Kapitel 22
Der Wind bläst mir durchs Haar, wirbelt die braunen Blätter vom Bürgersteig auf und lässt sie spielerisch durch die Luft tanzen. Der Himmel ist wolkenlos und sternenklar. Hier inmitten der Großstadt hat man nur selten das Glück, einen so schönen Nachthimmel betrachten zu können. Einzig ein vorbeifahrendes Auto stört diese kurze Idylle. Leicht fröstelnd schlinge ich die Arme um meinen Oberkörper, als der Wagen ein Stück vor mir zu stehen kommt. Langsam geht die Tür der Beifahrerseite auf, doch niemand scheint aussteigen zu wollen.
„Spring schon ein! Es ist erbärmlich kalt.“
Zögernd beuge ich mich etwas herunter, um in das Auto reinschauen zu können. Collin sitzt hinter dem Lenkrad, den Oberkörper weit auf den Beifahrersitz gelehnt, grinst er mich mit auffordernden Blick an.
„Komm schon oder willst du erfrieren?“
Aus der offenen Tür strömt mir eine angenehme Wärme sowie leise Musik entgegen, was mich irgendwie dazu bringt einzusteigen, ohne weiter nachzudenken, wohl wissend, dass es nicht sonderlich klug ist.
Vom Ledersitz steigt sachte Hitze an meine ausgekühlten Beine.
„Sitzheizung ist schon viel wert, oder?“, lacht Collin, als könne er meine Gedanken lesen, während er zurück auf die Straße setzt und losbraust.
Und dann kommt es, das peinliche Schweigen.
Keiner von uns spricht. Doch im Gegensatz zu Collin, der es immer noch schafft, relativ entspannt zu wirken, kann ich meine Unsicherheit nur sehr schwer verbergen.
Nervös zupfe ich an den Knöpfen meines Mantels herum, während ich krampfhaft aus dem Fenster schaue. Da fällt mir auf, dass wir nicht in Richtung meiner Wohnung fahren. Sofort breitet sich Panik in mir aus.
„Collin, wo fahren wir hin?“
Meine Stimme klingt viel zu schrill. Ich schaffe es nicht, die Hysterie zu verstecken. Sofort steigt Wut in mir auf, weil Collin selbst jetzt noch komplett entspannt neben mir sitzt, die Augen weiterhin unbeeindruckt fest auf die Straße gerichtet.
„Wohin fährst du?“, wiederhole ich, obwohl ich weiß, dass er eigentlich gar keine Zeit zum Antworten hatte.
„Na nach Belltown“, sagt er schließlich ruhig, wobei er mir einen flüchtigen Blick zuwirft, „alle treffen sich noch im Foundation, um Rays Erfolg zu feiern.“
„Eigentlich wollte ich nach Hause.“
Kaum merklich zieht Collin die Augenbrauen zusammen.
„Warum willst du denn nach diesem Erfolg heute Abend schon Heim? Du hast es dir genauso verdient zu Feiern. Du musst dir mal was gönnen.“
Nach einer kurzen Pause fügt er widerwillig hinzu:
„Aber ich bringe dich natürlich auch nach Hause, wenn du unbedingt willst.“
Um ehrlich zu sein, will ich nicht nach Hause.
Seit Tagen schon brennt etwas in mir, das sich nach einem anderen Leben sehnt. Nach einem Leben, das viel freier, spontaner und aufregender ist, als mein bisheriges.
Seit Jadon zu seinen Eltern gefahren ist, wächst in mir der Wunsch, endlich selbstbestimmter zu sein und einfach zu tun, was mich glücklich macht. Und das hier ist genau der Anfang.
Also fahre ich mit nach Belltown.
Das Fundation scheint momentan einer der angesagtesten Nachtclubs Seattles zu sein. Allerdings ist er alles andere als nobel.
Die Tanzfläche ist verhältnismäßig klein, das Leder der Barhocker an vielen Stellen abgenutzt oder gar zerrissen und die Tische schmutzig. Trotzdem ist der Club mehr als nur gut besucht.
Etwas verloren bahne ich mir eng hinter Collin den Weg durch die Menge, die breite Steintreppe hinauf, auf die Empore. Allen Anschein nach hat Ray diesen Bereich im Vorfeld reserviert, da er nicht für das breite Publikum zugänglich ist. Auf großen Sofas und modernen Ledersesseln lümmeln sich neben der Künstlerclique, Freunden und Bekannten von Ray, auch Jeffrey und Amalia aus der Galerie.
Auf den niedrigen Tischen stehen unzählige Gläser, sowie Sekt, Wein und Wodka Flaschen, was auch die ausgelassene, bereits feucht fröhliche Stimmung erklärt.
Kaum dass wir zu ihnen stoßen, wird Collin auch schon von Christoph und zwei anderen Männern aus der Kunstbranche belagert. Mit einem entschuldigenden Achselzucken, gefolgt von seinem typischen Piratenlächeln in meine Richtung, lässt Collin sich ein Glas in die Hand drücken und in ein Gespräch verwickeln. Ich glaube mitzubekommen, dass einer der jungen Männer an einer Zusammenarbeit mit Collins Agentur interessiert ist.
So ist es wohl als Manager, man hat nie Feierabend.
