29. Reality
Irritiert drehte ich mich zu Lilly um, ob sie das gewesen war, aber sie hatte gerade beide Hände voll mit der Einkaufstasche und den Äpfeln. Als ich mich weiter drehte, konnte ich niemanden sehen. Was war das denn für ein schlechter Scherz gewesen? Normalerweise hätte ich sofort ein „Excuse me!" vernommen, aber das war nicht geschehen. In meiner Magengegend grummelte es ein wenig. Das war wirklich merkwürdig.
Ich war froh, als wir mit dem Einscannen und Bezahlen fertig waren und den Supermarkt verlassen konnten. Ich schaute mich immer wieder um, sah aber kein bekanntes Gesicht. Und eigentlich wusste ich, wonach ich suchte: Lukas. Ich hatte gehofft, dass er mich in Ruhe lassen würde, aber das war vielleicht nur Wunschdenken von mir. Die Realität war, dass ich jeden Moment damit rechnen musste, dass er mir Nachrichten schickte oder mich vielleicht sogar beobachtete. London war eine große Stadt, da konnte man schon einmal untertauchen und um ehrlich zu sein, traute ich das Lukas zu. Als er damals von mir abgewiesen worden war, hatte er das scheinbar überhaupt nicht gut verkraftet und schien irgendwie daran zu glauben, dass ich ihn vielleicht doch wollte. Das war einfach nur total irre.
Ich war froh, als ich mich abends beim gemeinsamen Kochen mit Lilly ablenken konnte. Zwischendurch textete ich immer wieder mit Niall, traute mich aber nicht, einem von den beiden zu erzählen, was ich im Supermarkt gespürt hatte. Schließlich konnte es auch sein, dass ich mir das nur einbildete oder jemand mich im Trubel dort versehentlich angerempelt hatte und einfach nur keine Manieren besaß.
Abends telefonierte ich mit Aoife und brachte es dann tatsächlich übers Herz, ihr von dem Zwischenfall im Supermarkt zu erzählen. Sie wusste schließlich schon von Lukas und seinen Mails, und irgendwie vertraute ich ihr in diesem Moment. Ich wusste, dass sie mich deshalb nicht auslachen, sondern ernstnehmen würde.
„Oh Lena, du musst wirklich vorsichtig sein." Sie klang ganz besorgt. „Wenn das wirklich dieser Lukas ist, dann ist mit dem Kerl nicht zu spaßen."
„Glaubst du das denn? Ich bin mir da irgendwie so unsicher, es kann ja auch wirklich einfach nur irgendjemand gewesen sein. Jetzt im Nachhinein klingt es fast so, als hätte ich mir das eingebildet", erwiderte ich.
„Das glaube ich auf keinen Fall", widersprach sie mir. „Sowas bildet man sich ja nicht ein. Und wenn dich jemand angerempelt hätte oder so, hätte sich das doch bestimmt anders angefühlt. Ich denke, du solltest aufpassen, dass du nicht alleine irgendwo herumläufst. Mit Stalkern ist nicht zu spaßen."
„Aber er hat mir doch auch gar keine Nachrichten mehr geschrieben", meinte ich. „Heißt das nicht, dass er vielleicht das Interesse verloren hat?"
„Ich will dir keine Angst machen, aber vielleicht ist das nur die Ruhe vor dem Sturm. Pass auf jeden Fall auf dich auf", mahnte sie mich. Wir verabredeten uns noch für die kommende Woche zum Mittagessen, dann legten wir auf, weil sie am nächsten Morgen früh in den Rennstall musste.
Da ich auch langsam müde wurde und am Freitag direkt um 8 Uhr eine Vorlesung hatte, machte ich mich bettfertig und wünschte Lilly und Peter eine gute Nacht.
Der Freitag verlief ziemlich ruhig, in der Vorlesung saß ich wieder neben Olivia und wir unterhielten uns über den Besuch des Pubs am Freitag.
„Was ziehst du denn an?", wollte ich von ihr wissen.
