35. Festivities

Seit der Sitzung bei meiner Psychologin mit Niall hatte ich das Gefühl, dass ich wieder etwas offener mit ihm sprechen konnte. Bevor ich über die Feiertage nach Hannover flog trafen wir uns noch einmal am dritten Advent in unserer WG. Ich hatte mich durchgesetzt und einen provisorischen Adventskranz für uns gebastelt, an welchem wir nun die dritte Kerze entzünden konnten. Für Lilly und Peter war das Ganze nicht so wichtig, aber ich bestand darauf und Niall kam nun auch in den Genuss der drei Kerzen.

„Wie feiert ihr eigentlich euer Weihnachtsfest?", wollte Niall von Lilly und Peter wissen, als wir mit ein paar Weihnachtskeksen und Tee am gemeinsamen Esstisch saßen.

„Am vierundzwanzigsten fliegen wir zu Peters Eltern nach Edinburgh", berichtete Lilly. „Da bleiben wir bis zum Boxing Day und dann fliegen wir über Silvester nach Japan zu meinen Verwandten."

„Ich habe meine Eltern zwar lieb, aber allzu lange muss ich sie wirklich nicht sehen", fügte Peter hinzu. „Und ich bin schon so gespannt auf Japan, da war ich ja bisher noch gar nicht. Richtig cool, dass wir auch nach Silvester noch ein paar Tage dort bleiben können."

„Ich werde euch auf jeden Fall sehr vermissen, wenn ich aus Deutschland wiederkomme und ganz alleine in dieser riesigen Wohnung bin. Ich weiß gar nicht, wohin mit all den Zimmern." Das wusste ich wirklich noch nicht. Die Wohnung war ja eigentlich schon für drei Leute viel zu groß. Und ich wollte eigentlich nicht die ganze Zeit alleine sein. Dass ich mich dabei unwohl fühlen würde, konnte ich mir jetzt schon ausmalen. So selbstbestimmt wollte ich dann doch nicht sein.

„Du kannst dir ja ein paar Leute einladen und eine Party feiern", schlug Lilly in dem Wissen vor, dass ich das niemals tun würde. Ich lachte daraufhin nur. Ganz bestimmt nicht.

„Eine Party klingt eigentlich gar nicht so schlecht", klinkte Niall sich wieder ein. „Ich weiß ehrlich gesagt noch gar nicht, wie ich Silvester dieses Jahr feiern möchte. Über Weihnachten bin ich in Irland bei meinem Vater, aber da ich dieses Jahr auf jeden Fall nicht der Gastgeber einer großen Feier bin, habe ich mir da noch keine größeren Gedanken drum gemacht."

War das jetzt gerade ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass er mit mir zusammen feiern wollte? Ich war mir dessen nicht ganz sicher.

„Mein Flug zurück nach London geht ja erst am 2.1., kümmert sich eigentlich jemand bis dahin um die Post?", wechselte ich abrupt das Thema und wandte mich an meine beiden Mitbewohner.

„Ja, das habe ich schon an Sally weitergegeben", berichtete Peter. Sally wohnte im Stockwerk unter uns und arbeitete ebenfalls bei Syco. Sie kümmerte sich um die Instandhaltung der Gästezimmer im Headquarter und der Wohnungen, die Syco den Mitarbeitern zur Verfügung stellte. Und jetzt leerte sie netterweise auch für uns den Briefkasten.

„Wer hat eigentlich die Kekse besorgt?", fragte Niall nach einer kurzen Gesprächspause. „Ich finde die super lecker und würde am liebsten die ganze Packung mitnehmen."

„Ob du es glaubst oder nicht, die habe ich selbstgebacken und verziert", erklärte ich ihm und wurde fast ein wenig stolz auf mich. Was mich rot anlaufen ließ war jedoch die überraschte Anerkennung in seinem Blick.

„Wow, Lena, ich bin echt beeindruckt", sagte er ehrlich. „Ich wusste gar nicht, dass du so toll backen kannst. Das musst du mir unbedingt mal zeigen, ich kann das nämlich so gar nicht. Kekse oder Kuchen muss ich immer kaufen."

„Naja, diese Kekse sind nicht so richtig schwer", nuschelte ich etwas geschmeichelt.

„Du hast es aber trotzdem geschafft, die Küche heile zu lassen", lachte Lilly. „Das ist ja schon mal ein halbes Wunder."

