09. Nice surprise

Einige Tage später hatte ich mich bereits an London und meine tägliche Arbeit gewöhnt. Es fühlte sich fast so an, als wäre ich schon wochenlang hier. Ich dachte sogar auf Englisch und sprach manchmal, wenn ich mit meiner Familie skypte, aus Versehen in der Weltsprache. Meine Englisch AG rettete mir hier mein Leben und ich war meiner Lehrerin unendlich dankbar für die vielen umgangssprachlichen Redensarten des British English, die sie uns beigebracht hatte. Ohne diese wäre ich hier aufgeschmissen gewesen und hätte mehr als einmal „Sorry, could you explain this to me, please", sagen müssen.

Es war Freitag, und während Fee ihre Sachen erneut packte, um nach Spanien zu fliegen, weil dort eine Benefizveranstaltung stattfand, würde Sandy am Sonntag in London ankommen. Ich war bereits furchtbar gespannt auf die vierte Mitbewohnerin, die wir am Flughafen abholen würden.

Lilly und ich verabschiedeten uns von Fee als wir uns auf den täglichen Weg zum Headquarter machten, weil wir sie vor ihrem Abflug nicht mehr zu Gesicht bekommen würden.

„Viel Spaß in Spanien", wünschte ich ihr.

„Den werde ich haben. Dir viel Spaß bei der Arbeit heute", grinste sie vielsagend. Unsicher sah ich sie fragend an. Hatte ich irgendetwas Besonderes verpasst, das heute passieren würde? Natürlich wusste ich, dass mein Gedächtnis öfter mal schwächelte, aber ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, etwas vergessen zu haben. Lilly verabschiedete sich ebenfalls von der feengleichen Blondine und wir machten uns durch die Morgensonne auf den Weg zum Headquarter. Während wir liefen, versuchte ich, aus Lilly etwas über meinen heutigen Job herauszuquetschen.

„Was hat Fee denn nun gemeint, sie wünsche mir viel Spaß heute?", erkundigte ich mich.

„Wirst du noch sehen", sagte Lilly jedoch lediglich mit einem geheimnisvollen Unterton und beließ es dabei. Was wussten die beiden, das ich nicht wusste?

Als Vicky mir beim Betreten des Headquarters die Liste aushändigte, überflog ich sie sofort, um nach ungewöhnlichen Terminen Ausschau zu halten. Eigentlich war alles wie immer. Ein wenig Büroarbeit stand auf dem Plan, und ich sollte eine Aufnahme beaufsichtigen. Steven hatte mir unten in den Studios bereits Einiges beigebracht und ich verbrachte dort jede Minute, in der ich nichts zu tun hatte. Tontechnik war total meins, das stellte ich hier noch intensiver fest, als in Deutschland, denn hier war alles noch viel professioneller. Ich war dabei, wenn Alben produziert wurden, die es in die Charts auf der ganzen Welt schafften. Das war aufregend, und ich freute mich schon auf den Nachmittag, an dem die Aufnahme laut meinem Plan stattfinden sollte.

Zunächst jedoch begab ich mich ins Praktikantenbüro, wo Peter vor seinem Computer hockte und mal wieder an einer Website herumbastelte. Ihn grüßend setzte ich mich auf meinen Schreibtischstuhl und fuhr den Computer hoch.

Nach dem gemeinsamen Essen mit Peter in der Kantine fuhr ich mit dem Fahrstuhl hinunter in die Studios, wo Steven mich bereits erwartete.

„Super, dass du da bist. Es ist schon alles eingestellt, du weißt ja wie es geht. Zur Not fragst du einfach nochmal nach, ich bin in Studio drei. Der heutige Sänger ist Niall Horan, er kennt sich auch ein wenig aus", wies er mich ein. Wow, ich würde mit Niall aufnehmen! Jetzt freute ich mich noch mehr darauf.

„Okay, in welchem Studio ist er?"

„In Studio eins, momentan jedenfalls, denn danach soll er ins Studio zwei kommen, dort werde ich dir ebenfalls alles einstellen."

„In Ordnung." Voller Vorfreude betrat ich den Raum und musste, ohne es wirklich zu registrieren, grinsen, als ich den blonden Sänger hinter der Glaswand entdeckte.

