Kapitel 2

Als ich am nächsten Morgen aufwache, schläft Jadon noch tief und fest. Sein Arm ruht schwer auf meiner Brust. Sein Atem bläst mir in den Nacken. Behutsam lege ich seinen Arm neben mich, schlage die Decke zurück und setze mich auf. Sofort meldet sich mein brummender Schädel.
Leise schließe ich die Schlafzimmertür hinter mir und gehe in die Küche, wo ich schnell eine Tablette in einem Glas kalten Wasser auflöse. Hastig leere ich es in zwei großen Schlucken, bevor ich die Kaffeemaschine einschalte und die Eier für das Omelette aus dem Kühlschrank nehme. Diese wenigen ruhigen Minuten am Morgen bedeuten mir gerade sehr viel. So viel, dass ich regelrecht auf Zehenspitzen durch die Küche schleiche, nur um diese Ruhe noch einen kurzen Moment bewahren zu können.
Gerade als der Kaffee durchgelaufen ist, höre ich Jadons Schritte im Flur.

„Guten Morgen, mein Engel", nuschelt er verschlafen, während er sich eine Tasse eingießt, „Ich fahre zu Samuel. Kann sein, dass ich erst zum Abendessen wieder da bin. Ich gehe gleich duschen."

Dann schaufelt er sich mit meiner Gabel ein großes Stück Ei in den Mund und verlässt die Küche wieder.
Auch wenn mir dieser Samuel zuwider ist, wird es besser sein, dass wir uns das Wochenende etwas aus dem Weg gehen. Alleine in seiner Nähe habe ich gerade das Gefühl, erdrückt zu werden. Es herrscht diese allgegenwärtig Spannung, die jegliches Wohlbefinden direkt im Keim erstickt und wie schwerer, grauer Dunst über unseren Köpfen hängt.
Also sitze ich fast schon regungslos am Tisch, umklammert mit beiden Händen die Kaffeetasse, und lausche dem plätschern der Dusche, in der Hoffnung, dass Jadon gleich fertig sein wird.
Erst als die Haustür ins Schloss fällt, schaffe ich es endlich erleichtert durchzuatmen.
Natürlich weiß ich, dass er mich noch liebt, aber zwischen uns hat sich sehr vieles verändert.

Dicke Nebelschwaden hängen über der Stadt und schwarze Wolken kündigen den nächsten Regenschauer an. Der eisige Wind bläst erbarmungslos durch den Stoff meines Mantels. Im Radio hatte ich heute Morgen gehört, dass es der kälteste Winter seit über zehn Jahren in Seattle sein soll.
Hätte ich nicht das große Glück gehabt, hier eine Stelle in einer der bekanntesten Kunstgalerien des Bundesstaats zu ergattern, wären wir wohl nicht freiwillig aus dem sonnigen Kalifornien weggezogen. Aber als ich die Zusage von ‚Boltman Art Gallery' bekam, gab es für mich kein Halten mehr.
Ich interessierte mich schon sehr früh für die Malerei, daher war mir bereits in der Unterstufe der High School klar, dass ich später an der San Jose' State University Kunst studieren will. Es gab in meinem Umfeld einige Menschen, die daran gezweifelt hatten, dass ich, die kleine Kimberly von Nebenan, es nach Seattle schaffen würde, doch mit viel Fleiß, Ehrgeiz und Disziplin habe ich mir meinen Traum erfüllt.
Wahrscheinlich kommt meine Begeisterung für Kunst von meiner Mutter. Mein Vater erzählte mir immer, dass ich ihr stundenlang beim Malen und Töpfern zugesehen habe. Leider kann ich mich selbst kaum mehr daran erinnern. Sie starb als ich sieben Jahre alt war. Ich kenne sie nur noch von Fotos und Erzählungen, aber ich weiß, dass sie mich und meinen Vater sehr geliebt hat.
Ein kräftiger Windstoß schlägt mir entgegen. Schnell wickle ich meinen dicken Wollschal fester um den Hals. Ich kann es mir absolut nicht erlauben, in der Probezeit krank zu werden.
Auf den Straßen und dem Gehweg herrscht reger Verkehr. Hastig nehme ich die fünf Stufen und husche in das kleine Café an der Ecke. Ich mag diesen Laden mit der dunklen, rustikalen Einrichtung und dem selbstgebackenen Kuchen.
Es duftet herrlich nach frisch gemahlenen Bohnen, Zimt und Karamell.

Mit meinem Cappuccino zum Mitnehmen verlasse ich das Café wieder. Da werde ich plötzlich wie aus dem Nichts heftig gestoßen. Schmerzhaft stürze ich auf den Asphalt, wobei mir der Kaffee auf meinen cremefarbenen Mantel schwappt.

„Entschuldigen Sie, Miss. Haben Sie Sich weh getan?"

Wütend schaue ich auf. Doch gerade als ich meinem Zorn kund tun will, sehe ich in zwei tiefbraune Augen. Diese Augen, sie kommen mir so vertraut vor.

„Ich helfe Ihnen", höre ich den großen, jungen Mann sagen, der mir mit besorgtem Blick seine Hand reicht.

„Danke, nicht nötig. Es ist nichts passiert", entgegne ich ihm schnippiger, als ich eigentlich will.

