30. Pursuit

Der Mann in dem Waggon war schon etwas älter, seine Haare waren angegraut und er sah allgemein verwahrlost aus. Was mir vor allem missfiel, war dass er torkelte und offensichtlich einen über den Durst getrunken hatte.

Sein Blick fiel sofort auf mich, und ich schaute mich etwas hektisch um. In dem Waggon saß sonst nur eine ältere Frau und las ein Buch. Was ich über Selbstverteidigung wusste war wirklich nicht viel, aber ich wusste, dass man Angst nicht zeigen durfte. Blöd nur, dass ich gerade echt Angst bekam.

Hoffentlich war es bis zur nächsten Station nicht zu weit und ich konnte schnell den Waggon wechseln.

Der Mann kam näher und grinste ein wenig schief. „Na, was machste Hübsche hier denn se, gans alleine?"

Ich beschloss, ihn einfach zu ignorieren und so zu tun, als wüsste ich nicht, dass er mich angesprochen hatte. So machte ich es generell mit solchen Leuten, die mich auf der Straße anquatschten. Alles andere hatte hier auch keinen Zweck. Aber diese Situation war nun anders, denn ich war in keinster Weise in der Position, mich zu wehren.

„Ach komm, ignorier mich doch nich, Kleine." Ich konnte ihn schon riechen, so gefährlich nah kam mir der fremde Mann. Er stank nach Alkohol und als hätte er sich wochenlang nicht gewaschen. Ich musste davon fast würgen.

In diesem Moment musste ich daran denken, dass Aoife mir gesagt hatte, ich solle nicht alleine rumlaufen, weil Lukas eine ernsthafte Gefahr darstellen könnte. Im Moment kam mir das so ironisch vor, weil offensichtlich nicht Lukas die Gefahr war.

Der Mann kam mir gerade noch näher, als die Bahn quietschend langsamer wurde und ich meine Chance witterte. Gleich konnte ich aus dem Abteil springen und in einen anderen Waggon einsteigen. Ich musste ihn nur überraschen, dann würde ich sicher an ihm vorbeikommen. Und vielleicht stieg ja auch noch jemand hier ein.

„Zier dich doch nichso, Püppchen." Der Mann atmete mir fast ins Gesicht, aber ich starrte konsequent auf den Boden. Normalerweise hatte ich kein Problem mit dieser Art von körperlicher Nähe, aber das hier wurde mir wirklich zu viel. Und wie er mich ansprach ging gar nicht, dazu hatte er kein Recht.

Als die Bahn zum Stehen kam, nahm ich meinen Mut zusammen und stand entschlossen auf. Der Mann war wohl tatsächlich ein wenig zu betrunken, denn er konnte so schnell nicht reagieren und ich schlüpfte an ihm vorbei aus der Bahn hinaus.

Dann war es zum Glück ein Leichtes für mich, in einen anderen Waggon einzusteigen. Erleichtert ließ ich mich dort auf einen der Sitzplätze nieder, nachdem ich gecheckt hatte, dass hier kein betrunkener, widerwärtiger Mann aufzufinden war.

Ich merkte, dass ich wirklich aufgewühlt war und leicht zitterte. Das konnte ich ja nun gar nicht gebrauchen, denn ich wollte auf keinen Fall, dass Niall sich Sorgen um mich machen musste. Das war schon viel zu oft passiert, und diesmal wollte ich mich selbst unter Kontrolle bekommen.

Ich redete mir ein, dass ja nichts passiert war, und dass so etwas in London eben vorkam. Das war der Preis dafür, in einer Weltstadt wie dieser zu leben. Dagegen war mein kleines Städtchen in Deutschland wirklich ein idyllisches Dorf. Vielleicht sollte ich aber in Erwägung ziehen, doch einen Selbstverteidigungskurs zu belegen, nur für den Fall der Fälle. Niall hatte da bestimmt Kontakte.

Mit ein paar bewussten Atemzügen versuchte ich, auch meinen Körper etwas zu beruhigen. Das gelang mir zumindest, solange ich die Gedanken an den fremden Mann aus meinem Kopf ausschloss. Das war vielleicht auch besser so, schließlich wollte ich dem nicht eine weitere Sekunde meines Lebens widmen. Er hatte ja überhaupt nichts getan.

Beim Umsteigen in die Northern Line hatte ich mich schon soweit beruhigt, dass ich mir sicher war, Niall gegenübertreten zu können, ohne dass er etwas merkte. Ich schickte ihm auch direkt eine Nachricht, dass ich gleich da sei. Während der Fahrt bis zur Endstation High Barnet, die ohne Zwischenfälle verlief, hatte ich sogar schon ziemlich mit der unangenehmen Situation abgeschlossen und war ein bisschen stolz auf mich, dass ich mich selbst so gut kontrollieren konnte. Das wäre vor einiger Zeit sicher nicht möglich gewesen, vor allem während des ganzen Dramas mit Lukas.

