46. Emotional bonding
Mit der Suche nach einer neuen Wohnung, dem Studium, meiner neuen Arbeit und allem was sonst noch tagtäglich anlag, wurde mir in den kommenden zwei Wochen zumindest nicht langweilig.
In einer unserer selten gewordenen Sitzungen sprach meine Psychologin Carly mich darauf an, dass dies nun die vorletzte Stunde sei, die von der Krankenkasse bezahlt wurde.
„Ich würde deshalb gern heute unsere letzte Stunde machen und ein Abschiedsritual mit dir durchführen. Das funktioniert wie eine Art Meditation und soll dafür sorgen, dass du die emotional wichtigen Dinge, die du gelernt hast, verankerst und wieder abrufen kannst", erklärte sie mir.
Carly hatte so eine ganz besondere Stimme, wenn sie eine Meditation anleitete, die mich sofort innerlich beruhigen konnte, egal was gerade sonst so in meinem Leben passierte. Ich konzentrierte mich währenddessen ganz auf mich selbst und auf ihre Worte, die mir halfen, mich zu sammeln und zu fokussieren.
Als wir uns nach der Stunde ein letztes Mal an der Tür verabschiedeten, wurde ich fast sentimental. Carly merkte das natürlich, sie hatte mich in der letzten Zeit schließlich außerordentlich gut kennengelernt und außerdem ein Gespür für die Gefühle anderer Menschen.
„Du wirst deinen Weg gehen, Lena, da bin ich mir ganz sicher", gab sie mir mit. „Und ich hoffe natürlich, dass du niemals mehr ein solch traumatisches Ereignis miterleben musst, und wir uns deshalb nicht allzu schnell wieder sehen. Alles Gute dir."
Damit war auch dieser Abschnitt meines Lebens beendet, und ich hoffte, Lukas ein für alle Mal hinter mir lassen zu können. An diesen Mistkerl wollte ich nie wieder denken müssen, und ich war froh, dass er seine gerechte Strafe bekam.
Gemeinsam mit Aoife, die ich schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hatte, suchte ich am Sonntagnachmittag online nach möglichen Wohnungen für mich. Wir hatten uns Pizza bestellt und aßen diese parallel dazu. Aoifes Kommentar zur Wahl des Essens war bloß ein „Ich brauche dringend Kalorien, die habe ich heute Vormittag auf dem Pferd nämlich wegtrainiert" gewesen. Ihren lockeren Umgang mit dem Halten des Gewichts konnte ich nur immer wieder bewundern. Mich würde es fertig machen, immer auf meine Figur und mein Gewicht achten zu müssen, aber Aoife schien damit kein größeres Problem zu haben.
„Schau mal diese hier", Aoife klickte auf ein Bild von einem winzigen Zimmer im Dachgeschoss. „Die ist auf jeden Fall gut bezahlbar, würde ich sagen."
Bei näherem Hinsehen hatte das Zimmer aber weder ein eigenes Bad noch eine eigene Küche, und eigentlich passte gerade einmal ein Bett hinein. Das entsprach nicht gerade meinen Vorstellungen. Ich wollte zwar nicht allzu wählerisch sein, aber wenigstens einen Schrank zu haben wäre schon schön.
Auch die weiteren Wohnungen, die wir virtuell besichtigten, zog ich nicht ernsthaft in Betracht. Die meisten davon waren viel zu teuer oder hatten nicht die richtige Lage. Bei einigen WG-Zimmern sah es besser aus, diese schrieb ich mir direkt auf und nahm mir vor, in den nächsten Tagen Bewerbungen darauf zu verfassen. Je früher ich damit anfing, desto besser.
Nachdem wir unsere Pizza aufgegessen hatten, schlug ich vor, dass wir einen kleinen Spaziergang durch die nahegelegenen Camden Gardens machen könnten. Dem stimmte Aoife sofort zu. Sie achtete im Allgemeinen auf eine gesundere Lebensweise durch ihre Karriere als Jockey, und war wohl froh, nach der sehr leckeren, aber auch fettigen Pizza, ein bisschen frische Luft und Bewegung zu bekommen.
Wir zogen uns also unsere Schals und Jacken an und gingen aus der Tür. Der Himmel war wolkenverhangen, aber immerhin regnete es gerade nicht. Bei dem Gedanken daran erzählte ich Aoife von meinem Probearbeiten im Tonstudio, dessen erste Stunde ich draußen im Regen verbracht hatte.
„Das ist wieder so typisch, Lena", lachte sie. „Du hättest dich ja wenigstens in der U-Bahn Station unterstellen können, da wäre es deutlich trockener und wärmer gewesen." Da musste ich ihr Recht geben. Manchmal hatte ich halt auch einfach ein Brett vor dem Kopf.
