Kapitel 33

Helle Sonnenstrahlen kämpfen sich durch die Gardinen. Mein Kopf schmerzt schrecklich und mir ist so schwindelig, dass ich mein Gesicht minutenlang im Kissen vergrabe. Erst dann schaffe ich es, mich aufzusetzen.
  Ich bin alleine im Schlafzimmer. Die andere Bettseite ist kaum zerwühlt, was wohl bedeutet, dass Collin nicht neben mir geschlafen hat. In der Wohnung ist es absolut still. Nicht einmal der Verkehr der Hauptstraße unten ist hier zu hören. 

Mühselig quäle ich mich auf die Beine, die so schmerzen, dass ich mich kaum halten kann. Mit einer Hand stütze ich mich an der Wand, als ich langsam versuche ins Wohnzimmer zu gelangen. 

  „Hallo? Collin?“, rufe ich schüchtern. 

Da ich keine Antwort bekomme, weiß ich, dass er bereits zu seinem Meeting gefahren ist. 
  Um ehrlich zu sein, bin ich froh, dass ich alleine bin. Obwohl es schon sehr merkwürdig ist, ohne Collin in seinem Appartement zu sein.
  Allerdings gibt es mir Zeit, mich unbeobachtet um meine Schürfungen und Blutergüsse zu kümmern. Bis er dann wieder hier ist, habe ich das Schlimmste kaschiert. Schließlich habe ich darin mehr als genug Übung. Zudem brauche ich Zeit, darüber nachzudenken, wo ich nun hin soll. 

Zögernd drücke ich den Lichtschalter im Badezimmer, traue mich kaum in den Spiegel zu schauen. Ich erstarre, obwohl mich mein Anblick nun wirklich nicht mehr schockieren sollte. 
  Zu oft habe ich mich schon so gesehen. 
Doch trotzdem schießen mir Tränen in die Augen. Vielleicht ist man niemals in der Lage, sich daran zu gewöhnen. 
  Ich habe Blutergüsse am ganzen Körper, Kratzer und Abschürfungen an den Wangen, mein Auge ist geschwollen und meine Lippe offen.
  Verzweifelt umklammern meine Finger das kalte Keramik, während ich über das Waschbecken gebeugt bitterlich weine. 
  Ich fühle mich so hilflos, obwohl ich doch stark sein muss.
  Ich fühle mich dumm und naiv, obwohl ich gerade jetzt meine Gedanken ordnen muss. 
  Ich muss in die Wohnung. Ich brauche meine Sachen. Unterlagen, Kleidung, Fotos und alles Persönliche, an dem mein Herz noch hängt. Alles ist in diesem Appartement, in das ich mich nicht zurück traue. Ich besitze nur, was in meiner kleinen Handtasche war, das wars.
Und selbst hier kann ich nur von Glück reden, dass Collin daran gedacht hatte, sie mitzunehmen. Wie soll ich aber sonst zur Arbeit? Vielleicht gar nicht.
Vielleicht macht es keinen Sinn, weil ich eh zurück zu meinem Dad in mein altes Zimmer ziehen muss. Wo soll ich denn sonst hin? 

  Ohne einen weiteren Blick in den Spiegel atme ich tief durch, versuche mich selbst zu beruhigen. 
  Notgedrungen tupfe ich mir etwas Zahnpasta auf den Zeigefinger und schrubbe über meine Zähne, bevor ich mich ganz kurz abdusche.
  Das warme Wasser tut zwar wirklich gut, aber ich fühle mich hier zu fremd und möchte natürlich auch nicht unverschämt erscheinen.
 Also beeilen ich mich, fertig zu werden, und wische direkt das Glas der Duschkabine wieder trocken, damit ich keine Wasserflecken hinterlasse.
Dann hole ich meine Tasche, um mit meinem Concealer, Eyeliner und etwas Mascara das Schlimmste zu verstecken. Da entdecke ich auf dem Esstisch einen Zettel von Collin an mich. 

