Kapitel 27 - Serena - ✔️
„Du musst sofort einsteigen."
Bale scheucht mich von einer verwirrten Alessia gefolgt in sein Auto, und mir bleibt kaum Zeit um mich anzuschnallen, da fährt er auch schon los. Alessia hat sich schnell auf die Rückbank gesetzt und sieht ihren Freund besorgt an, der mit einer mörderischen Geschwindigkeit durch Seattle rast.
„Bale, was ist los verdammt?" Ich zische die Worte nur, doch er hat sie verstanden. „Jona, Lio und Elia sind im Krankenhaus", sagt er nur, und ich spüre, wie mir die Farbe aus dem Gesicht weicht. „Was ist passiert?", flüstere ich, und spüre Alessias Hand auf meiner Schulter. „Schusswechsel", murmelt Bale nur knapp, und mir wird fast schwarz vor Augen.
Schusswechsel, natürlich, was denn sonst?
Ich sage nichts mehr und spüre, wie die Tränen ihren Weg über mein Gesicht finden, während ich aus Sorge um die drei Jungs innerlich fast umkomme. „Sind sie... sind sie schwer verletzt?", frage ich leise, und Bale fährt sich durch seine Haare. „Ich kann dir nichts Genaues sagen, aber sehr leichte Verletzungen werden es wohl nicht gewesen sein" murmelt er dann, und ich schluchze auf während ich mein Gesicht in meinen Händen vergrabe.
Vor einem Tag habe ich mir noch gedacht wie schwer es für mich wäre, meinen Zwilling zu verlieren, und jetzt liegt nicht nur er, sondern auch noch mein bester Freund und der Bruder meines Freundes im Krankenhaus. Das ist zu viel für mich, und ich will sofort Klarheit darüber, was genau die Jungs mir verheimlichen, denn wenn das so weitergeht weiss ich nicht, wie ich das aushalten soll.
„Serena, bitte... bitte beruhige dich etwas. Wir sind gleich da, okay? Du bist gleich bei deinem Bruder." Ich nicke nur, doch die Tränen laufen trotzdem unaufhaltsam. Innerhalb weniger Minuten sind wir beim Krankenhaus angelangt, und Alessia springt fast gleichzeitig mit mir aus dem Wagen. Auf dem Weg zum Eingang begegne ich Liam, der gerade seine Zigarette ausrückt und in den Aschenbecher wirft.
Als er mich entdeckt kommt er auf mich zu und zieht mich wortlos in seine Arme, wo ich wie ein kleines Häufchen Elend zusammensacke. Ich kralle mich in Liams Shirt, während er sich mit mir ganz leicht hin und her bewegt, was mich irgendwie etwas beruhigt. „Wo sind die Jungs?", frage ich heiser, und Liam räuspert sich. „Drinnen, im Wartezimmer", erwidert er, und ich nicke.
„Wie geht es den verletzten?", fragt Bale neben mir, und als ich kurz die Augen öffne sehe ich, dass er Alessia ebenfalls im Arm hält. Auch ihre Augen verlassen Tränen, doch sie scheint sich noch einigermassen unter Kontrolle zu haben. „Die sind alle drei im OP", antwortet Liam, und ich schnappe nach Luft. „Einige Ärzte mussten sogar aus der Pause oder von zu Hause hergeholt werden."
Liams Stimme ist zwar gefasst, aber ich erkenne den leicht brüchigen Unterton trotzdem. Ihm geht es wohl auch sehr nahe, immerhin sind das alle drei auch seine Freunde. „Ist Shane auch hier?", fragt Alessia mit zitternder Stimme, und ich spüre Liams Nicken. „Ja, er ist bei Kea."
Plötzlich reisse ich die Augen auf.
Keanen.
„Ich muss sofort zu Keanen", murmle ich, und Liam lässt mich los. Ich renne ins Krankenhaus rein und weiche einer überraschten Krankenschwester aus, bis ich beim Wartezimmer angelangt bin. Ich lasse meinen verschwommenen Blick über die Leute schweifen, bis er an Keanen hängen bleibt. „Kea", flüstere ich mit dünner Stimme und laufe auf meinen Freund zu. Als er mich entdeckt erkenne ich sofort seine geröteten Augen, und meine Brust zieht sich zusammen.
Er steht schnell auf und kommt auf mich zu, und sobald er kann zieht er mich an der Taille an sich und legt seine Arme fest um mich. „Es tut mir so leid", flüstert er immer wieder, und ich spüre, wie seine Tränen auf meine Wangen tropfen, und sich dort mit meinen eigenen zu einem kleinen Bach zusammenschliessen. Keanens Oberkörper bebt, und ich lege meine Arme noch enger um seinen Bauch.
„Ich hätte doch auf meine Jungs aufpassen müssen", flüstert Keanen weiter, und wieder zieht sich mein Herz zusammen. „Immerhin... immerhin sind das doch meine Freunde, und... Elia..." Seine etwas fester gewordene Stimme bricht wieder bei der Erwähnung seines Bruders, und er fängt wieder heftiger an zu zittern. Ich versuche krampfhaft nicht daran zu denken, was es für mich bedeuten würde auch nur einen der Jungs zu verlieren, doch es funktioniert nicht. In meinen Gedanken spielen sich alle Ereignisse mit Jona, Lio und auch Elia wie ein Film ab und zerreissen mich von innen.
