viii. fünf

In drei Worten kann ich alles zusammenfassen, was ich über das Leben gelernt habe: es geht weiter.
-Robert Frost
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Der gestrige Tag war entgegen Julies Erwartungen wie im Flug verstrichen - was vielleicht auch daran lag, dass aufgrund der Tatsache, dass sich am ersten Schultag des neuen Jahres sowieso noch keiner wirklich auf den Unterricht zu konzentrieren vermochte die Stunden auf den Vormittag reduziert worden waren, aber Julie war noch nicht bereit sich das einzugestehen.

 Diese Einsicht würde ja schließlich bedeuten, dass die restlichen Tage des kommenden Schuljahrs nicht annähernd so schnell vergehen würden - und das war offen gesagt etwas, was an einen nahenden Weltuntergang grenzte.

 Das Leben im Institut war um Welten entspannter gewesen als Hogwarts es sein würde, das war sich Julie schon in dem Moment bewusst geworden, als Professor McGonagall ihr den bis ins letzte Feld befüllten Stundenplan in die Hand gedrückt hatte.

Der deutsche Lehrplan, nach dem auch in den umliegenden europäischen Ländern unterrichtet wurde, war um einiges lockerer als der britische. Das lag zum einen daran, dass deutsche Zauberer nie eine Regelschule besuchten, insgesamt also fünf Jahre länger den Unterricht auf einem Internat wie Beauxbatons oder Grauteich genießen durften, zum anderen aber auch daran, dass die meisten Europäer - so auch Julie - ein privates Institut besuchten, das finanziell von seinen Schülern abhängig war. Man bezahlte also letztendlich für einen guten Abschluss und konnte sich auch mit minimalem Aufwand darauf verlassen, seine Schullaufbahn erfolgreicher zu beenden, als jeder Absolvent eines öffentlichen Internats.

Das bedeutete aber nicht, dass man sich als Zauberer aus dem europäischen Festland zwingend auf einem niedrigeren Bildungsstand befand, als ein Brite - ganz im Gegenteil. Das deutsche Schulsystem war auf individuelle Förderung angelegt und bereitete gezielt auf einen früh gewählten, hoch angesehenen Beruf vor. 

Julie hatte sich bereits im sechsten Lehrjahr für eine Ausbildung in der Fachrichtung zur Aufspürung schwarzer Magie entschieden und ihre Fähigkeiten in Verteidigung gegen die dunklen Künste oder Transfiguration übertrafen die ihrer Klassenkameraden wahrscheinlich um Welten - das änderte aber nichts daran, dass sie sich in anderen Fächern auf dem Stand eines Zweitklässlers befand. So zum Beispiel in Tränkekunde oder Zaubertränke, wie man in Großbritannien sagte.

Ungünstigerweise stand Julie gerade in diesem Moment in den Kerkergewölben Hogwarts' und wartete auf einen gewissen Professor Slughorn. Ihr Magen rebellierte - nicht nur weil sie wusste, dass sie sich in der nächsten Stunde durch ihre mangelnden Fähigkeiten definitiv maßlos blamieren würde, sondern auch weil die niedrigen Kerkerwände, die sie immer näher zu umkreisen schienen und die nasskalte Luft, die von diesen aus in die Gewölbe strömte leicht klaustrophobische Ängste in ihr auslösten.

James, der ihre Nervosität scheinbar bemerkt hatte, warf ihr immer wieder beunruhigte Blicke zu, die Julie mit einem schwachen Lächeln beantwortete. Sie war sich sicher sie müsse sich in sehr naher Zukunft übergeben, als ein untersetzter Mann, dessen Haare im dämmrigen Licht leicht gräulich schimmerten, sich einen Weg durch die Schülermenge bahnte. Sein Gangbild erinnerte Julie leicht an einen Pinguin. 

Der Mann, bei dem es sich augenscheinlich um Professor Slughorn handelte, öffnete mit einem schweren Messingschlüssel die Tür zum Unterrichtsraum und Julie fragte sich, warum sich ein Zauberer die Mühe machte, unhandliche Muggelwerkzeuge zu benutzen, könnte er die Tür doch genauso gut durch einen Zauber aufschließen. 