Es waren weniger Leute als sonst unterwegs, schließlich war auch gerade keine Touristen-Zeit in London und das Wetter lud nicht gerade zum Spazierengehen ein.
Aus diesem Grund machten wir noch einen Schlenker zum Camden Market, der nur ein paar Gehminuten entfernt von den Camden Gardens war. Wir holten uns bei Starbucks zwei Kaffee und schlenderten zwischen den Marktständen und Läden vorbei.
Grinsend zeigte ich auf eine Ukulele mit der Flagge des Vereinigten Königreichs, die ich in einem Schaufenster entdeckte: „Die sieht ja mega cool aus."
„Welche Instrumente willst du denn noch alle anfangen?" Aoife lachte nur. „Hast du eigentlich mal auf der irischen Flöte gespielt, die ich dir zum Geburtstag geschenkt habe?"
„Das habe ich tatsächlich, und ich werde immer besser", erzählte ich begeistert. „Inzwischen kann ich schon Vorschläge spielen, das klingt echt cool."
„Vorschläge?" Verständnislos sah sie mich an. „Was soll das denn sein?"
„Äh, ich weiß gar nicht richtig, wie ich das erklären soll. Das sind so kleine Töne vor dem richtigen Ton, also ta-daaa", versuchte ich, eine Vorschlagsnote zu imitieren.
Das brachte Aoife jedoch nur zum Lachen. „Ja klar, ich weiß jetzt ganz genau, was du meinst", grinste sie.
Es war ein richtig schöner restlicher Nachmittag, und ich fand es sehr schade, als ich schließlich doch in die WG zurückmusste. Auf mich wartete noch ein wissenschaftlicher Text, den wir morgen in einem Seminar behandeln würden, und auf den ich mich bisher nicht vorbereitet hatte.
Dadurch konnte ich auch den Abend nicht mit Niall verbringen, was umso blöder war, weil er übermorgen für ein paar Tage nach L.A. fliegen musste. Aber das Studium ging vor, und das verstand Niall zum Glück zu hundert Prozent.
So telefonierten wir am Abend nur kurz miteinander, bevor ich mich wieder dem leider sehr trockenen Text zuwandte. Aber auch das gehörte im Studium dazu. Trotzdem machte es mir immer noch riesigen Spaß. Die meisten Themen waren nach wie vor spannend, und die regelmäßigen praktischen Arbeiten im eigenen Tonstudio auf dem Campus mit meinen Kommilitonen waren zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen geworden. Gerade in der vergangenen Woche hatten wir ein Projekt gehabt, in welchem wir selbst im Aufnahmeraum stehen mussten, egal wer ein Instrument spielen konnte oder nicht. Es war total lustig gewesen, weil wir tatsächlich eher unmusikalische Kommilitonen hatten, die kaum einen geraden Ton herausbekommen hatten. Anhand dessen hatten wir aber viel mit Bearbeitungssoftware gearbeitet, uns mit Tonkorrekturen auseinandergesetzt und die Autotune-Funktion verschiedener Programme ausprobiert.
Damit Niall und ich uns wenigstens noch einmal sehen konnten, bevor er nach L.A. reiste, fuhr ich am Montagabend direkt nach meinem Seminar zu ihm.
Wir begrüßten uns mit einer heftigen Umarmung direkt an der Haustür, da wir uns schon wieder viel zu lange nicht gesehen hatten – auch wenn es nur drei Tage waren. Für ein paar Sekunden genoss ich einfach nur das Gefühl, wie Nialls Arme um meinen Oberkörper geschlungen waren, und wie fest wir uns hielten.
„Ich hab dich schon vermisst", flüsterte ich und sog seinen wundervollen Geruch ein.
„Ich dich auch", gab er ebenso leise zurück. „Aber wollen wir trotzdem erstmal reingehen? Mir wird jetzt doch etwas kalt." Er lachte, und wir lösten uns aus der Umarmung.
Mit einem kurzen Blick stellte ich fest, weshalb ihm kalt war. Niall trug nur eine kurze Jogginghose und ein T-Shirt, eindeutig unpassend in den winterlichen Temperaturen. In seinem Haus war es jedoch angenehm warm, vor allem durch die Fußbodenheizung.
Wir machten es uns auf dem Sofa gemütlich und kuschelten uns zusammen unter eine Decke, nachdem ich meine zwei Jacken und meine Schuhe losgeworden war.
Eine Zeit lang schwiegen wir nur und genossen die körperliche Nähe des jeweils anderen. Ich merkte das vor allem an Nialls Atem, der immer ruhiger wurde. Es war ganz still im Haus, weder der Fernseher lief, noch die Musikanlage. Das war ein sehr seltener Moment, den ich aber umso mehr zu schätzen wusste, und Niall scheinbar auch.