Niall gegenüberzutreten war dann auch ganz einfach. Ich schlüpfte zu ihm ins Auto und gab ihm lächelnd einen Kuss.

„Mh, du riechst so gut", bemerkte ich. „Hast du irgendwie Parfum benutzt oder so?"

Bildete ich mir das ein, oder wurde Niall gerade tatsächlich leicht rot? Das war ja sonst immer mein Part. Bei seiner Antwort musste ich etwas kichern.

„Naja, nur ein bisschen", murmelte er und startete den Motor. „Ich hoffe du hast ordentlich Hunger mitgebracht, das Essen ist wohl schon fertig, wir müssen es nur noch abholen."

„Perfekt, ich habe irre Hunger", freute ich mich. „Richtig ärgerlich, dass ich doch noch so lange arbeiten musste, ich wollte eigentlich schon viel früher hier sein."

„Da kann man nichts machen. Studium und Arbeit sind halt wichtiger als Freizeit, und wir sehen uns ja jetzt trotzdem", zuckte er mit den Schultern. Er bog in eine Seitenstraße ab und hielt vor einer Art Imbiss. „Kannst du kurz rausspringen und das Essen holen? Ich habe jetzt keine Lust, irgendwie von jemandem aufgehalten zu werden."

„Na klar", nickte ich und nahm mein Handy in die Hand, in dessen Hülle sich meine Kreditkarte befand.

„Ich lade dich natürlich ein", widersprach Niall sofort, der meine Absicht erkannte. „Hier, nimm meine Kreditkarte."

„Das kann ich doch nicht machen, Niall. Ich kann doch nicht mit deiner Karte bezahlen." Ich nahm seine Hand mit der Karte und legte sie bestimmt auf seinen Schoß. „Ich bezahle das einfach schnell, kein Problem."

„Natürlich kannst du mit meiner Karte zahlen, wo ist das Problem?", wunderte er sich und wollte mir die Karte erneut geben.

„Das fühlt sich so an, als wäre ich nur von dir und deinem Geld abhängig. Und das möchte ich nicht sein, ich verdiene ja schließlich selber etwas. Du lädst mich ständig ein, jetzt bin ich mal dran."

Damit musste er sich wohl oder übel zufriedengeben. Ich stieg also aus dem Auto und ging zu dem Imbiss, wo ich direkt die Frau an der Theke ansprach. Sie wuselte auch sofort herum und machte unsere Bestellung fertig.

Ich wertete es als hohen Vertrauensbeweis seinerseits, mir einfach so seine Kreditkarte zu geben, aber ich wollte ihn ja auch nicht alles bezahlen lassen. Schließlich liebte ... oh. Liebte ich Niall? In meinen Gedanken scheinbar schon. Aber wie war das eigentlich, wenn man es dachte, sollte man es dann auch direkt sagen? Oder lieber noch warten? Der Punkt war auf jeden Fall, dass ich nicht seines Geldes wegen mit ihm zusammen war.

„Das macht dann 25 Pfund." Die Verkäuferin holte mich aus den Gedanken und ich schluckte ein wenig. Das war ganz schön viel Geld, dafür arbeitete ich ungefähr dreieinhalb Stunden. Aber was sollte es, dafür konnte ich Niall vielleicht eine Freude machen.

Ich nickte und zückte meine Kreditkarte. Nachdem ich bezahlt hatte wünschte die Verkäuferin mir noch einen schönen Abend und ich kehrte mit unserem Abendessen zum Auto zurück.

„Dankeschön." In diesem Moment stellte ich fest, dass mir Nialls Lächeln und dieser ehrliche Dank alles Geld der Welt wert waren.

Das Wochenende mit Niall ging viel zu schnell vorbei und ich fühlte mich eigentlich nicht dazu bereit, am Montag sofort wieder mit dem Arbeiten und Studieren weiterzumachen. Allerdings hatte ich keine Wahl, und das Wochenende mit Niall hatte mir neue Kraft gegeben.

Das war auch gut so, denn Jean und Jane hatten am Wochenende ihre Demo-Aufnahmen mehr oder weniger erfolgreich vermarktet und waren sich nun umso sicherer, dass ihre musikalische Zukunft auch im Bereich des Singens lag. Das bedeutete nochmal mehr Arbeit für mich.

Zum Glück beschäftigte ich mich inzwischen rund um die Uhr mit Tontechnik und konnte deshalb auch in manchen praktischen Fächern im Studium glänzen. So hatte ich eine praktische Studienaufgabe mit einem Tonsatzprogramm fehlerlos gemeistert und fühlte mich dahingehend etwas selbstsicherer.

