21. Stalking experience

„Ich ...", setzte ich an, bekam aber nicht mehr heraus. Würde ich nicht immer noch im Bett sein, wäre ich sicher umgefallen, aber so rutschte mir nur das Handy aus den Händen.

Beruhigend streichelte Niall mir über den Kopf. „Na, komm her." Er schloss mich in eine Umarmung und strich mir immer wieder über den Rücken. Ich lehnte mich dankbar an ihn.

Wir blieben eine ganze Weile lang so, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

„Was ist passiert?", wollte er wissen, als ich mich vorsichtig aus der Umarmung löste. Wortlos bückte ich mich nach meinem Handy, das ich Niall reichte. Er konnte zwar kein Deutsch, aber die Bedeutung der Fotos würde er wahrscheinlich gut verstehen können. So, wie ich sie jetzt noch nicht verstehen wollte und konnte.

Konzentriert warf Niall einen Blick auf die Mails und sah mich immer wieder an, wenn ich eine Nachricht weiterklickte.

„Seit wann ist das?", fragte er leise.

„Die Mails bekomme ich seit Weihnachten", antwortete ich und er atmete zischend aus. „Aber ich habe sie schon so lange nicht mehr gelesen und einfach ignoriert. Gestern früh habe ich das erste Foto gesehen", gab ich zu.

„Also ist deine Oma ...?"

„... nicht krank", beendete ich seinen Satz und war jetzt viel zu aufgewühlt, um mich für meine Lüge erneut zu schämen. „Ich wollte eigentlich nicht, dass du es weißt, aber da war nur ein Foto. Und jetzt, jetzt sind es so viele!"

„Du musst jetzt erstmal ruhig bleiben", riet er mir und sah mich dabei vollkommen ernsthaft an.

„Das ist leicht gesagt." Ich knetete unruhig meine Hände.

„Ich weiß. Du sprichst hier schließlich mit dem Experten für Stalking Erfahrungen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie du dich gerade fühlst, aber wir beide bekommen das hin, in Ordnung?" Erneut nahm er mich in den Arm. Dass er das aussprach, was es offensichtlich war, machte mir eigentlich noch mehr Angst. War es wirklich Stalking, was Lukas machte? Aber Niall hatte Recht, er kannte sich aus. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er bereits mit mehreren Stalkern zu tun gehabt hatte und vertraute ihm.

„Okay", sagte ich deshalb. Wir würden das schon irgendwie schaukeln, Niall hatte Recht.

„Dann stehen wir jetzt erstmal auf und essen etwas", bestimmte er und zog mich aus dem Bett. „Auf so einen Schock hilft Essen Wunder, glaub mir." Er nahm meine Hand und wir gingen zusammen in die Küche. Dort kramte er zunächst in einigen Küchenschränken. Schließlich hielt er eine Tafel Schokolade in der Hand und brach ein Stück davon ab. Etwas verwundert sah ich ihn an.

„Schokolade zum Frühstück? Ist das dein Ernst?"

„Nein, das ist sozusagen deine Mahlzeit vor dem Frühstück. Na los, nimm schon, die ist nicht giftig." Zum Beweis dafür brach er sich selbst ein Stück von der Tafel ab und steckte es sich in den Mund. „Das hilft im ersten Moment, du wirst dich gleich besser fühlen."

Zögerlich nahm ich ihm das Stück ab und begann, es langsam zu essen.

„Du brauchst im Übrigen auch keine Angst haben, dass du zu dick wirst", sagte er mit einem Grinsen auf den Lippen. Ohne ein weiteres Wort aß ich das Stück komplett auf, musste mich aber trotzdem innerlich freuen. Niall hatte in jeder Situation einen passenden witzigen Spruch auf den Lippen und zog mich nicht noch weiter runter. Er war furchtbar aufmunternd.

Auch als er das Frühstück vorbereitete pfiff er scheinbar fröhlich etwas vor sich hin. Dass er ganz und gar nicht fröhlich war, wurde mir bewusst, weil er ständig einen besorgten Blick zu mir warf, wenn er dachte ich sehe es nicht. Um mich ein bisschen zu beschäftigen, machte ich Tee und räumte die Spülmaschine aus, was wir am vorherigen Tag noch nicht gemacht hatten.

