Kapitel 42
„Vielen Dank für Ihre Hilfe, Miss Austin. Ich wünsche Ihnen eine gute Besserung und sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich bitte an.“
Der große Beamte mit den grau melierten Schläfen reicht mir seine Karte. Obwohl er sich bemüht freundlich gibt, habe ich das Gefühl, er ist mit meiner Aussage ganz und gar nicht zufrieden. Sein Partner, der die ganze Zeit über am anderen Ende des Raums mit dem Rücken gegen die Wand lehnte, wirft mir einen kurzen mitfühlenden Blick zu, bevor auch er das Zimmer verlässt.
Leise fällt die Tür ins Schloss und ich bin nur noch froh, alleine zu sein.
Unwillkürlich wandert mein Blick ins Leere.
So wirklich kann ich mich gar nicht an das, was ich den Polizisten erzählt habe, erinnern. Ich bin völlig verwirrt und durcheinander. Tränen füllen meine Augen und rollen mir langsam über die Wangen, während meine Hände wieder beginnen, unkonzentriert zu zittern. Alles kommt mir unreal vor, als wäre ich gar nicht wirklich da, als hätte ich komplett die Kontrolle verloren.
Der Arzt sagte, das kämen, weil ich unter Schock stehe.
Ich denke, es ist der Schmerz, der mich langsam von innen heraus verzehrt.
Zwar hat die Schwester mir bereits etwas zur Beruhigung und gegen die Schmerzen gebracht, was wahrscheinlich dazu beiträgt, dass sich mein Kopf so taub fühlt, aber es konnte den Kummer nicht ausblenden.
In mir herrscht eine erdrückende Enge, ein zermürbendes Nichts. Es ist die brennende Lücke, die Collin in meine Seele gerissen hat. Es schmerzt so sehr, dass ich befürchte, daran endgültig zu Grunde zu gehen.
Nein, es ist noch tausende Male schrecklicher. Ich werde versuchen müssen, es mir selbst zu verzeihen, wenn ich jemals dazu in der Lage sein sollte, und ich werde versuchen müssen, ihm zu verzeihen. Er hat sich für mich geopfert.
Das habe ich überhaupt nicht verdient.
Mein lautes Schluchzen zerschneidet die zähne Stille, geht jedoch sofort an den kahlen Wänden des Zimmers wieder unter. Fahrig wische ich mir mit dem Ärmel die Nase. Mein Blick verklärt sich und eine warme Benommenheit steigt allmählich in meiner Brust auf. Die Medikamente scheinen zu wirken und entführen mich langsam in eine surreale Parallelwelt, zu einem Ort, an dem niemand eine Waffe zieht, kein Mensch verletzt wird und Collin noch bei mir ist. Der Schmerz in meinem Herzen, droht mich wie ein Anker hinunter in ein tiefes, schwarzes Loch zu ziehen, nur das starke Diazepam verhindert meinen Untergang.
Leise klopft es. Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnet sich die Tür und eine junge, blonde Schwester tritt zögerlich ins Zimmer.
„Fühlen Sie sich ein wenig besser?“, erkundigt sie sich mit sanfter Stimme und einem geradezu fürsorglichen Ton.
„Ja, danke“, antworte ich, „Es geht mir gut. Ich möchte nur noch nach Hause.“
Nachdenklich legt sie den Kopf schräg.
„Miss Austin, sie stehen unter Schock… „
„Bitte“, unterbreche ich sie flehend, „Es ist wirklich alles in Ordnung.“
Schließlich atmet sie ein.
„Na gut, ich werde den Arzt fragen.“
Dankbar lächle ich an, bevor die Schwester den Raum wieder verlässt, um den Arzt zu holen.
Obwohl ich längst jegliches Zeitgefühl verloren habe, bemerke ich, dass es eine halbe Ewigkeit dauert, bis der Doktor endlich kommt und mich nach etwas Überredungskunst widerwillig mehr oder weniger auf eigene Verantwortung entlässt.
Zwar dröhnt mein Schädel und die Medikamente scheinen mich inzwischen endgültig von mir selbst und dem Hier und Jetzt vorzuhalten, aber das ist mir im Moment alles komplett gleichgültig. Ich will nur weg hier und nach Hause. Ich will mich in meine Decke einwickeln und vor allen verstecken.
Der Himmel hängt voller dicker Wolken, sodass am dunklen Morgenhimmel kaum ein Stern zu erahnen ist. Eisiger Wind fegt mir durchs Haar, sodass ich wie von selbst meinen Mantel schützend zusammenziehe. Doch weder der Wind noch der leichte Nieselregen machen mir etwas aus. Ich fühle mich schlicht gleichgültig, wunderbar gefühllos. Meine Tasche, die auf der verkrampften Schulter trage, erscheint mir federleicht. Was sie im Vergleich zu dem. Ballast in meiner Brust wohl wirklich so sein mag.
Zum Glück bin ich gerade unfähig zu fühlen. Und ich wünsche mir inständig, dieser Zustand könnte für immer anhalten.
So gelingt es mir, irgendwie mit dem Bus quer durch die Stadt zu fahren und in meinem Appartement anzukommen.