„Ach, ich habe so einen bunten Einteiler, der passt glaube ich ganz gut. Kann ja abends schon recht kühl werden inzwischen", antwortete sie mir. „Und natürlich mit einem passenden Mantel." Auch heute war sie wieder sehr modisch gekleidet, ihr hellblauer Pulli mit der Knopfleiste passte erstaunlich gut zu den grauen Haaren und dem schwarzen Skaterrock.
„Ich glaube ich muss mir noch irgendetwas überlegen, irgendwie habe ich nur funktionale Klamotten", seufzte ich.
„Ich kann dir auch was leihen", bot sie mir an. „Du könntest ja vorher zu mir kommen und dann machen wir uns gemeinsam fertig. Das wird bestimmt lustig."
Dieses Angebot nahm ich gern an, vor allem da ich Olivia sehr sympathisch fand. Wir stellten fest, dass auch sie gar nicht weit vom Pub entfernt wohnte, als sie mir ihre Adresse gab.
„Dann passt das ja", freute ich mich.
Nach der Vorlesung nutzte ich noch die Örtlichkeiten des Colleges, um meine Aufgaben für die nächste Woche anzufangen und mir ein Skript auszudrucken.
Anschließend textete ich Niall, dass ich noch kurz beim Tonstudio vorbeischauen wollte und mich dann zu ihm auf den Weg machen würde.
Dann stieg ich in die U-Bahn, die heute mal wieder sehr voll war und sich nur langsam leerte. Ich war ein bisschen unruhig, weil es mir unangenehm war, Mr Brown auf meinen fehlenden Lohn anzusprechen, aber da führte kein Weg dran vorbei. Ich wollte ja schließlich für meine Arbeit entsprechend pünktlich bezahlt werden und darum musste ich mich kümmern. So sah die Realität aus.
Ich war so fokussiert darauf, was ich gleich sagen wollte, dass ich fast meine Station verpasste und noch in letzter Sekunde aus der Bahn springen konnte, bevor sich die Türen wieder schlossen.
Ich schulterte meine Tasche, die mir fast aus der Hand gerutscht wäre, und machte mich schnellen Schrittes auf in Richtung Bürogebäude.
Mr Brown begrüßte mich dort freundlich, ich hatte ihm vorher bereits angekündigt, dass ich vorbeikommen würde. Und jetzt hatte ich nicht nur ein Hühnchen mit ihm zu rupfen, sondern gleich zwei. Seine Verspätung hatte ich nämlich nicht vergessen, und da konnte er noch so nett lächeln, das nahm ich ihm wirklich übel. Mein Studium hatte oberste Priorität, und das musste ich auch einfordern.
„Miss Smith, ich wollte mich direkt bei Ihnen entschuldigen", begann er jedoch das Gespräch, bevor ich das tun konnte. „Ich hätte nicht zu spät kommen sollen, es gab noch einen wichtigen Notfall mit einem meiner beiden Mitarbeiter. Ich hoffe Sie hatten dadurch nicht zu große Unannehmlichkeiten und ich verspreche Ihnen, dass das nicht noch einmal vorkommen wird. Ich weiß ja, dass das Studium für Sie an erster Stelle steht und dafür unterstütze ich Sie schließlich auch mit dem Stipendium."
Damit nahm er mir voll den Wind aus den Segeln, was er vermutlich auch wusste. Im Grunde hatte er alles gesagt, was ich auch sagen wollte. Womit er aber scheinbar nicht rechnete, war dass ich ihn auf meinen Lohn ansprechen wollte.
„Danke, ich bin froh, dass Sie das sagen", erwiderte ich also zunächst lediglich. „Es ist gut, dass das jetzt geklärt ist, ich wollte aber noch eine andere Sache ansprechen."
„Natürlich, was liegt Ihnen auf dem Herzen?", fragte er verständnisvoll. „Sie sollen sich ja hier wohlfühlen, nur heraus damit."