Ohne seine Hilfe anzunehmen, rapple ich mich auf.
Mein Gegenüber zieht sein Lederportmonee aus der Jacke.

„Bitte lassen Sie mich für die Reinigung aufkommen", sagt er, während er auf den hellbraunen Fleck auf meinem Mantel starrt.

„Nein, wirklich, nicht nötig. Ich hätte einen Deckel nehmen sollen", lehne ich erneut ab, „Außerdem muss ich los. Ich habe es eilig."

Mit diesen Worten lasse ich ihn stehen und laufe, ohne mich noch einmal umzudrehen, zur Haltestelle.
Ich habe es nicht eilig. Das war gelogen. Aber irgendetwas hat mich an der Art, wie er mich angesehen hat, nervös gemacht.
Während ich auf den Bus warte, versuche ich den Zwischenfall abzuschütteln. Ich muss mich heute Abend noch auf die Vernissage morgen vorbereiten. Das wird meine Chance, mein Wissen und Verkaufstalent endlich zu demonstrieren.
Ich möchte Mister Ronald, dem Leiter der Galerie beweisen, dass ich eigenständig in der Lage bin, Kunden professionell zu beraten. Denn gerade als neue Kunstvermittlerin ist es am Anfang wichtig, sich zu behaupten. Das ist auch der Grund, warum ich während der kompletten Heimfahrt im Kopf immer wieder meine To-do-Liste durchgehe. Ich will mich noch einmal mit dem Künstler und seinem kulturellen Hintergrund vertraut machen, mich mit seinen Werken auseinandersetzen und mehr über seine Inspirationsquellen erfahren, um im besten Licht erscheinen zu können.

Zu Hause angekommen hänge ich meinen Mantel an einen freien Haken der Garderobe und stelle meine Schuhe säuberlich darunter.
Da Jadon noch nicht zu Hause ist, schnappe ich den Staubsauger und wirbel kurz durch die Wohnung, bevor ich mich mit meinem Teller Mikrowellen Ravioli zum recherieren an den Laptop setze.
Dominik Martino ist ein begnadeter Maler. Natürlich freue ich mich sehr darauf, ihn aus nächster Nähe erleben zu dürfen.
Ich tauche völlig in das Gelesene ein, bin so in die Texte über seine Malerei vertieft, dass ich alles um mich herum vergesse. Erst als der Wind dicke Hagelkörner gegen die Fensterscheibe schlägt, schrecke ich auf. Es ist schon nach Mitternacht. Zum Glück muss ich vor der Ausstellung nicht arbeiten.

Erschöpft fahre ich den Laptop herunter und stelle meinen Teller in die Spüle. Inzwischen bin ich schon sehr müde, möchte allerdings erst noch meine Kleidung für morgen richten und duschen, bevor ich ins Bett gehe.
Doch im Flur fällt mein Augenmerk dann jedoch auf meinen Mantel.
Sofort holt mich der Ärger über diese Achtlosigkeit wieder ein. Jetzt kann ich nur von Glück sprechen, wenn ich die eingetrockneten Flecken wieder heraus bekomme. Schnell weiche ich den Fleck in Seifenwasser ein und tupfe ganz vorsichtig mit dem Schwamm über die betroffenen Stellen, um die Faser des Stoffs nicht zu beschädigen.
Wie kann man so rücksichtslos durch die Straßen marschieren?
Selbst wenn man es eilig hat, muss man aufpassen.
Mittlerweile bereue ich, sein Geld für die Reinigung nicht angenommen zu haben, aber dieser Kerl hat mich völlig aus dem Konzept gebracht.
Er kam mir so unglaublich bekannt vor. Ich kann es nicht definieren. Ich weiß nur, dass mich etwas in seinem Blick, in der Art wie er mich angesehen hat, nervös werden ließ. Jedoch bleibt mir keine Zeit dafür, meine Gedanken weiter an diese belanglose Begegnung zu verschwenden. Weshalb ich kurzerhand auch das seltsame Gefühl, das sie mit sich gebracht hat, aus meinem Kopf verbanne.
In der Hoffnung ihn morgen wieder anziehen zu können, hänge ich meinen Mantel an die Heizung, da ich momentan nur eine kleine Grundausstattung arbeitstauglicher Kleidung besitze.
Schon allein aus diesem Grund, würde uns die Provision für ein verkauftes Gemälde sehr gelegen kommen.
Auch unser Appartement ist derzeit eher spärlich eingerichtet. Vieles ist immer noch in den Umzugskartons verstaut, da noch die nötigen Regale fehlen. Die meisten Möbel stammen noch aus meinem alten Zimmer bei meinem Vater. Die kleine Pantryküche konnten Jadon und ich vom Vormieter übernehmen. Lediglich das Bett, meine Couch und den Tisch haben wir uns günstig neu gekauft.
Obwohl ich während des Studiums durchweg gejobbt habe, um mir etwas Geld zur Seite zu legen, hat das Budget für mehr erstmal nicht gereicht.
Trotzdem ist es schon recht schön wohnlich, und alles Weitere werden wir nach und nach anschaffen.

Müde kuschle ich mich unter die warme Bettdecke. Es dauert nicht lange bis ich völlig ermattet und einsam einschlafe.

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