„So schlimm bin ich gar nicht mehr", verteidigte ich mich.

„Da muss ich euch beiden gewissermaßen Recht geben. Früher wäre die Küche sicher abgefackelt, und die Kekse mit dazu. Aber Lena, du hast dich wirklich entwickelt was deine Küchen-Kompetenz betrifft. Diese Kekse sind der ultimative Beweis." Niall nahm sich demonstrativ gleich den nächsten Keks.

Auch wenn Niall und ich uns jetzt wieder etwas annäherten, fühlte es sich trotzdem nicht an, als seien wir in einer Beziehung.

Das lag meiner Ansicht nach mehr an Niall als an mir, da er keinerlei Anstalten machte, mir körperlich nahe zu kommen, und ich mich ihm dann auch nicht an den Hals werfen wollte. So umarmten wir uns zum Abschied nur flüchtig, was ich von Niall gar nicht kannte. Seine Umarmungen waren sonst das genaue Gegenteil. Er drückte mich normalerweise fest an sich, behielt mich auch noch länger in seinem Arm und küsste mich, bevor er mich ganz los ließ. Aber jetzt war alles anders. Jetzt spürte ich keine Sicherheit, keine Geborgenheit, sondern eher Unsicherheit. Und ich war mir nicht sicher, ob es meine oder seine Unsicherheit war.

Die nächste Woche verflog so schnell, dass ich mir darum kaum noch Gedanken machen konnte. Siedend heiß fiel mir ein, dass ich ja noch Weihnachtsgeschenke besorgen musste, was ich am Dienstagvormittag in der Nähe der Tottenham Court Road erledigte, wo es rappelvoll war. Ich machte mir darum ansonsten keine großen Sorgen. Ich hatte zwar nicht für jeden das perfekte Geschenk, aber es würde ausreichen. In diesem Jahr hatte ich einfach zu viel sonstigen Stress in der Vorweihnachtszeit gehabt. In der Uni musste ich zwei große Abgaben machen, mit denen ich Tag und Nacht beschäftigt war, und als ich am Freitagmorgen bereits mit meinem gepackten Koffer im Hörsaal saß, war ich froh, dass dieser Marathon vor den Ferien vorbei war und ich nun die Feiertage mit meiner Familie würde genießen können.

Im Tonstudio bei Mr Brown war ich gar nicht mehr gewesen in dieser Woche, denn Jean und Jane hatten eine kurze Pause eingelegt und wollten erst im neuen Jahr die weiteren Aufnahmen für das Album machen. Mit meinen ganzen Abgaben für die Uni kam mir das Ganze recht, also verschwendete ich dafür keine Zeit.

Als die Vorlesung endlich beendet wurde, wünschte ich Olivia in ihrem kanariengelben Mantel schöne Feiertage und machte mich dann auf direktem Weg auf in Richtung U-Bahn. Von Lilly und Peter hatte ich mich bereits am Morgen verabschiedet und ihnen eine Kleinigkeit zu Weihnachten in der Wohnung gelassen. Ich war in diesem Jahr wirklich nicht kreativ gewesen, zwei hübsche, zueinander passende Teetassen gefüllt mit selbstgemachten Keksen mussten reichen. Aber ich war mir sicher, dass sie sich trotzdem darüber freuen würden. Sie hatten ja alles mitbekommen, was in den letzten Wochen in meinem Leben schiefgelaufen war.

Bei dem Gedanken daran musste ich schlucken. Ich wusste noch nicht, wie ich meiner Familie gegenübertreten sollte. Sie sollten nichts von dem wissen, was passiert war, denn sonst dürfte ich sicher nicht wieder zurück nach London fliegen. Aber ich wusste genau, dass ich nicht gut lügen konnte, und vor allem gegenüber meinen Eltern nicht.

Ich hatte zum Glück noch den ganzen Flug und die Zugfahrt Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, und diese Zeit plante ich zu nutzen. Auf dem Weg nach London Heathrow rief ich jedoch zunächst Aoife vom Zug aus an, die ich seit ich die Geschenke besorgt hatte nicht noch einmal gesehen hatte, denn sie verweilte bereits in Irland.

Nach mehrmaligem Klingeln meldete sie sich glücklicherweise: „Hey Lena, schön, dass du anrufst!"