  „Guten Morgen, leider musste ich schon los und wollte dich nicht wecken. In der Küche ist Kaffee und gegen 13 Uhr wird dir Davide Mittagessen bringen. Fühl dich wie zu Hause.“

Verwundert starre ich auf das Stück Papier. Wer ist denn Davide? Forsch sehe ich mich nach einer Uhr um und muss feststellen, dass Collin für einen so durchorganisierten Mann, doch recht zeitlos lebt. Nur die Anzeige an der Mikrowelle, verrät mir schließlich, dass es bereits kurz nach zwölf Uhr Mittags ist. 
  Kurzerhand gieße ich mir eine große Tasse schwarzen Kaffee ein, der tatsächlich sogar noch recht heiß ist, und setze mich im Wohnbereich an den Tisch. 
  Nach Fernsehen ist mir nicht unbedingt zu mute, sodass ich einfach nur gefühlsleer aus dem Fenster schaue, die Wolken beobachte und versuche, den geballten Haufen negativer und grausamer Erinnerungen ganz weit nach hinten zu verbannen. 

Plötzlich klopft es an der Haustür. 
Erschrocken zucke ich zusammen, bevor mir dieser Davide wieder in den Sinn kommt. 
  Zögerlich öffne ich die Tür, vor der ein schmaler, junger Mann mit großen braunen Augen und freundlichem Lächeln steht. In der einen Hand hält er einen Styroporbehälter, um das  Gelenk der anderen Hand baumeln zwei Tüten. 

  “Guten Tag, Madame. Ich bin Davide. Mr. Owen hat mich mit Besorgungen beauftragt.”

Er spricht leise und sehr höflich.
Ohne weitere Erklärungen hält er mir die Sachen entgegen und verabschiedet sich. 

  “Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit. Sollten Sie noch etwas benötigen, melden Sie sich bitte einfach unten beim Portier.”

Es ist mir etwas unangenehm, dass ich Davide kein Trinkgeld geben konnte, nehme mir aber fest vor, ihm etwas zuzustecken, falls ich ihn noch einmal sehe. 
  Aus der Styroporbox kommt mir ein köstlicher Duft entgegen, und da ich mich völlig ausgehungert fühle, stelle ich die Tüten erst einmal  am Tisch ab, um mich direkt über den Salat mit gegrillten Putenstreifen und Feta Würfeln herzumachen. Hastig schlinge ich die ersten drei, vier Gabeln herein, dann werfe ich noch mit vollem Mund gierig kauend einen verstohlenen Blick in die Tüten.
  Ich fasse es nicht.
Verblüfft und gleichzeitig freudig fummle ich eine Jeans, eine Jogginghose und zwei Langarm-Shirts aus der Tüte.
  Dann merke ich selbst, wie mir die Schamesröte ins Gesicht steigt.
  Collin hat mir nicht nur Shirts und Hosen besorgt, sondern auch eine Zahnbürste und… Unterwäsche. Peinlich berührt stelle ich fest, dass sogar die Größe stimmt. 

Es ist so unglaublich nett von ihm, dass er das alles für mich tut. Im Moment wüsste ich nicht, was ich ohne Collin machen würde. Aber natürlich ist es mir auch unangenehm, so sehr seine Hilfe beanspruchen zu müssen.
Schnell hole ich mein Handy und schreibe ihm eine SMS, um mich direkt bei ihn zu bedanken. Auch wenn er jetzt vielleicht in einem Meeting ist, wird er die Nachricht bestimmt danach sehen.
  Und leider werde ich nicht darum herum kommen, mich für ein paar Tage in der Galerie krank zu melden. 
 Dann esse ich den ganzen Teller leer, bevor ich nochmal ins Bad gehen. 