Sie lies den Slytherins, mit denen sie sich diese Stunde teilten, den Vortritt und betrat als eine der letzten den Raum. Am liebsten hätte Julie auf der Stelle kehrt gemacht und sich wieder in ihrem Bett verkrochen, aber weil das wahrscheinlich noch peinlicher gewesen wäre als vor den Slytherins auf voller Linie zu versagen fasst sie sich ein Herz und begann mit den Augen den Kerkerraum nach einem freien Sitzplatz abzusuchen. 

Anders als gedacht gestaltete sich dieses Unterfangen als außerordentlich schwierig. Remus und Peter teilten sich eine Doppelbank und James war gerade dabei sich neben Lily auszubreiten. Julie biss sich auf die Unterlippe und ließ ihren Blick weiter durch den Raum schweifen.

Auf der Seite der Slytherins war ebenfalls alles besetzt, bis auf einen Platz, der sich im hinteren, dunklen Teil des Kellergewölbes befand. Professor Slughorn schien bei seinem Beleuchtungszauber gepfuscht zu haben, denn die Fackel, die die letzte Bankreihe beleuchten hätte sollen hing traurig und kalt in ihrer Halterung.

 Einen letzten Blick zu ihren Freunden werfend begab sich Julie  in die andere Raumhälfte und zückte sogleich ihren Zauberstab, mit der Absicht, der Fackel etwas Leben einzuhauchen und sich und ihrem Banknachbarn ein wenig Licht zu gönnen - wenn sie heute scheitern würde sollte das wenigstens nicht daran liegen, dass sie die Anleitung nicht lesen konnte. 

Julie richtete zielstrebig ihren Stab auf die Fackel.  "Incen-" 

"Nicht", wurde sie in ihrem Zauber unterbrochen, "die Fackel ist feucht. Wenn du sie anzündest, qualmt sie unausstehlich. Das riecht scheußlicher als angekokeltes Plastik, glaub mir."  

Julie drehte sich erstaunt zu ihrem Sitznachbarn um, der sich wieder seinem Buch gewidmet zu haben schien. Sie wusste zwar nicht wie angekokeltes Plastik roch, aber trotzdem steckte sie den Zauberstab zurück in die Tasche ihres Umhangs und ließ sich neben dem Slytherin nieder.

"Danke." wandte sie sich an ihren Nachbarn, der keinen Millimeter mehr von seinem Buch aufsah. Schließlich hatte er sie vor der ersten Peinlichkeit des Tages bewahrt. Als dieser nicht antwortete, starrte Julie ihn einfach weiter an. Eine seiner schwarzen Strähnen fiel ihm ins Gesicht und seine dunklen Augen wanderten beinahe in Lichtgeschwindigkeit über die Seiten. Julie hatte noch nie jemanden gesehen, der so schnell lesen konnte.

Hätte Professor Slughorn nicht in diesem Moment zu sprechen begonnen und somit Julies Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, hätte sie vermutlich die ganze Stunde lang das Lesetempo ihres Nebenmannes bewundert.

***

Die Schneide des Messers, die Julie so scharf vorkam als könne sie die dicken Mauern des Gewölbes zertrennen wie ein Stück warme Butter, glitt gleichmäßig auf dem Tisch auf und ab und zerstückelte so eine handvoll Pfefferminzzweige, während Julie mit ihrem Zauberstab das Messer dirigierte. Ihr Banknachbar, der ganz altmodisch von Hand die Zweige zerschnitt, schien nicht sehr angetan von Julies innovativer Methode und seine nervösen Seitenblicke ließen eher darauf schließen, dass er fürchtete Julie könnte die Kontrolle über ihr Messer verlieren und ihn aus Versehen erdolchen.

Diese war gerade dabei, die zerhackten Pfefferminzzweige in ihr schlammbraunes Gebräu zu werfen, woraufhin dieses sich knallgrün färbte. Ein Blick ins Lehrbuch verriet, dass Julie die eigentliche Farbe des Trankes - ein strahlendes sonnengelb - um einiges verfehlt hatte. Eigentlich hatte sie gar nichts anderes erwartet, schließlich lag das Euphorie-Elixier meilenweit über ihrem Wissensstand. 

Missmutig schielte Julie zu ihrem Banknachbar, dessen Trank genau der Beschreibung auf dem vergilbten Papier glich und warf kurzer Hand eine Schüssel zerstoßene Baumschlangenhaut in den Kessel, woraufhin das Gesöff, das schon so dickflüssig war, dass Julie Schwierigkeiten beim Umrühren hatte, leise zu zischen begann.