„Hey Lena", sprach er in das Mikrofon. Ich war ein wenig überrascht, dass er sich an meinen Namen erinnerte, freute mich aber darüber.

„Hi Niall", grinste ich. „Welchen Song nimmst du auf?"

„You and I, für unser neues Album Midnight Memories."

„Das klingt cool." Ich sah auf den Bildschirm vor mir, auf dem tatsächlich bereits alles eingestellt war. Ich musste nur die Hintergrundmusik auf Start stellen, und er konnte beginnen, den ersten Part einzusingen. Beim professionellen Aufnehmen wurde niemals der Song im Ganzen abgespielt, um den Sänger dann darauf singen zu lassen, bis sich eine perfekte Version fand. Tatsächlich wurden immer nur kleine Parts, die wenige Zeilen beinhalteten, mehrmals eingesungen, und schließlich die besten Teile zusammengefügt. „Magst du dann anfangen?"

„Okay, warte kurz." Er trat einen Schritt zurück und ich wunderte mich, was er jetzt vorhatte. Er musste eigentlich lediglich seine Kopfhörer aufsetzen, um mit dem Einsingen beginnen zu können, sobald ich die Musik einschaltete. Stattdessen ließ er die Kopfhörer auf dem Stuhl liegen, auf dem sie platziert waren, und machte Anstalten, sich sein T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Sekunde mal. Bitte was? Wieso zog er sich denn jetzt aus?!

Ich sah wohl sehr entsetzt und überrascht aus, jedenfalls setzte Niall, nun Oberkörperfrei, seelenruhig seine Kopfhörer auf und lachte. Der lachte mich aus! Aufgrund seiner merkwürdigen Macke, die ich immer noch nicht so richtig begriff. Die Kontrolle über meine Gesichtszüge wiederfindend klappte ich meinen Mund zu und versuchte, neutral zu schauen und nicht mitzulachen. Sein Lachen war extrem ansteckend, und ich konnte nicht vermeiden, dass meine Mundwinkel sich nach oben zogen.

„Hat es irgendeinen Grund, dass du mich anstarrst?", fragte er belustigt.

„Hat es irgendeinen Grund, dass du ohne Shirt in einem Aufnahmeraum stehst?", konterte ich nach einiger Überlegung und nachdem ich mich gefangen hatte.

„Ich singe dann besser, weil ich mich freier fühle", zuckte er mit den Schultern.

„Du hast echt eine Macke", stellte ich fest und hoffte dabei, dass er genug Humor besaß, um zu verstehen, dass ich es nicht ernst meinte.

„Ja, schlimm?" Seine Antwort erleichterte mich in gewissem Sinne.

„Solange du etwas an hast während du auf der Bühne stehst, nicht. Die Fans würden mir leidtun."

„Du kannst mir ruhig sagen, dass ich gut aussehe. Ich bin das gewohnt."

„Macho." Auch wenn ich es als unhöflich empfand, schaltete ich trotzdem einfach die Musik an und gab ihm so keine Chance, etwas zu erwidern.

Während er sang, hatte ich keine Ahnung, wo ich hinschauen sollte. Seine Augen waren viel zu gruselig blau, um sie anzustarren, seinen Oberkörper anzuschauen hatte zwar was, aber es kam mir unhöflich vor, also starrte ich letztendlich auf den Bildschirm, auf dem die Takte durchliefen und nach jedem Durchgang automatisch von vorne begannen. Seine wunderschöne Stimme fesselte mich aus irgendeinem Grund und ich bekam eine Gänsehaut. Mal abgesehen davon, dass die Melodie des Liedes mich in ihren Bann zog, tat seine Stimme das Übrige. Ich verlor mich in eine innere Diskussion darüber, warum manche Talente auf der Welt ungerecht verteilt waren (er konnte singen und sah gut aus!), und vergaß darüber, dass ich eigentlich bald mal die Takteinstellung an dem Computer ändern musste.

„Uhm, Lena? Ich habe die Stelle jetzt fünfzehn Mal gesungen, meinst du das reicht?" Normalerweise nahm man eine Stelle höchstens bis zu zehn Mal auf, und das schien er genauso gut zu wissen wie ich es tat, weshalb ich merkte wie mir das Blut in den Kopf schoss.

