22) Emails
Sonntag
Hamlet und ich haben einen perfiden Plan entwickelt. Vermutlich eher Hamlet. Na gut, eigentlich Hamlet alleine, soweit man das bei einer imaginären Figur sagen kann. Aber ohne mich könnte er nie Deutsch, also...
Ich musste einfach die Wahrheit kennen! Also habe ich mir Doras Emailadresse geborgt. Schließlich darf Mutter nicht wissen, wo ich bin und mittlerweile denke ich, dass jeder außer mir Bescheid wissen darf.
"Hallo Mami!", schrieb ich. Für mich eine etwas übertriebene Anrede, dafür dass ich in die Psychiatrie sollte. Aber Dora war schon immer wahnsinnig gut mit ihr befreundet, also passte es.
"Dora, Liebes. Wie geht es dir? Wie ist es in Frankreich?"
Liebes. Also wirklich. Ich war nie ihr Liebes. Ich war doch bloß die verrückte Lissy.
"Mir geht's prima! Es gibt zwar ziemlich viel zu lernen und ich verstehe auch nicht jeden, aber ansonsten ist es gut." Einfach raten, was Dora hätte sagen können. Mehr konnte ich nicht tun. Mehr konnte man von mir auch nicht erwarten. Doch mir fiel erst jetzt auf, wie wenig ich sie kannte. Aber ich was doch nur die Lissy, die sich an ihre Füße kettete, um ein wenig Aufmerksamkeit abzubekommen. Wer weiß, ob sie mich überhaupt mag.
"Viel zu lernen? Du hast doch neuerdings davon geschwärmt, wie einfach alles ist! Wie, du verstehst sie nicht? Du kannst doch Französisch. Du musst mehr lernen, sonst wirst du am Ende genauso verschroben wie deine Schwester, die nun wegen ihren Noten weggelaufen ist" Manchmal frage ich mich wirklich, ob Mutter mich für so dämlich hält, keine Emails zu schreiben, oder ob sie wirklich daran glaubt. Andererseits weiß ich nun, wieso Doras Vertrauen in mich immer kleiner wird. In meinem Inneren verletzte es mich ein wenig, dass meine Familie so über mich redete, wenn ich nicht dabei war. Liebe Worte erwartete ich nicht gerade, aber wenigstens meine Mutter hätte mich ein wenig mögen können. Von Vater erwartete ich es nicht einmal, aber das...
"Ja, aber jetzt haben wir viel mehr Stoff in der Schule. Ist doch nur bei den neuen Lehrern, an die muss ich mich noch gewöhnen. Ich lerne schon genug. Weißt du schon, wo Lissy ist?"
Wieso habe ich mir die blöden Kommentare bloß verkniffen? Deine verschrobene Schwester, die wegen den Noten weggelaufen ist. Man könnte denken, dass Beatrice ihre Tochter sei. Und ich ein Niemand.
Diesmal brauchte die Antwort jedoch etliche Minuten. Hamlet meinte schon, ich solle einfach aufstehen und alles liegen lassen. Aber wenn ich schon die halbe Stunde abzahlt hatte, würde ich auch eine halbe Stunde am Computer sitzen. Auch wenn es nichts brachte.
"Lissy ist irgendwo. Wenn deine Noten wegen ihr schlechter werden, dann wird sie deswegen noch Ärger bekommen. Deine Schulleistung ist wichtiger als dieses seltsame Mädchen. Mark möchte wenigstens eine Tochter haben, die Erfolg im Leben hat, und ich würde mich auch sehr darüber freuen. Deine Schwester wird schon alleine klarkommen, denk lieber an deine Leistungen in der Schule. Dein Vater gibt nicht umsonst so viel Geld aus, um dich zu fördern. Du musst dir auch wirklich Mühe geben, wenn du etwas werden willst. Was aus Lissy wird, ist ihre eigene Wahl. Wenn sie so störrisch ist, wird Mark ihr bestimmt kein Studium finanzieren, und wie du weißt, ist eine gute Ausbildung uns beiden sehr wichtig."
Seltsames Mädchen! Wenigstens eine Tochter, die Erfolg im Leben hat! Wenn sie so störrisch ist! Ich bin zwar keine empfindliche Person, war aber dennoch den Tränen nahe. Früher war das nie so. Früher, als Beatrice noch nicht bei uns wohnte. Aber egal, ich kann nicht ewig in tollen Erinnerungen schwelgen. Beatrice kam und zerstörte alles. Und jetzt muss ich schauen, wie ich alleine klarkomme. Platz für Gefühle gibt es nicht.
"Ich werde bestimmt schon besser. Waren du und Papi eigentlich schon in Frankreich?" Endlich kam ich wieder darauf zurück, wo ich von Anfang an hinwollte. Es musste so sein! Sie durfte nicht schon wieder lügen!
Meine Finger hämmerten nur so auf die Tastatur, so dass ich bis zum Eintreffen der Email den Computer mehrmals ausschaltete, Apps löschte, mir eine Emailadresse erstellte und fast den Computer zum Absturz brachte. So lange, bis der Cafébetreiber mich schon selbst kontrollierte.
"Ich war nie in Frankreich, aber dein Vater. Wieso fragst du? Erinnert sich jemand an ihn?" Dafür, dass sie manchmal begriffsstutzig ist, wenn es um Beatrice geht, kam sie diesmal sehr schnell auf die Lösung. Denn Rest der Unterhaltung erzähle ich dir später, wir essen und ich möchte nicht, dass jemand Verdacht schöpft. Das Bild scheint langsam immer klarer zu werden. Doch seltsamerweise freue ich mich nicht einmal darüber.
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