„Das finde ich auch schön", witzelte ich zurück. „Was macht die grüne Insel, alles okay?"

„Ja, hier ist alles ganz entspannt", antwortete sie. „Dylans Eltern sind ganz glücklich, mich mal wieder zu Gesicht zu bekommen, und ich genieße einfach nur die Ruhe. Ich gönne mir auch gerade mal drei Tage, in denen ich nicht ständig auf mein Gewicht achte, du kannst dir nicht vorstellen, wie schön das ist."

Das konnte ich mir tatsächlich nicht, aber ich hatte eine Ahnung. Als Jockey musste Aoife ihr Gewicht möglichst halten. Nahm sie ab, musste das Rennpferd mit zusätzlichen Gewichten ausgestattet werden, nahm sie zu, hatte das Pferd mehr zu tragen. In beiden Fällen bedeutete das ein Handicap für die Schnelligkeit des Pferdes, das hatte sie mir mal erklärt.

„Ich wollte dich mal um deinen Rat bitten", kam ich schließlich zum Grund meines Anrufs.

„Na klar, schieß los."

„Ich bin mir so unsicher, weil meine Familie gar nichts von dem Vorfall mit Lukas weiß und ich es ihnen auch nicht erzählen möchte. Ich weiß gar nicht richtig, wie ich jetzt damit umgehen soll", gab ich zu.

„Mh", kam es vom anderen Ende der Leitung. „Ich weiß was du meinst, aber ich glaube, du solltest aus einer Mücke keinen Elefanten machen. Deine Familie weiß nichts davon und das müssen sie auch nicht. Du bist selbstständig, Lena, und du kannst dich mit deinen eigenen Problemen auseinandersetzen. Du würdest ihnen von deinem Sexleben ja auch nichts erzählen, oder?"

Da Aoife über mein nicht existentes Sexleben durchaus im Bilde war, musste ich bei diesem Vergleich grinsen und ihr zustimmen.

„Also meinst du, ich soll mich genauso wie immer benehmen?"

„Wenn du das kannst, ist das die einfachste Lösung", erwiderte sie. „Du bist ja mit deinen Problemen nicht allein und Eltern müssen auch nicht alles wissen. Das ist für dich vermutlich schwer, weil du ja noch nicht so lange von deinen Eltern weg bist, aber so ist das im Leben später auch. Du kannst ihnen ja vorrangig von den schönen Dingen erzählen. Von deinem Studium, von deiner Arbeit und von mir." Beim letzten Wort hörte ich sie kichern.

„Danke, Aoife. Du rettest mir mal wieder den Hintern", sagte ich aufrichtig.

„Gern, dafür sind Freunde doch da." Da hatte sie wirklich recht. „Apropos Freunde, wann bist du denn nach den Feiertagen wieder in London?"

Wir sprachen noch einen Moment über unser nächstes Treffen im neuen Jahr, dann verabschiedete sie sich, weil es bei Dylans Eltern ein spätes Frühstück gab.

Bis der Zug beim Flughafen ankam dauerte es nicht mehr lange, und dort fand ich mich auch relativ schnell zurecht. Der Flughafen war zwar riesig und es waren jetzt so kurz vor Weihnachten besonders viele Leute unterwegs, aber ich kannte mich ja inzwischen gut aus.

Während ich nach der Sicherheitsschleuse auf das Boarding wartete, kramte ich mir ein Fachbuch über MIDI-Programme aus meinem Handgepäck und begann, darin zu lesen. Ich hatte mir dieses aus der Bibliothek des Colleges ausgeliehen und plante, mich in das Thema hineinzuarbeiten. Bisher hatte ich damit noch keine große Erfahrung, aber das wollte ich dringend ändern.

Mit der spannenden Lektüre vergingen sowohl der anschließende Flug nach Hannover als auch die Zugfahrt in meine Heimatstadt super schnell, und dann sah ich am Bahnhof schon meinen Vater stehen, der mich abholte.

Ich atmete einmal tief durch, als ich auf ihn zuging. Ich schaffte das, ich war erwachsen und ich konnte mich einfach normal benehmen. Das war auch für meine Familie das Beste in dieser Situation.

Mein Vater schloss mich in seine Arme und wir blieben einen ganzen Moment so stehen. Normalerweise waren wir beide miteinander nicht so gefühlsduselig, aber nun hatten wir uns schon seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen.