„Serena, es tut mir so leid. Ich wollte das nicht, ich schwöre es. Ich wollte das nie." Ich drücke meinen Freund noch etwas enger an mich, denn momentan ist es mir egal, wer schuld daran ist, dass die drei Jungs gerade operiert werden. „Keanen Salvatore, Serena Marino?"
Ich löse mich von Keanen, behalte jedoch seine Hand fest in meiner, und drehe mich zu dem Arzt um, der uns gerade gerufen hat. „Ja?", frage ich zögerlich, und schaue in die ernste Miene des Mannes. Innerlich bereite ich mich auf alles vor, denn es heisst doch immer, wenn Ärzte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter ziehen, ist etwas passiert, oder?
„Kommen Sie bitte mit."
Keanen und ich lassen uns das nicht zweimal sagen und folgen dem Arzt sofort. Er führt uns in ein Sprechstundenzimmer und deutet uns, uns auf die Stühle zu setzen, die vor dem grossen Schreibtisch stehen. „Wie geht's den Jungs?", fragt Keanen sofort, als er sich gesetzt hat, und der Arzt seufzt. „Soweit gut. Keiner von ihnen ist leicht verletzt, und alle drei sind auf der Intensivstation, aber momentan sind sie stabil. Mr. Salvatore und Mr. Sanchez sind sogar wach."
Und Jona?
Was ist mit Jona?
Der Arzt scheint meine Frage zu sehen, denn er senkt den Blick etwas. „Mr. Marino ist noch nicht bei Bewusstsein. Sind Sie seine Schwester?" Ich nicke und schlucke den dicken Kloß runter, der sich in meinem Hals gebildet hat. „Seine Zwillingsschwester sogar", murmle ich, und Keanen drückt meine Hand, die ich in mein Knie gegraben habe.
Jona ist noch nicht wach.
„Okay. Sie können trotzdem zu ihm, aber nur ganz kurz." Ich nicke und stehe wie von selbst auf, und ohne einen weiteren Blick zurück trete ich aus dem Raum. Wir laufen eine Weile, dann fahren wir mit dem Lift hoch, und irgendwann bleiben wir vor einer Türe stehen. Ich trage jeden Schutz, der hier vorgeschrieben ist, und nestle etwas nervös an dem blauen Mantel rum.
„Sind Sie bereit?" Ich nicke zögerlich, und der Mann öffnet die Türe. Ich trete ein und entdecke zuerst einen Haufen Schläuche und blinkende Monitore, bis ich in alldem Jonas schwarzen Haarschopf erkenne. „Oh Gott", flüstere ich und lege meine Hand auf den Mund, um nicht sofort loszuheulen.
Schnell setze ich mich auf den kleinen Stuhl neben Jona und betrachte sein Gesicht. Es ist fahl und unter seinen Augen zeichnen sich tiefe Augenringe ab, und als ich vorsichtig seine Hand nehme, ist diese völlig kalt. Würden die Monitore nichts Anderes behaupten würde ich sagen, er ist tot.
Bei diesem Gedanken schluchze ich dann schlussendlich doch auf, und der Arzt verlässt still das Zimmer.
Kurz frage ich mich, wie oft er wohl schon solche Situationen miterlebt hat, und schliesse aus meinen Überlegungen, dass es für ihn wohl zum Alltag gehört. „Jona?", wispere ich, und hoffe irgendwo doch auf eine kleine Reaktion, doch es passiert nichts.
„Hör zu, ich... es tut mir so leid. Ich weiss nicht mal, was genau, aber es tut mir leid. Dass du hier liegst zerstört mich, dich so zu sehen tut so verdammt weh. Ich weiss doch nicht, was ich ohne dich machen soll? Mom und Dad werden sich hier wohl auch noch blicken lassen, aber ich werde nicht dabei sein. Ich kann nicht mit ihnen in einem Raum sitzen und sehen wie sie sich um einen Menschen sorgen, dem sie jahrelang kaum Beachtung geschenkt haben."
Ich schlucke und schniefe laut, dann wische ich mir tapfer die Tränen aus dem Gesicht.
„Weißt du, du bist der beste Zwilling den ich mir vorstellen könnte. Es ist irgendwie komisch, dass weder du noch ich jemals einen Moment hatten, in dem wir nicht wussten, dass es den anderen jemals geben würde." Ich lächle leicht und schniefe wieder, während sich Jonas Brust regelmässig hebt und senkt.
„Ich habe mein ganzes Leben mit dir an meiner Seite verbracht, und ich kann mir nichts Anderes vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du... dass du plötzlich nicht mehr da sein sollst. Du bedeutest mir so unglaublich viel, dass es wehtut schon nur daran zu denken, dass du hier liegst. Ich war auf viele Situationen vorbereitet, wie zum Beispiel, dass wir irgendwann unseren eigenen Weg gehen werden und nicht mehr zusammenwohnen werden, oder dass du dich dazu entschliesst zu Mom und Dad nach New York zu ziehen. Doch das hier hätte ich nie gedacht. Ich hätte nie gedacht, dass ich schon so bald um dein Leben bangen muss und deine total unterkühle Hand halten werde, während ich mit dir spreche in der Hoffnung, du würdest mich hören. Ich war auf alles vorbereitet, nur auf das hier nicht."
