29) Spaziergang
Da ich in diesem alten Haus nichts mehr zu suchen habe und ich offensichtlich unerwünscht bin, werde ich Marseille wohl etwas besser kennenlernen. Die Straßen sind gegen Mittag fast leer, nur ich und ein paar Rentner laufen hier herum. Also die beste Gelegenheit, um ein wenig durch die Stadt zu laufen.
Marseille. Was habe ich hier bloß verloren? Eine Großstadt voller Unbekannter, in der mich selbst meine Schwester irgendwie aus dem Herzen verlor. Statt an einen Ort zu kommen, an dem ich all meine Probleme lösen kann, kam ich an einen Ort, der nicht weiter weg von dem eigentlichen Ziel hätte liegen können. An einen Ort, der nicht weiter weg von mir selbst hätte liegen können.
Nicht weiter weg von mir selbst. Sollte ich mich wieder Elisabeth nennen lassen? Betti klingt eigentlich auch ganz schön. Die kleine Lissy geht dieses Jahr in jedem Fall zugrunde. Beatrice hat schon dafür gesorgt.
Oh! Ein Eis! Wie viele Jahre bin ich dazu nicht mehr gekommen ... Gemütlich durch die Stadt zu spazieren, ein Eis zu essen, die Enten im See zu füttern und nachher ins Kino zu gehen. Fünf oder sechs Jahre? Warte kurz, wenn ich mir schon Ferien erlaubt habe, dann setze ich sie auch um. Etwas Gutes im Leben muss es ja geben.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Lecker. Ich denke zwar, dass die Verkäuferin etwas zu viel Geld genommen hat, aber das ist besser als französische Zahlen lernen zu müssen. Jetzt muss ich noch einen Teich mit Enten besorgen. Denkst du sie vertragen diese Waffelumrandungen vom Eis? Na egal, das werde ich auch noch herausfinden. Cool ist es auf jeden Fall und auf andere Gedanken bringt es mich auch. Beatrice wird mir diese selbsternannten Ferien nicht versauen. Das kann sie vergessen. Wenn niemand weiß, dass ich hier bin, kann sie nicht hier auftauchen. Und von jemandem, der nicht hier ist, habe ich nichts Böses zu erwarten. Oder? Bestimmt.
Welchen Film soll ich nachher ansehen? Wie ich sehe, gibt es hier Horrorfilme, Komödien, Liebesfilme, irgendein Schrott für kleine Kinder ... Das meiste entspricht nicht meinem Geschmack. Liebesfilme sind ja grausam! Wenn man allein diese ekelhaften Knutschfotos schon ansieht, wird einem doch übel! Biene Maja auf Französisch finde ich auch nicht gerade bezaubernd. Ach egal, komme ich eben später wieder. Irgendetwas werde ich dann schon finden. So anspruchsvoll bin ich schließlich nicht.
Der Spaziergang scheint von Minute zu Minute langweiliger zu werden. Am Anfang war es noch interessant und auch wunderbar, dass ich einmal auf andere Gedanken kommen konnte, doch auch jetzt spukt Beatrice in meinem Kopf herum. Selbst wenn ich deutlich ruhiger geworden bin, stört es mich immer noch, dass ich das Geheimnis niemals endgültig lüften kann. Auch wenn ich nicht weiß, was mich daran hindert.
Was ist nur mit ihr? Bei ihrer Mutter fiel mir bisher keine der tödlichen Züge Beatrices auf. Kein Blut, keine Leichen. Nicht einmal im Keller. Ob ich fantasiert habe? Bisher zog ich es nicht in Betracht, doch jetzt... Alles ist so verwirrend! Ich weiß einfach nicht mehr weiter! So verzweifelt war ich noch nie gewesen.
Ob Madame Troudeau Mutter schon angerufen hat? Hoffentlich nicht, denn dann lande ich in einer noch größeren Katastrophe, als ich schon bin. Aber Madame Troudeau wirkt auch nicht annähernd, als ob sie sich die Mühe eines Anrufes machen würde. Ihr scheint alles egal zu sein, ob wichtig oder unwichtig. Wirklich alles.
Zuhause. Werde ich Frankreich jemals wieder verlassen? Alles scheint so einfach hier, und dort... Ich würde gerne nachhause gehen. Doch nicht an dahin, wo Beatrice mir das Leben schwer macht. Dann bleibe ich doch lieber mein Leben lang in Frankreich. Lieber bleibe ich am Rande des Wahnsinns, als alles zu verlieren. Denn auch wenn ich nicht mehr habe und niemand mehr bin, so werde ich meine Seele nicht an Beatrice verkaufen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top