Beim Essen schließlich schwiegen wir uns eine ganze Zeit lang an und ich hörte nur das Ticken der Uhr mir gegenüber an der Wand und unsere Kaugeräusche sowie das Klappern des Bestecks.

„In den Texten, die Lukas dir geschrieben hat", begann Niall eine Konversation, „hat er dich da bedroht? Was stand da drin?"

„Er hat mir nicht gedroht", antwortete ich. „Er schreibt mir nur Small-Talk, fragt mich irgendwelche Sachen und sagt, dass er mich vermisse." Das schien gut zu sein, denn Niall nickte.

„In Ordnung, das ist erstmal ein verhältnismäßig gutes Zeichen. Hast du ihm schon mal geantwortet?", wollte er dann wissen.

„Nein, das habe ich nicht, bisher habe ich es einfach immer ignoriert." Ich fühlte mich wirklich sicher bei Niall und lächelte ihn leicht an. Er schien genau zu wissen, welche Fragen er stellen wollte und was er zu tun hatte. Wahrscheinlich lag das daran, dass es ihm schon viel zu oft passiert war. Daran wollte ich gar nicht denken.

„Das ist sehr gut", ermutigte er mich. „Wenn du darauf gar nicht reagierst können wir hoffen, dass er irgendwann die Motivation verliert und aufhört, weil du ihm gar keine Hoffnung gibst. Vielleicht kannst du dir auch einfach eine neue E-Mail Adresse zulegen und das damit begründen, dass du jetzt in London lebst. Dann wundert sich auch keiner. Besonders deine Familie würde sich bestimmt Sorgen machen, wenn sie wüssten, dass du solche Mails bekommst."

Da hatte er auf jeden Fall Recht. Meine Mutter würde Amok laufen, wenn sie wüsste, dass Lukas mich mit einer Kamera zu verfolgen schien und mir die Fotos zukommen ließ.

„Das ist ein guter Tipp", sagte ich.

„Ich denke, dass wir uns erstmal nicht weiter darum kümmern müssen", fügte Niall dann noch hinzu. „Du solltest mir aber auf jeden Fall Bescheid sagen, sobald du weitere E-Mails von ihm bekommst. Damit ist nicht zu spaßen, auch wenn es gerade noch ziemlich harmlos aussieht. Alleine dass er sich die Zeit nimmt, Fotos von dir zu schießen, zeigt, dass er es ernst zu meinen scheint."

„Ich erzähle es dir auf jeden Fall, wenn er sich wieder meldet", versprach ich ihm und fühlte mich erleichtert. Wir würden das gemeinsam in den Griff bekommen, dessen war ich mir dank Nialls seelischer Unterstützung sicher.

Da heute Sonntag war, hatte ich keine Chance, mit der Firma in Kontakt zu treten, die mir das Studium bezahlte, und sie erneut nach dem Job zu fragen, von dem wir beim letzten Treffen geredet hatten. Natürlich konnte ich am heutigen Tag dadurch auch bei keiner anderen Firma anfragen, ob sie mich beschäftigen würden.

Stattdessen verbrachte ich den Sonntag noch mit Niall auf seinem Sofa, da es heute leicht regnete und wir nicht rausgehen wollten, wo wir uns kuschelnd einen Film nach dem anderen ansahen. Es war so angenehm, Nialls Nähe genießen zu können und ich wollte am liebsten gar nicht mehr zurück in die Wohnung, wo mich ein einsames Bett erwartete.

Allerdings ließ sich meine Rückkehr nicht vermeiden, allein schon weil Lilly irgendwann anrief und sich besorgt erkundigte, ob ich jetzt schon bei Niall eingezogen sei oder noch zurückkehren würde.

Er ließ es sich allerdings nicht nehmen, mich nach Hause zu fahren und mir nochmals einzutrichtern, dass ich mich unbedingt bei ihm melden sollte, würde Lukas die nächste Mail schreiben.