Ich starre eine Weile nur auf meine Hand, die Jonas schlaffe und verkabelte Hand hält, bis ich plötzlich wieder von einem Heulkrampf geschüttelt werde. „Jona, du... du musst das hier schaffen, okay? Es ist noch zu früh für dich. Bitte, ich brauche dich doch. Du darfst nicht gehen okay? Ich... ich kann das dort draussen alleine nicht. Bitte bleib bei mir."
Ich lege meinen Kopf auf meine Arme, die ich auf der Matratze platziert habe, und heule, während ich mit dem Daumen über Jonas Hand fahre. „Bitte versprich mir das irgendwie", flüstere ich, und Tränen quellen unaufhaltsam aus meinen Augen.
Ich beruhige mich irgendwann wieder und lausche dem regelmässigen Piepen der Monitore und den leisen Atemgeräuschen der Beatmung, die Jona in den Mund gesteckt wurde. Das sind die einzigen Geräusche die mich davon überzeugen können, dass mein Zwilling noch lebt.
Ich höre wie sich die Türe öffnet, und wenig später räuspert sich der Arzt leicht. „Es tut mir leid, aber Ihr Bruder braucht jetzt viel Ruhe. Wenn Sie wollen kann ich sie noch zu Mr. Sanchez bringen." Ich nicke und erhebe mich traurig, ehe ich Jona einen Kuss auf die Stirn gebe. „Bis morgen, Jo", flüstere ich, lasse seine Hand vorsichtig los und gehe aus dem Zimmer raus.
„Es tut mir wirklich leid, was mit Ihrem Bruder und Ihren Freunden passiert ist", sagt der Arzt, und lächelt mich gütig an. Ich lächle traurig zurück und kämpfe gegen die aufkommenden Tränen an. „Sie können nichts dafür", sage ich dann, und folge dem Arzt den Flur runter, ehe er eine Türe öffnet.
Ich trete in das Zimmer ein und entdecke sofort, wie Lio's Augen leuchten, als er mich entdeckt. Wieder lässt der Arzt uns alleine, und ich laufe auf einen besten Freund zu, der mich sofort in die Arme schliesst. „Du siehst beschissen aus", murmelt er, als er mich wieder loslässt, und ich ziehe unter Tränen eine Augenbraue hoch. „Du solltest dich selbst mal sehen", gebe ich zurück, und lasse meinen Blick über Lio gleiten.
Er hat ein Veilchen und einige Kratzer an der Hand, doch weiter sieht er ganz munter aus, wäre da nicht dieser Verband, der leicht unter seinem Shirt hervorlugt. „Schusswunde", murmelt Lio nur und zieht das Shirt etwas hoch. Ich nicke und schlucke schwer, dann setze ich mich neben Lio. „Wie geht's dir?", frage ich heiser, und mein bester Freund seufzt. „Ich habe Glück gehabt", sagt er nur, und drückt meine Hand. „Wie geht's den anderen?", fragt er dann, und ich hole tief Luft.
„Jona ist immer noch im Koma, und würden die Maschinen nichts Anderes sagen, sieht er aus als wäre er tot. Und was mit Elia ist weiss ich nicht, aber ich nehme an Keanen ist bei ihm." Lio schliesst die Augen und lässt sich in die Kissen zurückfallen. „So schlimm war es noch nie", flüstert er dann, und ich sehe ihn fragend an. „Du musst mit Keanen sprechen, Serena. Und lass bitte nicht locker, ja?"
Ich nicke verwirrt und lege dann meinen Kopf neben den von Lio. „Was ist passiert?", frage ich, und Lio schluckt.
„Es gibt da jemanden, der uns eins auswischen will. Du bist seinen Leuten auch schon bei Emilio begegnet. Jedenfalls ist er bei mir aufgetaucht und hat mich ziemlich überrascht, aber Emilio, Jona und Luca waren zum Glück da. Trotzdem wurde ich getroffen. Kurz darauf kamen Kea, Elia und Noah. Den kennst du wohl noch gar nicht. Ich habe nur Schüsse gehört, mehr nicht, doch es schien als hätte Elia sich vor Keanen gestellt um ihn zu schützen, und Jona wurde dann bei dem Versuch den Schützen selbst zu erschiessen, oder wenigstens zu treffen, selbst getroffen. Es tut mir so leid, Serena."
Die Jungs haben also jemanden, der ihnen eins auswischen will.
Wunderbar, nicht?
—
Ich heule.
Ohne Scheiss ich heule. Ich habe zwar keine Geschwister, aber schon nur die Vorstellung dass ich hätte und sie verlieren könnte.. wow.
Denkt ihr, Jona wird es schaffen?
- xo, zebisthoughts
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