„Obwohl ich mich total darauf freue, jetzt intensiv an meiner Musik arbeiten zu können, bin ich trotzdem traurig, dass wir uns für ein paar Tage nicht sehen können", wisperte er. „Und das wird nicht das letzte Mal sein, dass das passiert."
Ich war so froh, dass er das ansprach, und ich somit nicht die anhängliche Frau war, die aus ein paar Tagen direkt das große Drama machte.
„Mir geht es genauso wie dir." Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz sich erwärmte, als ich das aussprechen konnte. „Ich werde dich so vermissen, auch wenn wir uns danach bald wiedersehen. Aber ich freue mich auch so riesig, dass du an deinem Traum arbeiten kannst, und dass du das tust, was dich erfüllt. Das ist ein ganz schöner Zwiespalt."
Niall drückte mich fester an sich. „Ich liebe dich so sehr, Lena." Die Stimme brach ihm weg, was ein erneutes Gefühlschaos bei mir auslöste. Die Schmetterlinge in meinem Bauch meldeten sich mal wieder zu Wort, und ich hatte das Bedürfnis, ihn nie wieder loszulassen.
„Ich liebe dich, Niall", brachte ich nach einem Räuspern heraus.
Wir begannen, uns zu küssen, und für den restlichen Abend sprachen wir kaum noch miteinander.
Als wir uns gegen 22 Uhr verabschiedeten, musste ich die Tränen zurückhalten, und auch Niall blinzelte immer mal wieder.
Ich wusste nicht einmal, weshalb genau ich so ein Drama aus diesem Abschied machte. Ein Drama, das sonst gar nicht meine Art war. Oder kaum. Niall würde am Freitagabend zurückkommen, und dann würden wir uns auch direkt wiedersehen. Aber irgendwie fiel es mir schwerer als sonst, ihn gehen zu lassen. Und ihm schien es genauso zu gehen.
Diese emotionale Bindung zwischen uns war kaum mit Worten zu beschreiben, eine solche Stärke hatte sie inzwischen entwickelt. Wir küssten uns immer wieder, obwohl wir bereits im Flur standen, und ich auch schon meine Schuhe trug. Ich musste nun eigentlich wirklich fahren, da ich am nächsten Morgen früh in der Uni sein musste, und Nialls Flug sogar noch früher ging.
Aber irgendetwas hielt uns davon ab.
Und auch wenn es total unvernünftig war, und wir uns beide am nächsten Tag vermutlich darüber ärgern würden, beschlossen wir in diesem Moment einvernehmlich und nonverbal, dass wir noch ein paar Stunden miteinander verbringen könnten. Wir würden das zwar schlafend tun, aber das war ja im Grunde egal.
Ohne dass wir ein Wort sprachen, zog ich meine Schuhe aus und hängte meine Jacke zurück an die Garderobe. Niall nahm mich an der Hand und zog mich die Treppe hoch bis ins Schlafzimmer. Nachdem er einen Wecker gestellt hatte, zogen wir uns beide einfach nur bis auf die Unterwäsche aus und legten uns ins Bett. Dabei kuschelten wir uns ganz nah aneinander, und genossen einfach nur die Nähe des anderen. Keiner von uns kam auf die Idee, auch nur in Richtung Sex zu denken.
Ich strich Niall immer wieder über seine Wange, durch die weichen Haare und über seine Brust. Irgendwie wollte ich spüren, dass er echt war, dass wir tatsächlich gerade beieinander lagen. Und ihm schien es genauso zu gehen.
Wir konnten lange nicht einschlafen, aber irgendwann drifteten wir dann doch, eng umschlungen natürlich, ins Land der Träume.
Das Aufwachen am Morgen war dagegen umso brutaler. Nialls Wecker klingelte um 4 Uhr, und ich hatte mich gerade in einer Tiefschlafphase befunden. Damit war nun aber nichts mehr her.
Niall rauschte direkt ins Bad, da er sich vor dem Abflug noch duschen musste. Ich dagegen beschloss kurzerhand, das zu tun, sobald ich wieder in der WG war. Bis die Uni um 8 Uhr begann, hatte ich schließlich noch vier Stunden Zeit. Trotzdem musste ich jetzt aufstehen, damit ich Niall nicht aufhalten würde.
Noch etwas verpennt setzte ich mich im Bett auf und warf einen Blick durch das Schlafzimmer. Unsere Kleidung von gestern hatten wir unachtsam auf den Boden geschmissen. In diesem Moment hatten wir schließlich ganz andere Gedanken im Kopf gehabt. Bei der Erinnerung daran musste ich lächeln. Diese unglaubliche emotionale Bindung zu Niall war wirklich einmalig.