Mit einem Kuss auf die Lippen verabschiedeten wir uns voneinander und ich huschte mit meiner geschulterten Tasche in den trockenen Hausflur. Nachdem ich die Treppen hochgestiegen war erwartete Lilly mich bereits an der Wohnungstür, sie hatte Nialls Wagen wohl aus dem Fenster gesehen.

„Und wie war's?", fragte sie neugierig, bevor ich überhaupt meine Schuhe ausgezogen hatte.

„Ziemlich entspannt", antwortete ich und überging dabei die Tatsache mit Lukas Mails. Ansonsten hatten wir ja wirklich fast nur gefaulenzt.

Trotz der Tatsache, dass mein achtzehnter Geburtstag anstand, hatte ich keine Feier geplant und auch allen anderen eingetrichtert, dass ich keine Überraschungsparty wollte. Schon kurz danach, nämlich Anfang Oktober, begann mein Studium und auf dieses wollte ich mich angemessen vorbereiten. Auf eine Party hatte ich eigentlich sowieso keine Lust, vor allem nicht, weil meine Gedanken ganz woanders waren, und zwar bei Lukas. Ich bekam tagelang keine E-Mail von ihm, was mich stark verwunderte. Trotz dessen warf ich ständig einen Blick auf mein Handy, um bloß keine Nachricht zu verpassen.

Ich befand mich gerade auf dem Weg zu der Firma, die mir das Stipendium offerierte, und blickte mich immer wieder in dem Wagon der Tube um, obwohl es gerade wirklich verhältnismäßig leer war. Rechts von mir saß eine junge Mutter mit einem Säugling im Tragetuch und las ein Buch, dessen Titel ich nicht sehen konnte. Schräg gegenüber stand ein älterer Herr im Anzug mit einer Aktentasche. Der wollte bestimmt in dasselbe Viertel wie ich, denn dort waren viele Firmen ansässig. Er trug einen angegrauten Schnurrbart und seine Haare waren ziemlich kurz geschnitten. Wie viele Businessleute hier in London, hatte er das ständige Bedürfnis, auf seine Uhr zu schauen, obwohl die Tube nicht einmal Verspätung hatte und genau nach dem angegebenen Fahrplan fuhr. In einem der etwas außerhalb liegenden Wohnviertel stieg die Mutter mit ihrem Kind aus und ich betrachtete die Menschen, die jetzt einstiegen, ganz genau. Zum Glück war keiner unter ihnen dabei, der Lukas auch nur im Entferntesten ähnlich sah.

Drei Stationen weiter erhob ich mich, um auszusteigen, und tatsächlich folgte der ältere Mann mir auf den Bahnsteig und die Treppen hoch. Ich hatte es zum Glück nicht weit zu gehen, legte aber einen Schritt zu, weil ich mit einem Blick auf die Handyuhr feststellte, dass die Tube doch zwei Minuten Verspätung gehabt hatte. Damit verlor ich auch den Mann hinter mir aus den Augen. Ich bog nach rechts in eine Seitenstraße ein und ging zwischen den Bürogebäuden und Firmenhäusern hindurch, bis ich vor der in die Jahre gekommenen Tür stand.

Ich drückte auf die Klingel mit der Aufschrift Brown Music Productions und sogleich ertönte das mir bekannte Summen, sodass ich die Tür aufdrücken konnte. Ich drehte mich noch einmal zu der Straße um, als ich die Tür wieder schließen wollte, und erstarrte in der Bewegung. Was war das denn? Der ältere Herr mit der Aktentasche, den ich in der U-Bahn beobachtet hatte, erschien gerade am Ende der Straße und schritt geradewegs auf mich zu. In einer Art Kurzschlussreaktion schob ich die Tür ein wenig kräftiger als ich es eigentlich gewollt hatte zu und atmete schnell. Ich musste mich jetzt ganz dringend beruhigen. Ich hatte es mir sicherlich nur eingebildet, dass der Mann genau auf dieses Haus zugegangen war. Hier waren schließlich noch unendlich viele andere Bürogebäude stationiert, die er aufsuchen konnte.