Kraftlos lasse ich die Tasche von mir rutschen, kicke meine Schuhe unter die Garderobe und hänge meinen Mantel an den Haken.
Da sehe ich es. Ein unsagbares Ziehen durchfährt mich. An der Stelle, an der noch ganz leicht der Kaffeefleck von unserem Zusammenstoß zu erahnen war, klebt jetzt ein, tiefrotbraunen Blutspritzer. Sofort schießen mir wieder Tränen in die Augen. Schwach sacke ich zusammen, kauere weinend im Flur.
Collin hat mich gerettet. Das hat er wirklich, in so vielerlei Hinsicht. Ohne es vielleicht zu wissen, rettete er mich vor der öden Einsamkeit meines Lebens und gab mir neuen Mut. Er rettete mich aus der Gewalt und der Angst, die meinen Alltag beherrschte und ließ mich wieder neue Hoffnung schöpfen. Ich bin mir nicht sicher, ob er ihm überhaupt bewusst war, was er für mich getan hatte. Und nun hat er sein Leben gegeben, um meines zu retten. Doch ich fühle mich tot, nur noch der tiefsitzende Schmerz lässt mich spüren, dass ich noch am Leben bin. Wimmernd ziehe ich die Knie an und schling schutzsuchend meine Arme fest um meine Beine.
Man sagt, wenn man stirbt, zieht das gesamte Leben noch einmal an einem vorbei.
Ich frage mich, welche Rolle ich in seinem Leben spielte. Ob ich überhaupt eine so große Rolle spielte, dass er in seinen letzten Augenblicken auch mich sah. Ich frage mich, ob er seine Entscheidung bereute.
Qualvoll schluchzend lasse ich den Hinterkopf soweit in den Nacken sinken, bis er die Wand berührt.
Ich bereue so vieles. Ich bereue, nie den Mut gehabt zu haben, Collin auf unsere gemeinsame Vergangenheit angesprochen zu haben. Ich bereue, dass ich ihm niemals genug danken konnte, und ich bereue unendlich, dass ich zu feige gewesen bin, ihm zu gestehen, dass ich mich unwiderruflich, Hals über Kopf in ihn verliebt habe.
Ich hoffe mehr als alles andere, dass er es wusste, als er starb.
Ein beißendes Gefühl durchfährt meine Beine und Arme.
Wieder beginnen meine Finger zu zittern und auch meine Lippen beben, als wäre ich arktischer Kälte ausgeliefert. Tief einatmend schließe ich die Augen, versuche, mir selbst zu befehlen, stark zu sein. Ich muss dagegen ankämpfen und mich zwingen in mir selbst etwas Halt zu finden, um diese Stunden irgendwie durchzustehen.
So hätte es Collin gewollt. Er hätte nie gewollt, dass ich aufgebe, und er hat nie gewollt, dass ich in solch einer Situation bin. Deshalb wollte er, dass ich gehe.
Plötzlich durchfährt mich ein anderes Gefühl heiß und verletzend wie ein Blitz.
War alles langer Hand geplant? Bilder vom Gespräch in Mr. Rolands Büro kommen mir in den Sinn.
„Allerdings besteht das Management auf eine Bedingung“, hatte er damals erklärt, während ich nur angespannt an meiner Bluse herumgezupft hatte.
„Sie bestehen darauf, dass Sie die Künstler hier in der Galerie betreuen.“
Hat Collin mich benutzt, um an nötige Informationen zu gelangen?
Ich erinnere mich daran, wie sehr Collin an unserem Warnsystem interessiert war.
„Sag mal“, setzte Collin an, wobei er abrupt stehen bleibt und seinen Blick die Decke entlang wandern ließ, „es wäre zu überdenken, die Sicherheit zu verschärfen, wenn Martino hier überall hängt. Wie ist das mit der Alarmanlage bei euch? Wo genau sind denn die Überwachungskameras installiert?“
Ging es ihn denn wirklich um die Sicherheit oder wollte er lediglich in Erfahrung bringen, inwieweit man die Kameras umgehen kann?
Etwas in mir sträubt sich heftig gegen diesen Verdacht, doch egal wie sehr sich versuche diesen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, lässt mich diese eine Frage nicht mehr los.
War seine Zuneigung nur gespielt, um mich zu benutzen?
Gehörte es zu einem perfiden Plan, mich dazu zu bringen ihm völlig zu verfallen? Nicht nur für diese schreckliche Wette, sondern vielmehr für einen lang vorbereiteten Kunstraub?
Ich will es nicht glauben. Aber dieser eklige Verdacht schleicht durch meine Venen, durch meinen Geist und nistet sich in meinem gebrochenen Herzen ein wie ein widerlicher Parasit. Alleine die Vorstellung, es könnte stimmen, ist pure Folter für meine gekränkte Seele.
Fest presse ich mir beide Hände vor den Mund, aus Furcht ich müsse jeden Moment all meine Wut, Verunsicherung und Qual einfach herausschreien. Dich mehr als ein tränenertränktes Seufzen schafft es nicht an die Oberfläche.
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