32. Coping

Meine geplante Selbstbestimmtheit ließ sich in der kommenden Woche leider noch nicht umsetzen. Ich war zu sehr auf Nialls Hilfe angewiesen, vor allem was meine Verpflegung betraf.

Und Niall gab sich wirklich Mühe, mir das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Er hatte mich anfangs gefragt, ob ich lieber bei ihm im Bett oder im Gästezimmer schlafen wolle, außerdem las er mir jeden Essenswunsch von den Augen ab. Meine Krankschreibung schickte er sowohl zu Mr Brown als auch an die Uni, ich musste mir wirklich um nichts Gedanken machen.

Und das machte mich richtig fertig. Wie sollte ich selbstbestimmt leben, wenn er alles für mich übernahm? Ich wusste gar nicht, was ich den ganzen Tag lang machen sollte. Natürlich gab Niall sich Mühe, mich zu beschäftigen, aber das trug nicht richtig Früchte. Was mit Lukas passiert war, konnte ich einfach nicht vergessen.

Niall bemerkte allerdings ziemlich schnell, dass es mir trotz seiner Bemühungen nicht gut ging, und kümmerte sich deshalb um eine vom Arzt empfohlene Psychologin für mich. Auch mir war klar, dass ich das nicht alleine verarbeiten konnte. Ich musste mir professionelle Hilfe suchen.

Da ich immer noch Bettruhe verordnet hatte aufgrund meiner Gehirnerschütterung, organisierte Niall es irgendwie, dass die Psychologin zu ihm ins Haus kam. Ich war mir sicher, dass sie das nicht für jeden gemacht hätte, aber eigentlich war es mir auch egal.

Als die großgewachsene Psychologin ankam, verdünnisierte Niall sich sofort. Ich nahm an, dass er sich vermutlich auf der Dachterrasse um einige seiner Pflanzen kümmerte.

„Hi, du musst Lena sein. Ich bin Carly Lode, ich arbeite zusammen mit Menschen, die ein Trauma verarbeiten möchten", stellte sie sich mir vor. „Du kannst mich einfach Carly nennen, wenn du magst." Sie lächelte mich freundlich an, und dabei lächelten ihre Augen, die durch ihre Brille etwas vergrößert aussahen, mit.

„Hallo", begrüßte ich sie etwas kühl. Ich wollte zwar professionelle Hilfe, aber ich war mir noch nicht sicher, inwiefern mir das tatsächlich helfen sollte.

„Wenn du möchtest, kannst du mir ja einfach ein bisschen erzählen, wie es dir gerade geht. Und wenn du einen Moment brauchst, dann nimm dir die Zeit." Sie lächelte erneut und strich sich eine Strähne ihrer dünnen Haare hinter das Ohr.

Tatsächlich schwieg ich für eine ganze Weile. Ich wusste gar nicht richtig, was ich jetzt sagen sollte. Ich wollte nicht die ganze Geschichte noch einmal erzählen, wie ich das bei der Polizistin gemacht hatte. Das tat mir weh.

„Du sollst jetzt nicht alles erzählen, was dir passiert ist, sondern nur, wie du dich fühlst, oder was du gerade denkst. Das reicht schon." Es war ein bisschen gruselig, weil ich das Gefühl hatte, dass sie meine Gedanken lesen konnte. Wusste sie eigentlich, was mir passiert war?

Ich begann also langsam zu erzählen. Ich sagte nichts darüber, was geschehen war, stattdessen sprach ich nur über meine Gefühle. Dass ich mich wie ein Opfer fühlte, und das nicht sein wollte. Dass es mich nervte, alles vorgekaut zu bekommen, gerade nichts Eigenes machen zu können.

Alles, was ich von ihr zurückbekam, war ein neutrales Nicken und die ein oder andere Nachfrage zu meinen Gefühlen. Endlich darüber sprechen zu können, was genau in diesem Moment in mir vorging, gab mir die Ahnung von Freiheit. Ich konnte nicht umhin, als auch ein wenig über Niall zu sprechen. Wie er mich behandelte, fast wie ein rohes Ei. Natürlich konnte ich seine Gedanken irgendwie nachvollziehen, aber trotzdem nervte mich das. Ich hatte schließlich nur eine Gehirnerschütterung und war nicht ernsthaft krank.