Mich langsam beruhigend stieg ich die wenigen Treppen zu Mr. Browns Büro hoch. Der Chef nickte mir freundlich zu, als ich eintrat und mich setzte.

„Schön, dass Sie es pünktlich geschafft haben. Ich wollte noch mit Ihnen über den Job sprechen, den Sie suchen", begann er das Gespräch.

„Darüber würde ich auch gern reden", stimmte ich ihm zu. „Es ist gar nicht mehr so lang hin, bis das Studium anfängt, und ich wollte mir gern ein bisschen Geld nebenbei verdienen, um die Wohnungskosten bezahlen zu können."

„Wir können Ihnen sicher etwas anbieten, aber Sie sollten sich bewusst sein, dass das auch gewisse Verpflichtungen mit sich bringt. Wir können zwar flexible Arbeitszeiten anbieten, aber der Kunde geht immer vor, das heißt Sie müssen auch am Wochenende arbeiten, sollte einer der Kunden das verlangen." Dass er mir gleich erklärte, welche Verpflichtungen ich dadurch einging, fand ich sehr sympathisch. Das bedeutete schließlich, dass er mit offenen Karten spielte.

„Das ist für mich kein Problem, denn am Wochenende habe ich meistens keine Uni", antwortete ich deshalb. „Ich würde aber gern einen Vertrag machen, wie das für das Stipendium passiert ist." Das hatte Niall mir empfohlen und ich empfand es als sehr vernünftig. Ein Vertrag schadete schließlich niemandem und er gab mir eine Sicherheit, die ich brauchte. Vor allem jetzt, wo ich mir ständig Sorgen um Lukas machte.

„Natürlich, ein Vertrag ist selbstverständlich", sagte Mr. Brown freundlich. „Ich werde ihn gleich heute Abend aufsetzen. Wie möchten Sie denn arbeiten? Lieber nur mit der Technik oder auch mit den Musikern selbst?"

„Ich arbeite gern auch mit den Musikern", sagte ich, denn ich fand, dass das mit am meisten Spaß machte. Es war ein Prozess, einen Song oder sogar ein ganzes Album aufzunehmen und wenn ich dabei Kontakt mit den Musikern hatte, konnte ich diesen hautnah mitverfolgen und sogar noch eigene Ideen miteinfließen lassen. Saß ich jedoch ausschließlich am Computer, wurde mir das schnell langweilig. Es war auch viel interessanter und einfacher, die Stücke zu schneiden und zu mastern, wenn ich vorher mit den Musikern über Stärken und Schwächen gesprochen hatte.

„In Ordnung, dann melde ich mich wieder bei Ihnen, wenn ich den Vertrag fertig habe", sagte Mr. Brown, stand auf und reichte mir seine Hand. „Ich würde Ihnen wirklich gern noch Ihre beiden zukünftigen Kollegen vorstellen, aber die sind gerade auf einem Außeneinsatz mit einer Band in Schottland."

Das klang auf jeden Fall spannend, sodass ich insgeheim hoffte, auch einmal so einen Außeneinsatz erledigen zu dürfen. Ich nickte und sagte: „Alles klar, ist ja kein Problem, irgendwann werde ich sie schon noch antreffen."

Damit verabschiedeten wir uns voneinander und ich stieg die Treppen wieder hinunter. In Erinnerung an den älteren Herrn, öffnete ich die Tür zur Straße hin vorsichtig. Dort befand sich jedoch keine Menschenseele, wie es bisher fast immer gewesen war, sodass ich hinaustrat, die Tür sorgfältig hinter mir schloss und Richtung U-Bahn Station lief, mich immer wieder umsehend.

Hallo ihr Lieben, ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen!

Wie denkt ihr, wird es wohl weitergehen? Was hat es wohl mit dem älteren Mann auf sich, von dem Lena glaubt, dass er sie verfolgt hat?

Das nächste Kapitel erscheint wieder in drei Wochen, am Dienstag, den 10. Oktober. Ich hoffe, bis dahin genauer sagen zu können, wie oft es dann Kapitel bis zum Dezember geben wird.

Liebe Grüße, Catrifa x

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