iv. eins


Zum Reichtum führen viele Wege, und die meisten von ihnen sind schmutzig.
-Peter Rosegger

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Dass alle einzigartig sein wollen, man aber trotzdem verurteilt wird, wenn man anders ist, hatte Julie schon früh gelernt. Man könnte fast sagen, dass sie sich mit der Zeit an die Blicke gewöhnt hatte, aber das wäre nicht die ganze Wahrheit - denn jeder einzelner dieser Blicke, egal ob bewundernd, ehrfurchtsvoll oder angewidert, ging ihr tief unter die Haut. Und an diesem verhängnisvollen 1. September des Jahres 1976 fühlte sie sich wie erdolcht.

Zwischen all den glücklichen Familien, die sich am Bahnsteig tummelten, sah Julie aus wie ein Hundewelpe, den man am Straßenrand ausgesetzt und nie abgeholt hatte. Sie hatte zwar darauf bestanden, nicht begleitet zu werden, doch in diesem Augenblick wünschte sie sich nichts sehnlichster, als die starke Hand ihres Vaters auf ihrer Schulter zu spüren, die ermutigenden Worte ihrer Mutter noch einmal zu hören, bevor sie für ein Jahr ins 1.453 Kilometer entfernte Hogwarts verschwinden würde. Von ihrer Mutter hatte sich die junge Rosenhayn nicht einmal verabschieden können, so lag diese doch in einem Spital in Nowosibirsk, Russland mit der Hoffnung auf eine Heilung für ihre Herzklappeninsuffizienz.

Die Blicke der anderen brannten in ihrem Rücken und Julie musste ihnen nicht einmal in die Augen sehen um zu wissen, dass sich in diesen nichts als Abscheu spiegelte. Denn im Gegensatz zu den Osteuropäern standen die Briten den Rosenhayns nicht gerade freundlich gegenüber. Schon seit 6 Jahren herrschte kalter Krieg auf den Inselstaaten, die mit der Erhebung einer schwarzmagischen Terrororganisation, die sich selbst die 'Todesser' nannten zu kämpfen hatten, und die Rosenhayns machten keinen Hehl daraus, gerade diesen Zauberern Zuflucht zu gewähren. Und obwohl vor allem Camille Rosenhayn darum bemüht war, ihre Tochter aus den Regierungsgeschäften rauszuhalten war ihr Gesicht der Öffentlichkeit nicht unbekannt.

Julie kämpfte sich durch die Masse und wich geschickt einem Rotschopf, der wie wild mit einem Besenstiel durch die Luft fuchtelte, aus. Ihr Ziel fest vor Augen schob sie sich zwischen den Familien hindurch, bis sie die scharlachrote Lok endlich erreicht hatte. Die Rosenhayn quetschte sich samt ihrem Koffer durch den engen Zustieg und atmete erleichtert auf, als sie endlich nicht mehr von der Menschenmenge erdrückt wurde. Der lange Flur, der sich schier endlos hinzuziehen schien, war bis auf ein paar vereinzelte Zauberer komplett leer, so waren doch entweder alle damit beschäftigt sich von ihren Familien zu verabschieden oder auf der Suche nach einem freien Abteil schon fündig geworden. Julie tippte dabei allerdings eher auf ersteres, denn als sie auf der Suche nach einem Sitzplatz in ein Abteil nach dem anderen lugte wurde das Mädchen schon nach wenigen Minuten fündig.

Sie sah sich im Abteil um. Die abgenutzten Sitzbänke waren mit verschlissenem, blauem Samt bezogen und die Jalousien an Fenster und Tür sahen ebenfalls ziemlich mitgenommen aus. Julie wollte gerade ihre magisch verkleinerte Lektüre aus der Manteltasche ziehen, als ihr eine feine Gravur im hellen Fichtenholz auffiel. Sie kniff die Augen zusammen um die Lettern besser lesen zu können.

