,,Können wir dann endlich gehen?" Mama stand mit Haus und Autoschlüssel neben mir und klimperte Erwartungsvoll damit rum. ,,Jap, wir können."
Ich folgte ihr Richtung Tiefgarage in der unser Auto stand. Mama wollte schon auf der Fahrerseite einsteigen, aber ich zog sie zurück. ,,Lass mich nochmal fahren." Sie nickte, seufzte leicht und stieg dann auf dem Beifahrersitz ein. Ich steckte den Schlüssel ins Zündschlüssel, startete den Motor und manövrierte den Wagen ans Tageslicht. ,,Das letzte mal...", murmelte ich leise. Um mich abzulenken schaltete ich das Radio an und sang wie immer mit. ,,Das ist das, was ich am wenigstens vermisse werde.", sagte Mama und ich streckte ihr die Zunge raus. ,,Tja, ich bin ein wahres Gesangstalent." Daraufhin mussten wir beide unglaublich lachen. ,,Bau bloß keinen Unfall!", warnte mich Mama, ,,Sonst sitzt du morgen nicht im Flieger sondern im Krankenhaus!"

Unfalllos kamen wir wenig später bei Oma und Opa an. Ich wollte mich noch einmal von ihnen verabschieden da wir uns für ein Jahr wohl nicht mehr sehen werden. Lange wollten wir allerdings nicht bleiben, ich musste noch zu meinen anderen Großeltern und irgendwann wollten wir auch noch etwas zu abend essen. Oma Hilde wie auch Oma Uschi weinten und ich konnte nicht anderst als mit zu heulen. Opa Günther und Opa Heinrich klopften mir beide auf die Schulter, wünschten mir alles Gute und auch wenn sie es versuchten zu verbergen, ich sah ihnen deutlich an wie traurig sie waren. ,,Wir sehen uns dann nächstes Jahr...", murmelte ich mit belegter Stimme. Der komischste Moment war allerdings als ich ihnen Frohe Weihnachten und einen guten rutsch ins neue Jahr wünschte. Wir hatten gerade Mitte Juni, noch nicht mal ansatzweise sommerliche Temperaturen und ich wünschte ihnen schon Frohe Weihnachten...
,,Alles Gute!", wünschte mir Opa Heinrich und Oma Hilde fügte hinzu: ,,Egal was passiert, wir sind immer für dich da. Wenn irgendwas ist, du kannst dich immer melden!"

Um nicht doch im letzten Moment einen Rückzieher zu machen verabschiedete ich mich eilig, winkte nich einmal und fuhr dann mit Mama zu einem Italiener um die Ecke.
,,Ach, auch mal da?", begrüßte uns Papa, der direkt von der Arbeit kam und noch sein T-Shirt mit dem Firmen-Logo trug. Mama nickte, setzte sich und bestellte sich einen Rotwein und irgendein veganes Essen. Papa wollte sich gerade ein Bier bestellen, als Mama ihn stoppte. ,,Karl Heinz du musst heute Nacht fahren!" ,,Stimmt ja, ein alkoholfreies Pilz dann bitte, und die Pizza 31, mit extra Schinken und Salami Bitte." Ich bestellte mir eine Cola und dazu ein kleines Pizzabrot. Der Kellner ging und Mama schaute mich fragend an. ,,Alles klar Kind? Geht's dir gut?" Ich nickte, mal wieder seufzend. ,,Hab irgendwie keinen Hunger...", murmelte ich und schaute auf die Uhr.

Noch 4 Stunden..., schoss es mir durch den Kopf. Noch 4 Stunden... Dann würde ich im Auto auf dem Weg zum Flughafen sein.
Der Gedanke ließ meinen Magen flattern und ich bekam von der Pizza, die wenig später geliefert wurde, keinen Bissen herunter.
,,Das ist die Aufregung.", erklärte Papa der komischer Weise nach einer Halben Pizza sein Besteck schon bei Seite gelegt hatte. Auch Mama hatte nicht viel gegessen. Wir saßen schweigend am Tisch. Die Zeiger der großen Uhr an der Wand schienen sich nicht zu bewegen.
,,Ich glaube wir gehen dann langsam.", meinte Mama nach einer halben Stunde schweigen. Wir nickten wortlos. Der Kellner brachte die Rechnung, Mama zahlte und mir schoss der gleiche Gedanke wie immer durch den Kopf: Erst in einem Jahr sehen wir uns wieder...
Ich schluckte und versuchte krampfhaft an etwas anderes als meine Abreise zu denken, schaffte es aber nicht. Der morgige Tag lag mir wie ein Stein im Magen.
,,Chantalle, kommst du dann?", fragte Papa und ich nickte, ganz in Gedanken versunken.

Zuhause schnallten wir den schweinchenrosa Koffergurt um meinen Koffer, stellten meinen Rucksack daneben und schwiegen. Papa brach nach einer Weile die Stille: ,,Du hast alles?" ,,Ich hoffe es.", antwortete ich. Wie automatisch sahen wir auf die Uhr. 22:48 Uhr.

Noch 2 Stunden und 42 Minuten...

,,Ich leg mich nochmal kurz hin.", informierte ich meine Eltern, wohl wissend, nie und nimmer auch nur ein Auge zu zu bekommen. ,,Tu das.", nickte Papa zustimmend. ,,Genieße die letzte Stunde im eigenen Bett!"

Das letzte mal für ein Jahr...

Ich zog mir wirklich meinen Schlafanzug an und legte mich in mein geliebtes Bett. ,,Ich werde dich vermissen.", flüstere ich leise und spürte wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ich wollte sie weg wischen, aber sie kamen immer nach. Also ließ ich sie laufen und heulte leise in mein Kissen.
Um kurz nach 23 Uhr hatte ich mich beruhigt.

Noch 1 Stunde und 26 Minuten...

Australien, wie wird es wohl werden?",war das letzte an das ich dachte, dann vielen mir tatsächlich die Augen zu.

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