„Ich wollte mal fragen, wie Sie das mit der Lohnzahlung handhaben, da ich bisher noch nichts auf mein Konto überwiesen bekommen habe", brachte ich heraus. „Wann kann ich denn normalerweise damit rechnen? Ich muss ja auch meine Miete bezahlen." Tatsächlich hatte ich mit dem Geld nicht allzu viel Spielraum und war schon darauf angewiesen, regelmäßig etwas zu erhalten. Dafür arbeitete ich schließlich auch.
„Oh, na das tut mir wirklich leid, das muss irgendwie auf meinem Schreibtisch untergegangen sein. Ich könnte schwören, dass ich das letzte Woche überwiesen habe." Er kratzte sich am Kinn. „Wissen Sie was, ich werde das jetzt gleich erledigen. Gar kein Problem. Sagen Sie gern Bescheid, falls so etwas nochmal vorkommen sollte, ich mache das nicht absichtlich. Diese ganze Bürokratie ..." Er schüttelte seinen Kopf.
Da ich sowieso mit Bürokratie nicht so richtig viel anfangen konnte, und das auch eher anstrengend fand, konnte ich seine Sichtweise dazu durchaus nachvollziehen. In einem Stapel voller Akten konnte so etwas schon mal untergehen, und ich sah regelmäßig die riesigen Ordner auf seinem Schreibtisch.
„Na wenn Sie das gleich machen, ist das ja kein Problem. Dankeschön auf jeden Fall. Das ist dann eigentlich auch schon alles gewesen." Das ging ja leichter als gedacht, atmete ich erleichtert auf.
„Oh, wenn Sie schon hier sind: Könnten Sie vielleicht noch ein paar der Aufnahmen von Jean und Jane mastern? Ich befürchte das schaffe ich heute nicht mehr, aber sie wollten unbedingt eine oder zwei Demos haben bis morgen."
Ich seufzte innerlich ein wenig. So hatte ich mir das wirklich nicht vorgestellt, schließlich wollte ich eigentlich den restlichen Tag mit Niall verbringen. Da er aber so nett gefragt hatte, und wir auch unsere Differenzen recht leicht ausgebügelt hatten, nickte ich zustimmend. „Klar, zwei Aufnahmen schaffe ich wohl noch. Geht es nur um das Mastering oder soll ich noch etwas anderes machen?"
Hätte ich mal lieber nicht gefragt, denn Mr Brown kam sofort auf die Idee, dass ich ja zuvor die Drums noch besser einstellen könnte, und auch bei den Gesangsaufnahmen sollte ich nochmal die Tonhöhen checken und möglicherweise angleichen.
Da ich aber für mehr Arbeit und mehr Zeit auch mehr bezahlt wurde, akzeptierte ich seine Anweisungen und ging ins Tonstudio, das gleich eine Tür weiter lag. Während der Computer hochfuhr, tippte ich eine Nachricht an Niall, dass ich doch erst später zu ihm fahren könne. Zurück kamen ein trauriger Emoji und ein „Halte durch, ich freue mich auf dich!", was mich direkt fröhlicher stimmte. Je schneller ich hier fertig war, desto schneller würde ich bei Niall sein, und das konnte ich kaum erwarten.
Da ich bei der Bearbeitung der Aufnahmen Einiges zu tun hatte, merkte ich gar nicht, wie die Zeit verging und war ganz überrascht, als meine Uhr plötzlich 8 Uhr am Abend anzeigte. Das war wirklich schon richtig spät. Die letzten Bearbeitungsschritte machte das Programm glücklicherweise von selbst, sodass ich schon meine Arbeitsstunden in das Heftchen eintragen konnte und meine Jacke vom Stuhl nahm. Bald war ich hoffentlich bei Niall und konnte den Abend in Ruhe mit ihm ausklingen lassen. Vielleicht würden wir sogar ein bisschen rummachen. Bei dem Gedanken daran kribbelte es schon wieder in meinem Bauch. Das war wirklich aufregend.