Die Stunde in der Therapie ging nicht nur schnell vorbei, sie kam mir auch gar nicht vor, wie ich mir eine Therapiesitzung immer vorgestellt hatte. Es war irgendwie viel lockerer und entspannter, und diese Atmosphäre half mir, einige Mauern fallen zu lassen.

Als die Sitzung beendet war, kam Niall die Treppen wieder herunter zum Wohnzimmer. Er geleitete die Psychologin noch zur Haustür und kam anschließend zurück zu mir.

„Und, möchtest du mir davon erzählen?", fragte er vorsichtig nach.

„War ganz okay", antwortete ich kurz angebunden. „Ich glaube es ist gut, wenn ich das wieder mache."

„Das klingt doch schön", antwortete er. „Worauf hast du denn für den restlichen Tag Lust? Irgendetwas bestimmtes, auch was das Essen betrifft?"

„Ach, ich weiß nicht", zuckte ich mit den Schulten. „Irgendwie nicht so, du kannst dir was aussuchen." Meine Appetitlosigkeit nervte mich noch immer, mir wurde ziemlich schnell schlecht, sobald ich Essen auch nur ansah. Niall zuliebe aß ich trotzdem immer auf, aber schön war es nicht. Das merkte er natürlich auch, weshalb er versuchte, mir mit besonderen Gerichten den Tag zu versüßen.

„In Ordnung, dann denke ich mir etwas aus", versprach er. „Übrigens wollte Aoife morgen vorbeikommen, möchtest du das?"

Das bestätigte ich gern. Ich wollte schon seit den Geschehnissen am Freitagabend mit Aoife darüber sprechen und mich vor allem bei ihr bedanken, schließlich war sie meine Retterin.

Das Gespräch am nächsten Tag erwartete ich mit Spannung. Vorher würgte ich mir noch das Frühstück herunter, das Niall für mich zubereitet hatte. Egal wie viel Mühe er sich gab, es schmeckte mir momentan einfach gar nichts. So auch nicht seine Pancakes, die er mit dem schönen Gitarrenpfannenwender umdrehte.

Als Aoife sich dagegen zu uns gesellte, fanden Nialls Kochkünste mehr Anklang. Aoife hatte noch nicht gefrühstückt und freute sich deshalb sehr über die Mahlzeit.

„Ich gehe mal in mein Arbeitszimmer, dann könnt ihr in Ruhe sprechen", verabschiedete Niall sich nach dem Essen, bei dem wir nur wenige Worte gewechselt hatten. Dahin verzog er sich in dieser Woche öfter. Ich vermutete, dass er auch Schwierigkeiten mit der Situation hatte und versuchte, dies in der Musik zu verarbeiten. Für den Moment konnte mir das aber egal sein, denn erst einmal war es wichtig, dass ich mit Aoife sprach.

„Wie kommst du klar?", fragte sie, als wir uns auf dem Sofa niederließen. Dort verbrachte ich momentan den Großteil meiner Zeit.

„Noch nicht so gut", gab ich zu. „Ich kann das irgendwie noch nicht richtig begreifen."

„Ich weiß natürlich nicht genau, wie du dich fühlst, aber ich kann es mir ungefähr vorstellen. Soll ich dir erzählen, was passiert ist, als ich dich gefunden habe?" Ich nickte, denn ich erhoffte mir davon, einen neutraleren Überblick über die Geschehnisse zu bekommen. Aoife begann also zu erzählen. Sie berichtete mir davon, wie sie zuerst Lukas sah und in diesem Moment bereits die böse Vorahnung hatte, dass ich das Mädchen an der Wand sein könnte. Wie sie nur daran dachte, ihn dazu zu bringen, damit aufzuhören. Und wie geschockt sie war, als sie begriff, dass sie gerade noch rechtzeitig gekommen war. Aoife kam mir in diesem Moment so stark vor. Sie hatte Lukas verjagt, was glücklicherweise nicht weiter schwer gewesen war, und hatte dann sofort einen Krankenwagen gerufen, da sie nicht wusste, was mit mir los war. Wie erleichtert sie war, als sie meinen Puls spüren konnte, und wie sehr eine Last von ihr abfiel, als die Ärzte ihr sagten, dass ich okay sein würde. Wie sie mit Lilly und Niall darauf wartete, dass ich aufwachen würde. Ich beobachtete sie die ganze Zeit genau. Ihr Blick war etwas getrübt und ich konnte sehen, dass sie sich zusammenriss, nicht zu emotional zu werden. Dass wir gemeinsam weinten hätte mir gerade noch gefehlt.

