Kapitel 48
Die nächsten zwei Tage verbringe ich tatsächlich bei meinem Vater, weil ich gemerkt habe, dass es mir gut tut, hier zu sein.
Das Haus birgt so viele Erinnerungen, Liebe und Geborgenheit. Hier fühle ich mich aufgefangen.
Und da mein Dad nichts von alledem, was in meinem Leben schreckliches passiert ist, weiß, gibt es hier einen Abstand zu allem, was in Seattle über mir zusammengebrochen ist. Ich habe Zeit, mich zurückzuziehen und Ruhe um nachzudenken.
„Kim, Schätzchen, ich gehe ja donnerstags zum Bowling mit Dave und Richard. Weil du…“
„Schon gut, geh ruhig und hab Spaß“, unterbreche ich meinen Dad.
„Aber geht es dir denn auch wirklich gut?“
Liebevoll streicht er mir über die Stirn.
Die Männer kennen sich schon solange ich denken kann. Ich finde es ganz wundervoll, dass sie bis heute Freunde geblieben sind und regelmäßig etwas miteinander unternehmen. So weiß ich, dass Dad nie allein ist.
„Natürlich. Ich werde mir ganz gemütlich einen Film anschauen.“
Kurz mustert er mein Gesicht, dann grinst er zuversichtlich.
„Ich werde nicht so lange weg bleiben. Stell mir keinen Blödsinn an“.
Im gleichen Moment leuchten in der Einfahrt auch schon die Scheinwerfer von Richards Wagen auf.
„Ich habe mein Handy einstecken“, ruft mir mein Dad noch einmal in Erinnerung, bevor er seine Bowlingtasche und seine Jacke von der Garderobe nimmt.
„Viel Spaß und Grüße Richard und Dave ganz lieb von mir“, rufe ich ihm noch schnell hinterher.
Dann ist er bereits durch die Tür.
Also schalte ich in der Küche den Wasserkocher an, um mir eine Tee zu machen und blättere die Fernsehzeitschrift, die mein Vater auf dem Tresen liegen gelassen hat, durch. Leider scheint das Programm heute Abend nichts nach meinem Geschmack zu bieten. Was bedeutet, dass ich mir eine andere Beschäftigung suchen muss. Und das wirklich unbedingt, denn ohne Ablenkung befürchte ich wider tief in das dunkle Loch zu fallen, aus dem ich mich gerade herauskämpfen will.
Wahllos schalte ich durch die einzelnen Sender, wobei ich gegen jegliche Gedanken in meinem Kopf ankämpfe.
Dann schalte ich den Fernseher wieder aus, nehme meine Tasse und gehe hoch auf mein Zimmer, wo ich meine übriggeblieben CD Sammlung durchgehen, als mir unter dem Bett ein paar meiner alten Fantasy Romane in die Hände fallen. Diese Bücher hatten mir in den schwierigen Jahren als Teenager, der ohne seine Mutter aufwachsen muss, so viel Zuflucht geboten. Ich liebte es, mich in diesen Büchern zu verlieren. Jeder Roman gab mir die Gelegenheit in andere Länder, manchmal sogar andere Welten, zu reisen. Ich lache und Weine mit ihnen und ab und an entwickelt sich sogar eine kleine Schwärmerei für einen der Protagonisten. Durch das Lesen dieser Bücher konnte ich meinen Problemen entfliehen. Erst als ich auf College ging, haben sie mehr und mehr an Bedeutung verloren. Ich habe mich auf meine Ziele konzentriert. Da war einfach kein Platz mehr für Fantasie.
Vorsichtig lasse ich die Fingerkuppen über die zerflatternden Einbände gleiten, blättere ein paar Seiten durch und lese sogar einige Abschnitte, als mich plötzlich ein seltsames Gefühl überkommt.
Schnell schlage ich das Buch zu und husche die knarrenden Treppen wieder hinunter ins Wohnzimmer, um den PC meines Dads hochzufahren. Ohne nachzudenken fliegen meine Finger über die Tastatur. Erst tippe ich Geisterbegegnung in die Suchmaschine ein und lese mich durch ein paar, der unzähligen Einträge.
Erst als ich feststellen muss, dass nicht von dem, was dort berichtet wird, zu meiner Situation passt, versuche ich andere Begriffe wie Wiederauferstehung, Rückkehr aus dem Jenseits und schließ Unsterblichkeit. Aber auch hier komme ich durch Artikeln für mich nicht weiter. Trotzdem kann ich nicht aufgeben. Verzweifelt lege ich das Gesicht in beide Hände, während ich krampfhaft versuche, mich an alle Details, alle Auffälligkeiten zu erinnern. Jede Kleinigkeit könnte mich weiterbringen. Ich will endlich Klarheit oder zumindest eine Erklärung, einen Anhaltspunkt, der mir beweist, dass ich nicht verrückt werde.
Ist es möglich, dass mir Collin tatsächlich begegnet ist? Hat er mich hier her gebracht? Das würde bedeuten, dass er sich doch an mich erinnern konnte, dass er die ganze Zeit über wusste, wer ich bin. Oder ist die Trauer schlichtweg so hart, dass sie mich völlig überrollt und meine Verstand vernebelt?
Die Minuten vergehen und ich verliere zunehmend die Zuversicht. Doch etwas in mir ist nicht bereit aufzugeben.
Erst suche ich nach dunklem Nebel, nach mysteriösen Windstößen und schwarzen Schatten. Meine Hände fliegen ruhelos über die Tastatur, während meine Augen gezielt nach Schlagworten schauen. Ich fühle mich merkwürdig angetrieben, geradezu gehetzt.
