9 Kolonie

DONALD

„Denke an meine Worte, Donald." Damit hat mich der Adler nach unendlichen Stunden wieder an der Küste Grönlands abgesetzt. Wahrlich ein irrer Träumer, dieser seltsame Heilige. Ich bin froh, ihn los zu sein.

In meiner Lemming-Kolonie herrscht Unruhe. Die Tiere rennen wild durcheinander, sie atmen in kurzen Zügen, sind reizbar und launisch. Offenbar hat es zu wenig Futter für alle Tiere und sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Frieden und Ruhe verbreiten, darin bin ich gut. Ich bin der größte Friedensstifter unserer Zeit. Niemand weiß so viel über Nahrungsverteilung wie ich.

Mitten in der Menge entdecke ich einen Stein und krabble darauf. Oben, das ist gar nicht einfach, stelle ich mich auf die Hinterbeine; es ist fast, als wäre ich an einer Wahlkampfveranstaltung mit Millionen von Fans. „Meine treuen Lemminge", beginne ich meine Rede, „Macht euch keine Sorgen. Folgt mir und ihr werdet genügend Futter haben. Es gibt Unmengen von Futter, wir wissen gar nicht, was wir mit diesem Futter machen sollen. Wenn ihr mir folgt, dann verspreche ich euch, werdet ihr nie wieder Hunger haben. Es sind die Pinguine, die euer Futter gestohlen haben. Sie können nicht fliegen und haben sich an unseren Vorräten bereichert. Wir müssen alle Pinguine von der Insel stoßen; dann werden wir wieder genügend Futter haben! Ich mache Grönland wieder groß. Grünfutter auf Grönland für alle – GAGA!"

Die Lemminge gucken alle zu mir hoch, stehen bewegungslos da. Sie haben gar aufgehört zu kauen, einer hustet, einige Kleine piepsen, ansonsten hört man nichts. „Gaga", schreit ein süßes, kleines Fellknäuel, worauf alle in ein überwältigendes Gaga-Geschrei einstimmen. Es ist wie Musik, ein Festival des Triumphes. „Gaga, Gaga, Gaga ..." wilde Tänze und Freudengesang. Während des Tanzes falle ich vom Stein.

„Du konntest die Menge schon immer begeistern, Donald."

Ich blicke verwirrt in ein lächelndes und kauendes Lemming-Gesicht. Elon!

„Wie kommt es, dass wir uns immer wieder treffen? Wo warst du so lange?", will ich von meinem treuen Freund wissen.

„Ich war noch eine Weile in Kanada; konnte sogar als Wolf dem intelligenten Dachs dienen. Stell dir vor: Der hat eine ganze Armee von treuen, durchtrainierten Wölfen, die jeden Feind sofort vertreiben. Ich habe viel von ihnen gelernt. Leider bin ich dann einem dämlichen Jäger vor die Flinte gerannt – nun bin ich hier."

Ich erzähle ihm von meinem langweiligen Ausflug mit dem Adler. Er wiegt seinen Kopf hin und her, zieht die Augen hoch und legt mir ein Pfötchen auf den Rücken.

„Was willst du nun tun? Du weißt schon, dass das Futter nicht für alle reicht, oder?", fragt er mich kumpelhaft.

„Ich weiß das; aber die da wissen es nicht. So lange sie glauben, es gäbe genug Futter für alle, werden sie uns welches bringen und wir können sie immer weiter wegschicken, um neues Futter zu holen. So können wir essen, ohne uns bewegen zu müssen und sie leisten die ganze Arbeit, ohne zu essen."

Elon nickt anerkennend und legt sich neben mir auf das Gras beim sonnengewärmten Stein. Die Tiere der Kolonie arbeiten fleißig, tragen uns ständig neues Gras herbei. Was wir nicht essen können, verwenden wir als Polster für unsere Denkfabrik. Wir leisten die ganze Hirnarbeit, wir sorgen für die Kolonie, indem wir sie leiten und führen.