Ich genoss es, meine Familie wieder zu sehen. Selbst meinen manchmal nervigen kleinen Bruder hatte ich vermisst, und er mich wohl auch. Jedenfalls war er plötzlich ganz gesprächig, was ich gar nicht von ihm kannte. Wir hatten uns aber auch viel zu erzählen.

Meine Eltern hatten mit dem Schmücken des Baumes extra auf mich gewartet, sodass wir das an diesem Abend gemeinsam erledigten. Ich liebte unseren matten, roten Schmuck und es war wirklich schön, diese Tradition gemeinsam mit meiner Familie ausleben zu können. In London hatten wir uns keinen Weihnachtsbaum in die WG gestellt, weil wir ja alle über Weihnachten sowieso nicht da waren.

Mein Bruder erzählte ganz begeistert von seiner Reise in die USA, und wen er dort mit Onkel Wilfried alles getroffen hatte. Er richtete mir unter anderem schöne Grüße von Demi aus und schwärmte von ihrem luxuriösen Haus.

„Wenn ich groß bin, will ich auch unbedingt so ein Haus haben", träumte er vor sich hin. Diese Träume wurden von meiner Mutter jedoch ganz schnell zunichte gemacht.

„Dann versuch erstmal, Millionär zu werden", sagte sie mit einem sarkastischen Unterton. „Und wer soll das überhaupt alles putzen?"

„Bei Demi Lovato geht das doch auch", zuckte mein Bruder unbekümmert mit den Schultern. Wie es im Leben wirklich abging, das würde er noch früh genug merken, dessen war ich mir sicher.

Heiligabend verbrachten wir nur im kleinen Kreis unserer Familie, aber in den nachfolgenden Feiertagen fielen die Verwandten bei uns ein. Die meisten davon hatte ich wirklich lange nicht gesehen, und vor allem Onkel Wilfried, der weder eine Frau noch Kinder hatte, begrüßte mich überschwänglich.

„Jetzt, wo du nicht mehr regelmäßig mit mir verreist, kann ich mir ja deinen jüngeren Bruder als Reisebegleiter heranziehen", neckte er mich ein bisschen. Ich fand es tatsächlich sehr schade, auf die größeren Reisen verzichten zu müssen, aber mit meinem Studium und der Arbeit war das gar nicht vereinbar. Abgesehen davon, dass ich mich in London immer noch überaus wohlfühlte und dort von meinen Freunden und Niall überhaupt nicht weg wollte.

An Niall dachte ich viel in diesen Tagen. Ich erwischte mich dabei, wie ich abends vor dem Schlafengehen immer sein Profilbild anstarrte und Herzklopfen bekam bei dem Gedanken, dass Lukas einen Keil zwischen uns getrieben hatte. Das war so unfair.

Tagsüber hatte ich glücklicherweise genügend Ablenkung. Mit Finja und ein paar anderen Leuten aus meiner alten Schule traf ich mich auf dem Weihnachtsmarkt und bekam ungläubige Gesichter zu sehen bei der Bemerkung, dass der sogenannte Weihnachtsmarkt in London nicht einmal halb so groß sei wie unserer.

Aber abends gingen meine Gedanken wieder zu Niall und drehten sich nur um ihn. Der Ire meldete sich kaum bei mir, außer einer kurzen Nachricht mit Weihnachtsglückwünschen hatte ich von ihm nichts bekommen, und auch nicht mehr als das zurückgeschrieben. Vermutlich vertrat er immer noch die Ansicht, dass er mich auf keinen Fall belästigen wollte.

Am Abend vor Silvester hielt ich es schließlich nicht mehr aus, und textete ihm, dass ich ihn vermisste. Zu mehr traute ich mich nicht, weil ich nicht wusste, wie er darauf reagieren würde.

Mit seiner Antwort hätte ich jedoch niemals gerechnet.


Spannung, Spannung, liebe Leute. Was schreibt Niall ihr wohl zurück? Ich freue mich auf eure Vermutungen.
Was haltet ihr von Aoifes Ratschlag, dass Lena ihren Eltern nichts erzählen sollte?
Wie findet ihr die aktuelle Dynamik zwischen Lena und Niall?
Wir lesen uns dann beim nächsten Kapitel!
Catrifa xx

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