Die Woche flog nur vor sich hin. Niall bekam ich währenddessen kaum zu Gesicht, auch weil er einige Termine hatte, aber dafür konnte ich am Mittwoch mit Aoife ein gemeinsames Mittagessen einnehmen. Wir tauschten uns ein bisschen aus, sie erzählte von einem teuren Rennpferd, das sich verletzt hatte und nun vermutlich zum Schlachter gehen würde, und ich berichtete von dem gruseligen betrunkenen Mann in der U-Bahn am Freitag. Außerdem erzählte ich von dem Treffen im Pub in zwei Tagen. Als sie dahingehend ihre Bedenken äußerte, erzählte ich sofort, dass ich mich mit Olivia treffen würde und wir planten, zusammen dorthin und auch wieder wegzugehen. Das beruhigte sie etwas.

„Ich meine das ja auch nicht böse, wenn ich so etwas sage", erklärte sie mir. „Ich mache mir einfach nur Sorgen um dich, London kann ganz schön scheußlich sein, vor allem wenn man noch nicht allzu lange hier lebt."

„Das habe ich schon mitbekommen, und ich passe auf jeden Fall auf mich auf", versprach ich ihr.

„Das ist gut", nickte sie. „Ich meine selbst ich war hier schon in der ein oder anderen brenzligen Situation und war immer froh, dass ich mich hier auskenne. Nachts laufen hier einfach Irre durch die Straßen."

Da musste ich ihr uneingeschränkt zustimmen, auch wenn ich zum Glück noch nicht das volle Ausmaß davon erlebt hatte.

Schneller als gedacht kam der Freitag und ich freute mich schon sehr darauf, mich mit Olivia gemeinsam für den Abend fertig zu machen. Besonders gespannt war ich auch auf ihre Wohnung, die ich mir bisher noch nicht vorstellen konnte.

Nach der Vorlesung am Morgen machten wir uns also gemeinsam auf den Weg zu ihr. Wir hatten beschlossen, noch zusammen Mittag zu essen und uns anschließend anzuschauen, welches Outfit sie mir leihen konnte. Normalerweise war mir so etwas nicht sonderlich wichtig, aber jetzt mit einer neuen Clique, bei der ich ja auch angenommen werden wollte, war das etwas anderes. Vor allem mit der modebewussten Olivia neben mir fühlte ich mich sonst recht unscheinbar mit meinen Jeans und meinem Pullover.

Zum Mittag kauften wir beim nahegelegenen Supermarkt eine Packung Nudeln und Tomatensoße und machten uns auf den Weg zu Olivias Wohnung. Die Eingangstür war etwas in der Hausfassade versteckt und alleine hätte ich das vermutlich niemals gefunden. Aber so schloss Olivia ganz selbstverständlich die Tür auf und ließ mich eintreten.

„Es ist leider im sechsten Stock, wir müssen also ein bisschen raufgehen", entschuldigte sie sich. „Alles andere war nicht bezahlbar."

Schon nach dem zweiten Stock begann ich, schwerer zu atmen. Gut, dass ich nicht täglich in den sechsten Stock laufen musste.

Als wir schließlich oben ankamen, keuchte ich und hatte das Gefühl, der Schweiß würde mir an den Beinen runterlaufen.

„Wie machst du das jeden Tag?", fragte ich, immer noch außer Atem.

„Da spare ich mir das Fitnessstudio", lachte sie nur, und klang überhaupt nicht erschöpft. Vermutlich trainierte das tatsächlich die Ausdauer enorm.

Olivias Apartment war im Grunde ein einzelnes Zimmer mit einem Bad. Im Zimmer befanden sich sowohl ihr Bett, als auch ein riesiger Kleiderschrank und eine winzige Küchenzeile. Außerdem hatte sie zwei Papphocker an der Fensterbank stehen, vermutlich als Tischersatz, denn der hätte hier nicht mehr wirklich hingepasst. Nach dem gemeinsamen Kochen und Essen, nach welchem ich den Abwasch übernahm, wandten wir uns ihrem Kleiderschrank zu.

„Ich habe irgendwie einen Knall, was Klamotten angeht", beichtete sie mir mit einem Grinsen. „Ich sammel die einfach, und manchmal kommen sie einfach zu mir, ohne dass ich mir tatsächlich neue kaufe. Dadurch brauche ich auch so einen großen Schrank."

Sie hatte wirklich eine ganze Menge Klamotten, die aber alle nicht so ganz mein Stil waren. Ich wollte schließlich auch nicht wie eine Barbie wirken, die einfach irgendwelche Klamotten angezogen bekam, weil diese gerade chic waren.