Weil es sich irgendwie seltsam anfühlt, mich hier in seinem Appartement so frei zu bewegen, beeilen ich mich wieder und wische mit meinem Handtuch auch sofort alle Wasserflecken von den Amateuren, nachdem ich meine Zähne nun richtig geputzt und mich etwas geschminkt habe. 

  Als ich fertig bin, setze ich mich in einem der neuen Shirts und der gemütlichen Hose ans Fenster. Ich möchte nachdenken.
  Ich muss Lösungen finden. Doch mein Kopf ist völlig leer.
  Mein ganzes Innere fühlt sich hohl und ausgebrannt an, schlapp und müde. Trotzdem schalte ich die mobilen Daten meines Handys ein und suche nach Schlagworten wie “Einstweilige Verfügung” und “Kündigung des Mietvertrags bei Trennung. Außerdem versuche ich nachzulesen, wie ich jetzt am unproblematischsten meine Sachen aus der Wohnung bekomme, bis ich schließlich nach Anzeigen von Wohngemeinschaften und kleinen, zu vermietenden Zimmern schaue. Leider muss ich feststellen, dass Seattle alles andere als preiswert ist. 

Niedergeschlagen scrolle ich durch die völlig überteuerten Angebote, als die Tür aufgeht. Erschrocken zucke ich zusammen, obwohl es ja nur Collin sein kann, der nach Hause kommt. 
  Ich habe tatsächlich den halben Tag damit verbracht, im Internet zu lesen und nach Wohnungen zu suchen. Ohne jeglichen Erfolg. 

Rumpelnd biegt Collin um die Ecke, bepackt mit einer Trainingstasche, einer Tüte und… meiner Notfalltasche. 

  “Wie?... Ich meine, wo hast du die denn her?“, keuche ich. 

Außer Atem stellt Collin die Sachen am Couchtisch ab. 

  “Da du deine Sachen brauchst, bin ich nach dem Meeting zu dir gefahren. Ich muss aber gleich wieder los.”

Ich komme nicht mehr dazu ihm weitere Fragen zu stellen, so schnell ist Collin auch schon wieder die Tür raus. Dabei hätte ich jetzt tausend Fragen.
  Wie ist er in die Wohnung gekommen?
  War Jadon dort, und wie war das Aufeinandertreffen? 
  Es ist unglaublich. Nun hat er wieder eines meiner Probleme vorerst einfach so gelöst.
  Ich kann es kaum fassen.

In meiner großen Tasche befinden sich meine wichtigsten Unterlagen, ein paar persönliche Dinge, auf die ich nur sehr schwer verzichten möchte und das Nötigste an Kleidung. Nur frage ich mich, wie Collin die Tasche gefunden hat. Eigentlich dachte ich, man würde sie nicht so einfach im Schrank entdecken. Oder wusste Jadon sogar von meinen kläglichen Versuchen, abzuhauen? 
  Vollkommen verwirrt, schaue ich nach, was sich in der Trainingstasche befindet und stelle fest, dass sie vollgestopft mit Klamotten ist.
  Tränen der Erleichterung kullern über meine Wangen. 
 
"Kim… Kimberly wo bist du?“, höre ich jemanden meinen Namen rufen.

Völlig unwillkürlich zucken schmerzhafte Bilder alter Erinnerungen unkontrolliert in meinen Gedanken auf, bringen mich dazu meine Arme schützend um meinen Kopf zu schlingen. 
  Ich höre Schritte, Schritte von nur einer Personen, und weiß instinktiv, dass es nur Collin ist, und dass mir nichts passieren kann.
Allerdings fühle ich mich weiter wie gelähmt. 
 
  “Kimberly?“

  „Ich bin hier“, flüstere ich.

Schwere Schritte kommen auf mich zu und ziehen mich in eine feste Umarmung. Er ist kalt, kalt vom bevorstehenden Schnee.
Er riecht so wunderbar nach Holz und Erde.
Alleine seine Umarmung schafft es, mich etwas zu beruhigen. 

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