Also setze ich mich zu Amalia und Jeffrey auf eines der schwarzen Polster.
„Ganz echt, ich habe nie gedacht, dass du auch mitkommst, Kim“, flötet meine Kollegin, während sie uns beiden ein Sektglas füllt, „Du warst ja noch nie mit uns feiern. Ich freue mich, dass du dabei bist.“
„Ich hatte auch noch nie so einen guten Grund“, antworte ich souverän mit einem Augenzwinkern, bevor wir anstoßen.
„Auf einen grandiosen Abend.“
Eigentlich finde ich es richtig schön, hier mit meinen Kollegen zu sitzen. Wir verstehen uns während der Arbeit wirklich gut und nun habe ich die Gelegenheit, sie auch privat besser kennen zu lernen, vielleicht sogar Freundschaft zu schließen.
„Kim, schön sie zu sehen“, begrüßt mich Zayne höflich, „Ich hatte schon geglaubt, sie würden sich die Party entgehen lassen und fahren direkt nach Hause zu ihrem Freund.“
Zaynes Worte treffen mich ungewollt wie ein Faustschlag. Sofort steigt Unbehagen in mir auf.
Dieses bedrückende Gefühl, das ich nur zu gut kenne. Dieses Gefühl, als läge eine erdrückende Last auf meiner Brust, die mir das Atmen erschwert. Das Gefühl, das ich so viele Male hatte, wenn Jadon betrunken oder schlecht gelaunt die Wohnung betritt.
Eine unsichtbare Macht, die mich unzählige Male durch die Räume schleichen ließ, mit einem tauben Kribbeln in der Magengegend und den Knien, bemüht möglichst leise zu sein, während ich wehmütig alles, was mich betrifft, hinten anstelle. Etwas, dass mich immer wieder vergessen lässt, dass auch ich jemand bin, der leben will.
„Diese Feier wollte ich mir keinesfalls entgehen lassen“, antworte ich etwas zu leise, bevor ich hastig mein Glas an die Lippen führe und mit einem einzigen Zug leere.
„Das freut mich. Vielleicht haben wir später noch etwas Zeit uns zu unterhalten.“
In seiner Stimme schwingt eine kesse Zweideutigkeit mit. Sein Blick schweift leicht von mir ab, und als ich ihm folge, sehe ich Collin mit zwei Gläsern unsere Sofaecke ansteuern.
„Da bist du ja“, ruft er über die laute Musik hinweg, „Wir haben noch nicht einmal auf die Ausstellung angestoßen.“
Auffordernd reicht er mir eines der Gläser.
„Auf eine gelungene Zusammenarbeit“, prostet Collin in die Runde, ohne die Augen von mir zu nehmen.
Doch meine Stimmung ist leider ziemlich abgeflacht.
Ständig schleichen sich finstere Gedanken in meinen Kopf, ganz gleich, wie sehr ich versuche sie zu verdrängen.
Es ist mein großer Abend. Wir haben hart gearbeitet und eine fantastische Leistung erbracht. Ich bin jung und sollte das Recht haben, ausgelassen und fröhlich zu sein, wenigstens heute.
Schnell schlucke ich das schlechte Gefühl mit Sekt herunter. Nur leider will es sich nicht hinweg spülen lassen.
„Psst, sag‘ mal“, lallt mich Jeffrey deutlich beschwipst an, „Ich könnte ja schwören, dass da was zwischen dir und dem Schnuckel- Manager läuft, wenn ich nicht wüsste, dass du vergeben bist.“
Mein Herz scheint einen Schlag auszusetzen.
„Wie kommst du denn auf sowas?“, murmle ich räuspernd, ohne Jeffrey direkt anzusehen.
„Keine Ahnung…“, lacht er, als hätte er etwas besonders Lustiges gesagt, „ich geh jetzt mal runter und schau mich mal um, ob ich ein paar Sahneschnitten entdecke. Hast du auch Bock zu tanzen?“
Energisch schüttle ich den Kopf, wobei ich mir von Amalia noch ein Glas einschenken lasse.
Als auch meine Kollegin entschließt, die Tanzfläche zu stürmen, haben wir bereits die Flasche Sekt geleert.
Allmählich ist mir schwindelig. Ich bin es einfach nicht gewohnt zu trinken. Zudem konnte ich zu Hause vor Aufregung nicht zu Abend essen, bevor ich zur Vernissage bin.
Weil Jeffrey sich ins Getümmel gestürzt hat und Collin mal wieder in eine längere Unterhaltung verwickelt ist, sitze ich hier nun alleine. Doch gerade als ich entschließe, etwas frische Luft schnappen zu gehen, setzt sich Zayne zu mir.
„Na, amüsieren sie sich, Kim?“
„Ja, und sie?“
„Ray weiß, wie man Party macht“, lacht er.
„Ich habe ihn den ganzen Abend noch nicht gesehen“, gestehe ich, während ich den Blick suchend durch den Raum schweifen lasse.
Plötzlich spüre ich eine Berührung auf meinem Schenkel. Eine Sekunde verharre ich wie eingefroren. Langsam, kaum merklich, lässt Zayne seine Fingerkuppen über meine Haut streichen.
Was passiert denn hier? Wie wird Kim auf diese Annäherungen reagieren?
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