Das alles aus ihrer Perspektive zu erfahren war erschreckend, aber auch irgendwie heilend. Ich fühlte mich Aoife so nah wie keiner anderen Freundin jemals und hatte den spontanen Drang, sie fest zu umarmen.

„Danke, dass du da warst", flüsterte ich. „Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn du nicht da gewesen wärst." Ich bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken. In diesem Moment in der Seitenstraße mit Lukas hatte ich wirklich geglaubt, dass jetzt alles vorbei sei. Und nur Aoife war es zu verdanken, dass ich körperlich beinahe unbeschädigt auf diesem Sofa sitzen konnte.

„Ich möchte mir das auch nicht vorstellen", gab sie leise zurück.

Für einen Moment schwiegen wir, und diese Stille tat mir gut. Sie gab mir Raum, um nachzudenken.

Auch wenn ich jetzt noch nicht bereit war, mit jemandem darüber zu reden, wie es mir ergangen war in dieser ausweglosen Situation, so hatte ich doch das Gefühl, dass sich das ändern könnte. Vielleicht mit der Psychotherapeutin, oder mit Aoife, die mit mir litt, anstatt mich zu bemitleiden.

Die Woche bei Niall ging letztendlich schneller herum, als ich gedacht hätte, und als er mich am Ende meiner Bettruhe mit dem Auto zu Lilly und Peter fuhr, war ich irgendwie froh, dass es vorbei war. Ich wollte nicht mehr bemuttert werden, ich wollte mich selbstständig versorgen. Und bei Lilly und Peter ging das eindeutig besser, als mit Niall, der versuchte, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Wie Niall auf meine abweisende Art reagierte, fand ich sehr beachtlich. Er war für mich da, ohne auch nur einmal zu meckern oder eine Gegenleistung zu erwarten. Das machte das Ganze für mich allerdings nicht unbedingt besser, denn das verstärkte mein Gefühl, von ihm eine Sonderbehandlung zu bekommen. Ich wollte mit ihm gleichgestellt sein, und nicht sein Projekt, um das er sich kümmern konnte.

In dieser Woche ging ich noch nicht zur Uni, dafür fühlte ich mich noch nicht bereit, aber dafür traf ich mich zwei Mal mit der Psychologin Carly in ihrer Praxis. Dorthin begleitete mich Peter, der in dieser Gegend einen Freund hatte und dies mit einem Besuch verband. Ich war ihm dafür sehr dankbar. Mit Peter konnte ich einfach schweigen, wir mussten beide nicht unbedingt immer etwas sagen und er löcherte mich auch nicht mit Fragen. Das war unglaublich angenehm.

Mit Carly kam ich auch weiterhin ganz gut klar. Sie drängte mich nicht dazu, über irgendetwas zu reden, ermunterte mich aber, meine Gefühle vor ihr auszubreiten. Ihre ruhige Art entspannte mich sehr und ich fühlte mich in den Sitzungen immer sicher.

„Ich möchte mich irgendwie selbstständig beschäftigen, aber ich weiß noch nicht so richtig, was ich machen kann", vertraute ich mich ihr in unserer zweiten Sitzung dieser Woche an.

„Vielleicht hilft es dir, einen Plan zu schreiben?", schlug sie vor. „Wir können ja hier direkt damit anfangen." Sie reichte mir Zettel und Stift, nachdem ich zustimmend genickt hatte.

„Was soll ich denn planen?" So richtig wusste ich dann doch nicht weiter, obwohl ich das an sich für eine gute Idee hielt.