Erst als sie ein einfarbiges Top mit einem lässigen, aber sehr schicken Cardigan herauskramte, war ich begeistert. Das würde zwar etwas kalt werden, aber davon wollte ich mich nicht irritieren lassen. Das sah nämlich echt super aus.

„Und du möchtest die Kleidung echt erst nach dem Wochenende zurückhaben?", fragte ich noch einmal nach.

„Klar, ich brauche das gerade eh nicht, du kannst es in Ruhe waschen und mir dann zurückgeben", erwiderte Olivia. „Wir sehen uns dann ja eh in der Uni."

Das stimmte, also gab ich mich damit zufrieden. „Danke dir, dann gebe ich dir heute Abend einen aus", versprach ich.

Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu einem feuchtfröhlichen Abend. Im Pub lief fast durchgehend gute Musik und wir unterhielten uns super. Einige Kommilitonen erzählten, dass sie wie ich bereits in Tonstudios gejobbt hatten, andere hatten schon Praktika in Konzerthäusern absolviert. Fest stand, dass wir alle eine Leidenschaft teilten, denn Tontechnik studierte man nicht eben mal so. Dadurch kam das Gespräch zu keinem Halt und wir bestellten immer weiter Getränke. Nachdem ich bereits drei Bier getrunken hatte, beschloss ich, in der nächsten Runde auf Cola umzusteigen, sonst würde das kein gutes Ende nehmen. Da ich nicht viel Alkohol trank, vertrug ich nicht besonders viel und konnte auch meine eigene Grenze nicht so gut einschätzen. Deshalb wollte ich lieber auf Nummer sicher gehen.

Dass das eine gute Entscheidung war, stellte sich später auf dem Heimweg heraus, denn selbst da war mir noch ein bisschen schwindelig, obwohl ich noch zwei Gläser Cola getrunken hatte. Ich ging mit Olivia zusammen, die auch ein kleines bisschen angeheitert war, und wir lachten gerade lautstark, als ich hinter mir jemanden fluchen hörte. Das war bestimmt noch jemand vom Pub, der auch nicht mehr ganz gerade laufen konnte.

An der nächsten Ecke trennten Olivia und ich uns voneinander, denn zur ihrer Wohnung ging es nach rechts und zu Lilly und Peter musste ich noch zwei Straßen nach links.

Wir umarmten uns zum Abschied und versicherten uns gegenseitig, dass wir das auf jeden Fall wiederholen müssten. Dann ging ich nach links in die Seitenstraße hinein. Zu dieser Uhrzeit war nichts mehr los. Eigentlich wusste ich sogar nicht einmal, wie spät es genau war. Es war auf jeden Fall schon etwas kühler, und ich zog den Cardigan enger um meine Schultern. Er roch ein bisschen fremd, aber das störte mich in diesem Moment nicht.

Was mich störte, waren die Schritte, die ich hinter mir hörte. Ohne mir ganz sicher zu sein, weshalb ich das tat, wurde ich ein bisschen schneller. Bis zur Wohnung war es nicht mehr weit, ich musste nur an der Straßenlaterne vorn um die Ecke biegen und wäre dann da.

Aber die Schritte hinter mir machten mir einen Strich durch die Rechnung. Mein Herz klopfte immer schneller, als ich merkte, wie jemand hinter mir deutlich näher kam. Kurz überlegte ich, mich umzudrehen, beschloss dann aber, dass das sicherlich keine gute Idee wäre. Diese Überlegung brachte mich für einen Moment aus dem Konzept und ich stolperte über meine eigenen Füße. Oder hatte dort etwas gelegen? Alles, was ich in diesem Moment wusste, war dass die Person hinter mir aufholte und mich an meinen Handgelenken packte. Und das nicht gerade sanft.

„Aua!", brachte ich heraus, was in diesem Moment nicht besonders geistreich war. Der Mann hinter mir wirbelte mich herum und presste seine Hand auf meinen Mund.

„Wehe, du schreist", drohte er mir, und ich sah angsterfüllt in Lukas Augen. Siedend heiß fiel mir in diesem Moment ein, dass ich Lilly nicht gesagt hatte, wo ich an diesem Abend sei und wann ich nach Hause kommen würde. Niemand wusste, wo ich war.

Ich war ganz allein in einer Seitenstraße mit meinem Ex-Freund und Stalker, dessen Blicke mich jetzt schon auszogen. Lukas wollte Rache.


Ich habe so lange auf diesen Moment hingearbeitet und freue mich schon sehr auf eure Reaktionen! Bitte lasst mir doch einen Kommentar mit euren Gedanken zu diesem Kapitel da.
Bis zum nächsten Kapitel und liebe Grüße
Catrifa xx

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