Von dem Geräusch abgelenkt sah der Slytherin endlich zu ihr. Sein schwarzes Haar hing ihm strähnig in die Stirn, doch Julie bemerkte sofort, wie sich seine Augen entsetzt weiteten. Sie wollte grade trotzig antworten, als er einen Satz auf sie zu machte und sie zu Boden riss.

Keine Sekunde zu früh, denn als Julie nach oben schielte sah sie nur noch, wie der Kessel sich in einen riesigen Feuerball verwandelte und krachend in einer riesigen Hitzwelle über ihren Köpfen explodierte.

Sie hörte Schreie und zu Boden fallende Tränkekessel und hoffte nur noch, nicht gleich in der ersten Woche jemanden ermordet zu haben.

Der Rauch begann sich langsam aufzulösen und Julies Banknachbar rappelte sich auf, um sich hustend den Ruß aus der Schuluniform zu klopfen.
Julie tat es ihm gleich, bis ein vollkommen aufgelöster Professor Slughorn hechelnd auf sie zu gewatschelt kam. Trotz des Ernstes der Situation musste sie sich ein Grinsen verkneifen. Aufgebracht ähnelte der Professor noch mehr einem wütenden Pinguin. 

"Miss Rosenhayn!" quietschte er entsetzt, "In mein Büro! Sofort! "

Julie verdrehte nur die Augen und folgte dem watschelnden Professor äußerst demotiviert zu einer Holztür neben dem Pult, hinter der sich offensichtlich Slughorns Gemächer befanden. "Besser hätte die erste Stunde ja kaum laufen können" murmelte sie halb in Gedanken während sie sich unauffällig im Raum umsah um den entstandenen Schaden einzuschätzen.

Der Pinguin öffnete die Tür zu seinen Privaträumen und lotste Julie hinein. Bevor er sie jedoch schloss wandte er sich an die Klasse.

"Sie können gehen, versuchen sie nur, nicht noch mehr zu zerstören."

Er schüttelte fassungslos den Kopf, als er das Ausmaß der Katastrophe langsam zu realisieren begann.

"Obwohl das ja fast nicht mehr möglich ist", murmelte er dann zu sich selbst.

Nachdem der Professor die Tür geschlossen hatte, begann er mit seiner nervtötenden, für einen Mann seines Alters viel zu hohen Stimme auf Julie einzureden.

"Ich hätte mehr von ihnen erwartete, Miss Rosenhayn! Ihre Lehrer aus Luxemburg haben nur Gutes von Ihnen erzählt!"

Er sah sie streng an, doch Julie zuckte nur mit den Schultern, während sie sich fragte, woher der Pinguin ihre alten Lehrer kannte. 

"Doktor Lehmann?", fragte sie mit einem verächtlichen Unterton, "Der Kerl ist ein elender Schleimbeutel. Es würde mich nicht wundern, wenn er nicht schon einen neuen Schüler mit einflussreichen Eltern gefunden hätte." Die Lehrer ihrer alten Schule waren ihr allgemein sehr wohlgesonnen gewesen, schließlich herrschte ihre Familie praktisch über ganz Europa. Im Gegensatz zu Großbritannien befanden sich der gesamte Kontinent rein geopolitisch noch in mittelalterlichen Zeiten. Das europäische Reich erstreckte sich von Frankreich über Deutschland bis hin zur russischen Grenze und statt eines demokratisch gewählten Herrschers regierte ein Monarch. Das Amt wurde also in der Familie weitergereicht.

Professor Slughorn schnappte so entsetzt nach Luft, dass Julie Angst um den Zustand seiner respiratorischen Organe hatte - anscheinend hielt er große Stücke auf den deutschen Tränkemeister. Nachdem er sich wieder etwas gefangen hatte, watschelte er hinter seinen Schreibtisch und fing an, ein Formular auszufüllen.

"Sie bringen das Zimmer wieder in Ordnung, Miss Rosenhayn. Außerdem erwarte ich selbstverständlich, dass Sie sich einen Nachhilfelehrer suchen. Aber das sollte ja in Ihrem eigenen Interesse sein, schließlich stehen bald Ihre ZAG Prüfungen an, nicht wahr?"