Das Programm war soweit fertig und ich speicherte die bearbeiteten Aufnahmen ab, um sie dann auf einen Stick zu ziehen. Diesen entfernte ich ordnungsgemäß vom Computer und nahm meine Tasche mit zum Büro. Nachdem ich sowohl mein Heft als auch den Stick mit den Aufnahmen auf Mr Browns Schreibtisch abgelegt hatte, zog ich meine Jacke über, schulterte meine Tasche und verließ das Gebäude.
Es war inzwischen empfindlich kühl draußen und ich ärgerte mich, keinen Schal eingepackt zu haben. Woher hätte ich aber auch wissen sollen, dass es so spät werden würde.
Die Straßenlaternen waren schon angegangen und ein bisschen gruselig war es schon, zu sehen wie sie ihre Schatten warfen.
Eiligen Schrittes ging ich in Richtung U-Bahn-Station und wählte dabei Nialls Nummer.
„Hi du", begrüßte er mich mit liebevollem Ton.
„Hey." Nur seine Stimme brachte mich schon unweigerlich zum Lächeln. „Ich bin jetzt endlich fertig und auf dem Weg zu dir, das wollte ich dir nur sagen."
„Klasse, ich freue mich schon auf dich", kam es zurück. „Soll ich dich in High Barnet abholen? So spät möchte ich dich nicht mehr mit dem Bus fahren lassen. Die U-Bahn ist schon schlimm genug."
„Ja, das wäre super", bedankte ich mich. „Mir ist da auch nicht ganz wohl bei. Ich schreibe dir auf jeden Fall, wenn ich in die Northern Line umsteige, dann kannst du losfahren."
„Das machen wir so. Du hast bestimmt Hunger, soll ich etwas bestellen? Vielleicht Thailändisch? Das können wir dann direkt mitnehmen, wenn ich dich abhole."
„Coole Idee, lass uns das machen. Was gibt es denn da so?", erkundigte ich mich.
„Ach lass dich überraschen, ich finde schon was Leckeres für uns, was dir auch schmeckt." Er schien ziemlich selbstsicher.
„Glaubst du das, ja?", neckte ich ihn. „Ich erinnere mich noch dunkel an Zeiten, als du das noch nicht so sicher wusstest."
„Na klar, verlass dich auf mich", versicherte er mir. Damit konnte ich mich zufriedengeben, denn ich verließ mich wirklich auf Niall und ich vertraute ihm. Auch wenn es gerade nur um das Essen ging, glaubte ich zu fühlen, wie mein Herz ganz warm wurde.
„Das tue ich, Niall. Ich verlasse mich auf dich", antwortete ich leise. In diesem Moment fühlte es sich fast so an, als hätte ich „Ich liebe dich" gesagt. Aber das tat ich nicht. Ich wusste ja auch gar nicht, ob ich schon bereit dazu war. Die Realität war so viel brutaler als unsere kleine rosarote Blase. Ich wollte zu gerne noch ein bisschen in dieser verweilen, zumindest was Niall betraf.
Da ich gerade in die U-Bahn-Station ging, legten wir auf. Erfahrungsgemäß war dort nicht gerade viel Handyempfang, und ich würde Niall ja auch gleich sehen.
Ich stieg in die U-Bahn, und als die Türen sich schlossen, zuckte ich vor Schreck zusammen. Ich war fast allein in dem Waggon und der Mann, den ich sah, sah nicht so aus, als wolle er nur ein bisschen quatschen. Das war die Realität und ich musste mich ihr stellen.
Was haltet ihr von den Geschehnissen in diesem Kapitel? Wie findet ihr Mr Brown? Und was passiert wohl in dem U-Bahn-Waggon? Habt ihr Vermutungen, wer der Mann sein könnte?
Ich freue mich schon auf eure Kommentare, und die und eure Votes motivieren mich natürlich auch dazu, schneller weiterzuschreiben.
Liebe Grüße und bis zum nächsten Kapitel
Catrifa xx
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