"Moony, Wurmschwanz, Tatze & Krone"

Verwirrt zog sie die Augenbrauen zusammen und versuchte einen Sinn hinter den Worten zu erkennen. Zuerst hatte sie sie für Namen gehalten, doch Wurmschwanz war ihr dann doch zu seltsam vorgekommen um in irgendeiner Weise ein menschliches Wesen bezeichnen zu können. Kopfschüttelnd wandte sich Julie ab und ließ sich wieder komplett auf die Sitzbank sinken. Durch ihr Gewicht eingedrückt spannte sich der Bezug und ihr Zauberstab, den sie kurz zuvor hervorgeholt hatte um ihr Buch wieder auf Normalgröße zu bringen verschwand zwischen den Sitzen.

"Verdammt." murmelte sie durch zusammengebissene Zähne und ließ sich seufzend auf den schmutzigen Boden sinken. Gerade als sie mit dem Kopf unter der Sitzbank verschwunden war, wurde die Glastür aufgeschoben und drei Mädchen drückten sich ins enge Abteil, wobei sie sich angeregt unterhielten. Julie war inzwischen wieder unter den Sitzen hervorgetaucht und rappelte sich ächzend auf, während sie sich den Staub von den Knien klopfte. Sogleich wurde ihr eine Hand entgegengestreckt. "Ich bin Alice, das sind Marlene und Mary. Es ist doch hoffentlich ok, dass wir uns zu dir setzen?" Julie erwiderte den Händedruck ein wenig überrumpelt und nickte perplex. Sofort schmissen die Mädchen ihre Koffer in die Gepäckablagen und ließen sich auf die Sitzbänke plumpsen. Julie hatte sich kaum wieder gefangen, als Alice auch schon anfing sie auszuquetschen. Woher sie kam, welches Eis sie am liebsten mochte, ob sie Haustiere hatte, aber keine einzige Frage zu ihrer Abstammung. Julie war zugegebenermaßen doch ziemlich überrascht, in Luxemburg war das schließlich das Erste gewesen was man wissen wollte. Man konnte ja nicht die Gefahr eingehen, seine kostbare Zeit mit einem Halb- oder gar einem Schlammblut zu verschwenden. Doch Julie spürte, dass auf Hogwarts einiges anderes laufen würde - und allein bei dem Gedanken daran machte sich ein leises Lächeln auf ihrem Gesicht breit.

Die Mädchen waren gerade in eine Partie Zauberschach vertieft, als Julie aufstand und mit der Ausrede "Sie müsse mal eben auf die Toilette" das Abteil verließ. Sie mochte die anderen wirklich, doch vor allem Alice, die pausenlos redete, wollte sie wenigstens für ein paar Minuten entkommen. Julie war gerade dabei, die auffälligen Verzierungen des Teppichbodens zu mustern, als sie von einem Jungen mit kurzen, schwarzen Haaren und einer grün-silber gemusterten Krawatte angerempelt wurde und beinahe zu Boden ging. Verärgert sah sie auf und wollte gerade zu einer Schmipftirade ansetzen, als sie erstaunt innehielt.

"Regulus?" Sie hatte den jüngsten Black schon seit Jahren nicht mehr gesehen, und doch war sie sich absolut sicher gerade vor ihm zu stehen. Regulus runzelte die Stirn bevor auch ihn ein Blitz der Erkenntnis traf. "Man Linchen, ich hätte dich fast nicht wieder erkannt." stieß er überrascht aus, bevor er Julie in die Arme schloß. "Ich wusste gar nicht, dass du dieses Jahr nach Hogwarts kommst." gestand er ein, nachdem sie sich aus der Umarmung gelöst hatten. "Es war ziemlich spontan." Julie lächelte schief. "Willst du dich nicht zu uns setzen? Bellatrix und-" Julie schüttelte hastig den Kopf. Allein beim Gedanken an Regulus Cousine machte sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend breit. "Danke, aber ich bin ganz zufrieden mit meinem Platz." Sie hob die Hand zum Abschied und wandte sich zum Gehen. Plötzlich konnte sie gar nicht schnell genug zu Alice und den anderen zurückkehren.






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