Gedankenverloren drehte ich mich zur Seite, sodass meine Füße nun den Boden berührten. Da Niall leider hier keine Fußbodenheizung hatte einbauen lassen, froren sie ein wenig, und ich suchte schnell nach einem frischen Paar Socken.
Ansonsten zog ich die gleichen Klamotten wie vom Vortag an, schließlich würde ich mich sowieso gleich noch duschen.
Apropos duschen, Niall kam, nur mit einem Handtuch um die Hüfte, wieder ins Schlafzimmer spaziert, was mich sofort hellwach machte. Aufgrund meiner körperlichen Müdigkeit jedoch noch etwas wackelig stand ich auf, und ging auf ihn zu. Seine Haare waren noch nass, was ich sofort bemerkte, als ich mit meinen Händen hindurch fuhr.
„Eh", machte er. „Die muss ich noch föhnen."
„Das ist mir egal", grinste ich, und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Guten Morgen."
„Mir nicht", maulte er ein wenig. Was seine Haare anging war Niall manchmal wirklich etwas eitel, aber es störte mich nicht. Jeder Mensch hatte schließlich so seine Macken, und das hier war eine verhältnismäßig kleine Sache. Jedenfalls für mich, bei Niall war ich mir da nicht so ganz sicher.
Zum Glück artete das nicht in ein größeres Problem aus. Ich half Niall noch, die letzten Dinge in seinem Koffer zu verstauen, nachdem er sich angezogen und seine Haare geföhnt hatte. Dann gingen wir gemeinsam die Treppe hinunter. Zum frühstücken hatten wir keine Zeit, aber Niall würde sicherlich am Flughafen oder im Flugzeug versorgt werden, und ich machte mir eine mentale Notiz, vor der Vorlesung bei Prêt à manger vorbeizuschauen.
„Ich hab noch was für dich", nuschelte Niall, kurz bevor wir das Haus verließen.
„Hm?" Was wollte er denn jetzt noch? Eigentlich musste er dringend los, das Taxi wartete vermutlich auch schon vor dem Haus.
Aus seiner Hosentasche zog der Ire einen Schlüssel mit einem Anhänger, der mir merkwürdig bekannt vorkam.
„Damit du am Freitag schon vor mir ins Haus kommst", sagte er mit einem fast schon schüchternen Lächeln.
Es ratterte ganz schön in meinem Kopf, bevor ich verstand, was er mir da gab. Es war aber schließlich auch echt früh am Morgen.
„Dein Hausschlüssel?", fragte ich ungläubig.
„Ich habe einen für dich machen lassen."
Dieser riesige Vertrauensbeweis von ihm, mit dem ich nicht gerechnet hatte, ließ mein Herz dahinschmelzen. „Danke", konnte ich nur rausbringen. All das andere, was ich ihm in diesem Moment gern gesagt hätte, blieb in meinem Hals stecken.
Aber wie ich gestern Abend gemerkt hatte, brauchten wir eigentlich keine Worte, um uns zu verständigen. In dieser Situation reichten unsere Blicke, die alles sagten.
Wir verließen das Haus gemeinsam, und ich schloss mit meinem neuen Schlüssel ab. Dabei nahm ich den Anhänger noch einmal genauer unter die Lupe.
Das Gelächter, in das ich ausbrach, schien ansteckend zu sein, denn Niall lachte mit.
„Woher wusstest du das?", brachte ich unter meinem Lachen hervor.
„Lilly", erwiderte er und hielt sich die Seiten vor Lachen. „Du musst zugeben, dass es irgendwie passt."
Das tat es wirklich. Beim (nun tatsächlichen) Verabschieden musste ich immer noch ein wenig lachen, sodass es mir deutlich leichter fiel als am Abend zuvor.
Nur noch dreieinhalb Tage, dann würde ich Niall wiedersehen.
Hallo ihr Lieben!
Es neigt sich tatsächlich dem Ende zu, denn das hier ist das vorletzte Kapitel. Was haltet ihr von der emotionalen Bindung zwischen Niana? Habt ihr mit den beiden mitgefühlt?
Findet ihr es gut, dass Niall Lena einen Schlüssel für sein Haus gegeben hat? Ich freue mich schon sehr auf eure Vermutungen, was für ein Schlüsselanhänger das wohl ist.
Wann hättet ihr denn gern das letzte Kapitel, gibt es da Präferenzen? Vielleicht am Wochenende irgendwann?
Oh, und das Wichtigste: Kennt ihr jemanden, der mir in den nächsten Tagen ein Cover gestalten würde, oder könnt ihr das vielleicht sogar selbst? Meldet euch in dem Fall bitte bei mir :)
Liebe Grüße
Catrifa xx
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