Minuten vergehen und werden zu Stunden.
Irgendwann höre ich die Stimme meines Dads.
„Schatz, du bist am PC eingeschlafen. Geh hoch und leg dich hin. Ich fahre alles herunter.“
Wortlos nicke ich ihm zu, bevor ich schlaftrunken die Treppe nach oben schlürfe. Obwohl ich absolut müde bin, ärgere ich mich, nicht weiter gekommen zu sein.
Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht ein mehr an das erinnern, was ich zuletzt gelesen habe.
Leicht sinkt die Matratze unter mir ein Stück ein, während ich mich unter die Decke kuschle. Wirre Satzfetzen geistern mir im Kopf herum. Allerdings machen sie keinerlei Sinn.
… Nebel, Schattengestallt, Windhauch, Geschwindigkeit…
Ich habe einfach viel zu viel belanglose Informationen aufgeschnappt.
… Schnelligkeit, Wesen der Nacht, Stärke…
Ruhelos wälze ich mich auf die andere Seite
… Eisengeruch, Kälte, Unsterblichkeit…
Meine Muskeln spannen sich an.
Plötzlich spüre ich einen kühlen Hauch. Langsam setze ich mich auf und schaue ins Dunkle.
„Hallo?“, hauche ich so leise, dass meine ängstliche Stimme einem zarter Hauch gleicht.
Mit nackten Füßen stehe ich auf und gehe zum Fenster.
Draußen tobt ein Sturm. Der heftige Wind wirbelt das Laub auf, lässt es wild umhertanzen, bevor er es weiterträgt.
Es muss weit nach Mitternacht sein. Die Straßen sind menschenleer um diese Uhrzeit.
Schläfrig drehe ich mich um und erstarre vor Schreck.
Ein großer Schatten steht direkt hinter mir. So nah, dass ich die Gegenwart eines anderen Menschen hätte bemerken müssen. Ich hätte die Wärme seine Körpers spüren oder seine Atmung hören müssen. Aber Collin ist kein Mensch.
Unwillkürlich weiche ich zurück und stolpere unbeholfen auf meine Matratze.
„Was bist du?“, hauche ich kaum hörbar.
Langsam werden die Umrisse seiner Silhouette in der Finsternis deutlicher.
„Was… bist du?“, wiederhole ich mit brüchige Stimme.
Langsam tritt Collin aus dem Schatten des Kleiderschranks.
Das hereinfallende Mondlicht taucht sein Geschichte in kühles blau und lässt seine Züge noch markanter wirken.
„Du bist ein… „, stottere ich ungläubig, obwohl es keine Zweifel mehr gibt.
„Ein Vampir, ja“, erfüllt seine Stimme den Raum und nimmt mir die Luft zum Atmen.
„Aber wie kann das sein?“, keuche ich.
„Das werde ich dir alles erklären, aber nicht jetzt. Du musst hier weg. Du bist hier nicht mehr sicher.“
Benommen weiche ich zurück, bis ich das Kopfteil des Bettes im Rücken spüre.
„Nein, ich kann nicht einfach gehen. Wohin denn auch?“
Collin tritt vorsichtig noch einen Schritt näher.
„Du verstehst es nicht, Kim. Wir haben keine Zeit. Vertrau mir. Bitte!“
Ich schaue ihn an und heiße Tränen rollen mir übers Gesicht. Ich kann es nicht fassen. Er ist wirklich hier. All der Schmerz der vergangenen Wochen bricht über mir zusammen.
Vorsichtig setzt sich Collin neben mich, legt sanft seine Arm um mich. Es vergeht eine Ewigkeit, in der ich Collin festhalte und weine, ohne auch nur ein Wort zu sagen, bis ich völlig kraftlos bin. In meinem Kopf schwirren unzählige Gedankenfetzen wild umher.
Eine Flut komplett unterschiedlicher Gefühle schwappt über mich, sodass ich befürchte, meine Brust könnte explodieren. Ich habe Frage, die ich nicht aussprechen kann und Ängste, die nicht zulassen, die Wahrheit zu erfahren.
„Es tut mir so leid, Kimberly. Ich wollte dir nicht so sehr wehtun. Ich dachte, wenn ich gehe und du denkst, ich sei tot, wärst du in Sicherheit. Aber Zayne ist rasend vor Wut und ich muss dich beschützen. Ich kann nicht zulassen, dass dir etwas passiert."
Schnupfend schaue ich zu ihm auf.
„Du dachtest, es würde mir gut gehen, wenn ich im Glauben wäre, du seist tot?", ich versuche nicht einmal den Zynismus in meiner schwachen Stimme zu unterdrücken, „Seit dieser Nacht ist mein Leben die Hölle."
Wieder rollen mir Tränen übers Gesicht, die Collin schnell mit seinem Daumen davon wischt. Doch meine Zerrissenheit und Verwirrung kann er leider nicht einfach wegwischen.
„Wie hätte ich dir das alles schnell genug erklären können? Ich hatte keine Zeit für viele Worte. Er war bereits hinter dir her."
Ein eisiger Schauer läuft mir den Rücken herunter.
Ihr Lieben, ich würde so gerne mal eure Meinung zu der Entwicklung der Geschichte hören.
Gefällt euch die Story? Findet ihr sie denn noch interessant bzw spannend?
Lasst mir doch einfach ein kleines Feedback in den Kommentaren da oder schreibt mir privat.
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