Dann verschwand er in den hinteren Teil des Raumes und begann summend Gläser zu sortieren, was Julie als Signal empfand schleunigst zu verschwinden.

***

Julie ließ sich neben James auf die Bank fallen und fing an sich Mengen an Nudelauflauf auf den Teller zu schaufeln, von denen man ein kleines gallisches Dorf, das dem römischen Imperator erbitterten Widerstand leistete, für mehrer Wochen durchfüttern hätte können. "Bist du dir sicher, dass- ", nuschelte James zweifelnd durch die Nudeln, während er besorgt die Stirn runzelte.

Julie sah ihn strafend an. "Hast du noch nie was von Frustessen gehört? Ich darf das Chaos im Tränkeraum alleine wieder beseitigen, da ist Frust sehr angemessen. Habt ihr hier keine Säuberungskräfte?"

James schnaubte amüsiert und murmelte ein "Verwöhnte Göre" in seinen Kürbissaft, was Julie, zu deprimiert um einen Gegenangriff zu starten, nur mit einem Augenrollen quittierte. 

Sie kauten eine Weile stumm vor sich hin, bevor Julie sich wieder zu Wort meldete.

"Bist du gut in Zaubertränke? Ich hab in drei Wochen meine ZAG Prüfungen und Slughorn hat mir befohlen nach einem Nachhilfelehrer zu suchen..." versuchte sie mit vollem Mund zu nuscheln. Ihre Fähigkeiten konnten sich jedoch nicht annähernd an James Nuschelkünsten messen, sodass sie die Hälfte der Nudeln über ihrem Rock verlor. 

"Nicht gut genug, um irgendwem was beizubringen. Obwohl, bei dir bin ich mir da nicht so sicher..." Er zwinkerte ihr grinsend zu, woraufhin Julie nur empört nach Luft schnappte und dabei die andere Hälfte ihrer Nudeln beinahe inhalierte. 

"So schlecht bin ich doch gar nicht..." grummelte sie dann in die nächste Gabel Nudeln die sie von ihrem Rock aufgestochert hatte. 

James sah Julie mit hochgezogener Augenbraue an. "Doch."
Dann duckte er sich unter den Tisch, sodass die Ladung Nudeln, die Julie nach ihm geschleudert hatte, geradewegs Remus ins Gesicht klatschte.

"Bei Merlins Bart, Remus, tut mir Leid!" rief sie entschuldigend und spürte wie sich ihre Wangen dabei leicht röteten.

Remus lächelte nur gequält und versuchte sich mit einem Taschentuch die Nudelmatsche von der Wange zu reiben.

Julie warf ihm einen weiteren entschuldigenden Blick zu und versuchte ihre Gesichtsfarbe wieder unter Kontrolle zu bekommen, als ihr wieder einfiel worüber sie und James eben gesprochen hatte. 

Und dann musste sie an ihren Sitznachbarn denken, dessen Trank der Abbildung im Lehrbuch aufs Haar genau geglichen hatte. Er schien ihr gegenüber zwar nicht gerade freundlich gesonnen zu sein, aber einen Versuch war es Wert. "Du kennst nicht zufällig den Kerl, der neben mir saß?" wandte sie sich an James.

Dieser verschluckte sich fast an seinem Kürbissaft. "Schniefelus? Glaub mir, von dem willst du keine Nachhilfe kriegen."

Julie zuckte, von James' heftiger Reaktion doch etwas überrascht, mit den Schultern. Dann musste sie sich wohl einen anderen Lehrer suchen. Kurz kam ihr der Gedanke einfach Regulus zu fragen, doch als ihr einfiel, dass dieser ihr ja momentan aus dem Weg zu gehen schien, verwarf sie die Idee schnell wieder.

»Spielst du eigentlich Quidditch?«, fragte James beiläufig und sah zu Julie.

Sie zuckte mit den Schultern. "Regulus hat es mir beigebracht, aber gut bin ich nicht gerade."

Während sie sprach wanderte ihr Blick unbewusst zum Slytherintisch und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie vermisste Regulus, auch wenn sie, dank ihres Stolzes, niemals den ersten Schritt machen und ihn ansprechen würde.

James nickte verstehend. "Morgen sind Auswahlspiele, du kannst gerne mal vorbeischauen."

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