„Alles Mögliche, das ist ganz dir überlassen", ermunterte sie mich. „Das kann dir einfach helfen, ein bisschen Struktur und Sicherheit in deinen Alltag zu bekommen. Du kannst damit anfangen, was du in den nächsten Tagen essen möchtest, ob und wann du dich mit jemandem triffst, und wie du deine freie Zeit gestaltest."

Das hielt ich tatsächlich für eine gute Idee. So konnte ich auch ganz sicher gehen, dass ich nicht alleine in London herumlaufen musste, und immer jemand bei mir war, wenn ich das Haus verließ.

Jetzt hatte ich auch immerhin etwas zu tun, was meinen Kopf beschäftigen würde. Dieses ständige Nachdenken und Sorgen machen konnte ja auch nicht gut sein. Ich musste irgendwie auf andere Gedanken kommen.

Was mich auch auf andere Gedanken brachte, war ein Anruf meiner Mutter am Abend, nachdem ich bei der Psychologin gewesen war.

„Na Lena, du hast dich ja schon ewig nicht mehr bei uns gemeldet. Ist alles okay bei dir dort drüben, wie läuft das Studieren?", sprudelte sie hervor, wie das ihre Art war.

Damit meine Eltern sich keine Sorgen machten, hatte ich von vornerein beschlossen, ihnen nichts von der Geschichte mit Lukas zu erzählen, und daran hielt ich mich auch jetzt. Es fiel mir schwer, nicht in Tränen auszubrechen und meiner Mutter alles zu erzählen, aber ich wusste, dass das jetzt nicht der Zeitpunkt dafür war. Ich hatte das selbst noch nicht genug verarbeitet, und sie würde womöglich noch auf die Idee kommen, mich nach Deutschland zurückzuholen. Das wollte ich tunlichst vermeiden.

„Alles okay", antwortete ich deshalb und bemühte mich, ein Lächeln aufzusetzen. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel gerade los ist mit der Uni und auch mit der Arbeit. Ich arbeite ja jetzt mit diesen beiden Frauen im Tonstudio und das ist das absolute Chaos. Ich habe auf jeden Fall genug zu tun."

„Dann bin ich ja beruhigt, dass du nur viel Stress hast und uns nicht einfach vergisst", kam es fröhlich zurück. „Pass aber auf dich auf, ja? Nicht, dass du dich noch kaputt arbeitest. Deine berufliche Ausbildung geht auf jeden Fall immer vor, das weißt du, oder?"

„Na klar, Mama, ich passe schon auf. Und hier habe ich ja inzwischen auch genug Freunde, die ein Auge auf mich werfen können, du brauchst dir keine Sorgen zu machen." Diesen letzten Teil sagte ich mit einem leichten Zittern in der Stimme, das meine Mutter aber nicht wahrzunehmen schien. Glück gehabt.

Sie erzählte noch ein wenig davon, was gerade in Deutschland abging. Onkel Wilfried hatte wohl meinen Bruder in den Herbstferien auf seine erste richtige große Reise in die USA mitgenommen und dieser schien jetzt auch ein wenig Reiseluft geschnuppert zu haben, denn er plante schon seinen nächsten Trip.

Dann legten wir auf, als Lilly mich zum Essen rief. Ihr Reis war ein bisschen verkocht, aber es schmeckte mir trotzdem gut. Zum Nachtisch gab es einen Schokoladen-Pudding, den ich am Vormittag zubereitet hatte. Schließlich plante ich jetzt, im Rahmen meiner Trauma-Bewältigung, deutlich mehr Aufgaben in unserem Haushalt zu übernehmen und der Pudding war nur der Beginn davon. Vielleicht konnte ich in nächster Zeit sogar meine Kochkünste noch weiter erforschen. Natürlich mit entsprechender Vorsicht. Man konnte schließlich nie wissen, was ich so in der Küche anstellte.


Hallo zusammen!
Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen und war ein bisschen Erholung von dem Drama zuvor.
Was haltet ihr von Lenas Psychologin?
Liebe Grüße und vergesst nicht, dem kleinen Sternchen ein wenig Farbe zu schenken.
Catrifa xx

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