„Ja, ich denke schon." Durch einen Mausklick stoppte ich die Takte der Musik und verschob das Fenster mit der Maus auf einige spätere Takte, die durch rote Striche auf dem Bildschirm markiert waren.

„Kann es sein, dass du meine Stimme toll findest?"

„Du kannst es nicht lassen, oder?", erwiderte ich, und vergaß kurzzeitig, mit wem ich da sprach.

„Was denn?", fragte er gespielt unwissend, was ich an seinem Ton erkannte.

„Dich selbst zu loben." Jetzt war es auch egal, ich hatte es eh schon versaut.

„Ach was, ich lobe mich doch nicht! Was soll ich machen, wenn ich nun einmal gut aussehe, super singen kann, weltberühmt bin und alle weiblichen Wesen auf mich stehen?" Ich hatte deutlich erkannt, dass er das nicht ernst meinte. Sein Humor war wirklich genial.

„Weißt du, das kenne ich", meinte ich deshalb. „Die Typen aus Deutschland stehen auch alle auf mich."

„Du hast es kapiert." Er grinste. „Die Meisten halten mich nach so einem Spruch für total abgehoben und halten sich von mir fern."

„Gute Taktik." Dumm war der Ire wirklich nicht.

„Ich bin halt toll. Nehmen wir dann weiter auf?"

„In Ordnung." Ich startete den nächsten Musikteil und konzentrierte mich darauf, nun nicht in einen Tagtraum zu verfallen, sondern verfolgte aufmerksam den Strich, der sich auf dem Bildschirm seinen Weg durch die Linien bahnte, und immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrte.

„Du hattest ganz schön Probleme, dich nicht von der Musik entführen zu lassen", lachte Niall, als wir das Studio verließen, um in das Angrenzende zu gehen.

„Bilde dir bloß nicht ein, das würde an deiner tollen Stimme liegen! Das Lied ist einfach schön."

„Das hätte ich jetzt an deiner Stelle auch gesagt. Was machst du in Deutschland eigentlich so mit Musik?", wollte er interessiert wissen.

„Ich singe in einem Schulchor, helfe meinem Onkel ein wenig in seinem Tonstudio und habe bis vor kurzem Querflötenunterricht gehabt. Jetzt möchte ich bald ein neues Instrument anfangen, mal schauen." Ich probierte öfter mal mehrere Instrumente durch, aber hatte mich noch nicht auf eines festgelegt, das ich wirklich gründlich beherrschen wollte.

„Das klingt cool. Du hast nicht zufällig Ahnung vom Songschreiben?"

„Nicht wirklich, ich bewundere alle, die einen kompletten Song zustande bringen. Warum fragst du?"

„Ich sitze gerade an einem Song, aber finde einfach keine Melodie für die Bridge", jammerte er. „Und niemand scheint mir helfen zu können."

„Das ist natürlich Pech. Also mit Melodien habe ich eigentlich kein Problem, eher mit Begleitungen und Texten, da komme ich nicht mit zurecht."

„Soll ich dir die Melodie der Strophe und des Refrains vorsingen?", fragte er hoffnungsvoll.

„Klar, warum nicht." Einen Versuch war es wert, auch wenn ich ein wenig Angst hatte, eventuell vor ihm zu singen. Ich wusste sehr wohl, dass ich die Töne eines Liedes treffen konnte, aber meine Stimme hatte nichts Besonderes.

Er begann zunächst mit dem Refrain, und fügte danach die Strophe an. Nachdem er geendet hatte, überlegte ich nicht, sondern summte einfach leise, was mir gerade einfiel. Selbst wenn es nicht passte, war es jetzt auch egal, dann passte es halt nicht.

Ich stoppte irgendwann und blickte vom Boden, den ich während meines Summens betrachtet hatte, zu ihm auf, als er längere Zeit lang nichts sagte und mir das Schweigen unangenehm wurde. Sein Gesicht schien undurchdringlich und ich platzte fast vor Neugier. Warum sagte er nichts?

Warum sagt Niall wohl nichts zu Lena? Das werdet ihr im nächsten Kapitel erfahren!


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