Bald wird uns die Arbeit zu anstrengend und wir suchen aus der Menge andere fähige Anführer. Die sind leicht zu finden: Es sind die Lemminge, die sich am wenigsten bewegen und dafür am lautesten pfeifen. Erstaunt stellen wir fest, noch mehr gestrandete Menschenseelen um uns zu scharen. Ein Lemming spricht mit starkem Akzent, wahrscheinlich russisch. Ein anderer, ein unglaublich fettes Tier, klingt wie ein Chinese oder Japaner – irgendwas von da drüben. Sie stellen sich als Wladimir und Kim vor – alte Bekannte! Sofort lassen wir das Nest vergrößern, damit unsere Freunde auch darin Platz finden.

Elon hat unterdessen die Arbeitsschichten der Kolonie-Lemminge verdoppelt. Sie tragen deutlich mehr Futter zu uns, was auch dringend nötig ist, denn Lemming Kim verschlingt eine Menge davon. Essen, schlafen und uns über die Zeit, in welcher wir noch die Welt regierten, unterhalten. So sehen unsere anstrengenden Arbeitstage aus.

„Die Lemminge sind unzufrieden", meckert Wladimir eines Morgens. „Es könnte sein, dass es zu einem Aufstand kommt. In Russland haben wir solches schon oft erlebt. Revolution! Pah, das müssen wir unterbinden."

Elon räkelt sich auf dem Stroh. „Was schlägst du vor?"

„Der Führer soll zu ihnen sprechen", erklärt Kim. „Donald soll eine Rede halten. Wir müssen neue Schuldige finden und den Lemmingen neue Ziele geben, auf die sie hinarbeiten können."

„Wir haben nichts, das wir ihnen geben können", mault Elon. Ständig will er mir die Show stehlen.

„Wer spricht den von geben? Versprechen reicht doch auch. Ich mache das schon viele Jahre und das Volk glaubt mir alles. Hört zu und lernt." Mit diesen Worten erhebe ich mich, was gar nicht einfach ist, wenn man viele Tage nur gefressen und sich nie bewegt hat. Elon und Wladimir helfen mir auf den Stein.

„Liebe Mitlemminge; wir haben in der Führung neue Reserven für euch gewonnen; wir konnten mit den Robben einen Handel abschließen, sie werden uns ihr Futter geben."

„Robben fressen Fische. Ich mag keinen Fisch." Der Störefried wird von einigen treuen Lemmingen aus der Menge entfernt.

„Wir werden Unmengen von Seegras erhalten. Seegras ist gesund; nichts ist gesünder als Seegras. Folgt uns! Lang lebe GAGA!"

„Lang lebe GAGA!" Die Menge fällt in ein minutenlanges Lobgeschrei. Ich versuche zu tanzen, lasse es aber bleiben, weil mir schlecht wird. Dann klettere ich vom Stein herunter, genieße das Bad in der Menge.

„Lemminge! Folgt mir! Wir holen uns das Futter, das uns zusteht!" Elon und Wladimir rennen an meiner Seite los, Kim folgt uns keuchend mit etwas Abstand. Die Masse beginnt zu rennen, alle folgen uns. Es ist ein erhebendes Gefühl, wenn man mit wenigen Worten eine ganze Kolonie bewegen kann. Wir rennen.

„Da vorne kommt ein Abgrund, Donald", meckert Elon, während Kim weit hinten um Sauerstoff ringt.

„Es gibt keinen Abgrund. Ich weiß alles über Abgründe. Hier hat es noch nie einen Abgrund gegeben."

Als wir die Steilküste erreichen und sehen, wie tief es runtergeht, können wir nicht mehr anhalten. Tausende von Lemmingen stoßen von hinten nach, sie stürzen mit uns in die Tiefe.

Möwenkacke.

***

Anmerkung des Autors zu diesem Kapitel:

Mir ist vollkommen bewusst und klar, dass Lemminge sich nicht dem Massenselbstmord hingeben und dass alle dementsprechenden Meinungen auf falschen Gerüchten basieren, zurückgehend auf einen Disney-Film mit falschen Inhalten. Im Zeitalter der Fake-News hingegen fand ich den Fun-Fact durchaus passend; also ließ ich tausende von (roten) Lemmingen blind ihrem (orangen) Führer folgend in den Tod rennen; seine Führer-Kollegen gleich mit ihm. Ich bitte alle Lemminge und deren Verwandten um Verzeihung für diesen bewussten Fehler.

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