𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝚅𝙸𝙸𝙸

Ihr Herz raste und hämmerte mit einer mächtigen Kraft gegen den Brustkorb, als etwas Schweres sie umstieß und auf den Boden sinken ließ.

Ayaz hatte blitzschnell reagiert. Jetzt drückten seine Muskeln sie mit ihrer Kraft nach unten.

Ihre Stimme begann sich zu heben, bis sie in dem Schluchzen unterging.

Ihre Wange war gegen den Boden gepresst. Sie zitterte. So wie alles andere. Ihre Glieder waren versteift.

Dann. Ein weiterer Schuss. Er zerriss ihre Stimme. Denn sie stoppte sofort, als sie das Geräusch in ihren Ohren vernahm. Genau wie ihr Atem. Eine Qual. Eine, die versuchte, sie immer mehr zu zerstören, ohne sie wirklich zu treffen. Einfach, weil die Qual da war.

Glas zersplitterte. Im Augenwinkel flogen die Splitter durch die Luft. Sie wirbelten in einer chaotischen Reihenfolge. Raven konnte nicht zuordnen, von wo die Schüsse herkamen.

Für sie schienen sie immer von einer anderen Seite zu kommen. Doch wenn sie ehrlich war, wollte sie nicht herausfinden, wer dahinter steckte. Sie wollte nur von hier verschwinden. Für immer. Aber mit Seth und ihren Eltern.

Instinktiv drückte sie sich noch näher an die Dielen. Obwohl der Schuss schon mehrere Sekunden vergangen war, gab es ihr das Gefühl von Sicherheit. Auch wenn das vermutlich kompletter Unsinn war.

Die Kugel konnte treffen. Jedes Ziel. Sie musste es nur wollen. Ein Ziel, dass es zu finden galt. Vielleicht sie. Vielleicht aber auch jemand anderes. Jemand, den sie noch nicht kannte.

Wenn sie hätte seufzen können, hätte sie es vermutlich getan. Doch ihre Mimik war wie erstarrt.

Sie tat es schon wieder. Machte sich selbst verrückt. Sie sollte damit aufhören. Sie wollte. Konnte aber nicht. Ihr gelang es einfach nicht.

Die Last auf ihrem Körper wurde weniger und sie konnte sich umdrehen. Dabei musste sie schwer schlucken. Das Zimmer sah jetzt noch trostloser und verwüsteter aus.

Das Glas, welches zersprungen war, stellte sich als eine Brille heraus. Raven hatte sie vorhin nicht beachtet.

Schwarze Schuhe kamen in ihr Blickfeld und sie musste mitansehen, wie sie sich auf das Gestell der Brille niederließen. Das Knirschen der Reste bereitete ihr Kopfschmerzen. Ihr war es egal. Für den Moment. Sie wollte hier nicht mehr sein. Nicht eine Minute und auch keine Sekunde.

Sie stolperte, als sie bemüht war aufzustehen. Mit unsicheren Beinen lief sie schnellen Weges durch die Tür. Es dauerte nur eine Minute, bis sie den Ausgang erreichte und nach Luft schnappte.

Die Luft in der Ruine war verseucht gewesen. Verseucht von Gefahren, die versuchten, ihr Leben zu zerstören.

»Ich glaube, ich sollte dir ein weiteres Mal danken« Die Worte flogen in die Luft und verstummten abrupt. Ihr Gesicht wandte sich widerwillig zurück zum Haus. Anders, als sie erwartet hatte, stand dort niemand.


Sie hatte vermutet, dass Ayaz hinter ihr war, aber so war dem nicht. Ihr Herz explodierte, nachdem sie sich bewusst wurde, dass nicht nur er fehlte sondern alle, die vor kurzem hier noch gestanden hatten.

Wie lange war sie in der Ruine gewesen? Die Sonne schien. Es hätte ihr viel darüber erzählen können, zu welcher Tageszeit sie sich ungefähr bewegten.

Ihr Kopf aber war zu nichts zu gebrauchen. Er versagte bei den einfachsten Dingen, wie etwa die Himmelsrichtung zu bestimmen.

Norden. Osten. Süden. Westen. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wild umher und schienen sich nicht ordnen zu lassen. Erst dachte sie dort, wo die Sonne war, wäre Norden, doch nach kurzen Überlegungen musste sie eingestehen, dass es nicht stimmte.

Im Norden ist sie nie zu sehen.

Das Knäul hatte sich weiter verknotet und schien anscheinend auch ihrem Kopf zu schaden.

Sie bemerkte erst viel später, dass Kyra nicht mehr da war. Nein. Sie hatte nicht gewartet. War sie freiwillig gegangen? Weil sie dachte, Raven würde sie im Stich lassen?

Seufzend blickte sie ein weiteres Mal um sich. Aus dem Haus waren keine Geräusche mehr zu hören und Ayaz war nie herausgekommen. Ob er das jemals tun würde, wusste sie nicht.


»»----- ★ -----««


Es war viel Zeit vergangen. Sie stand einfach nur da, atmete die etwas rauchige Luft ein und dachte nach.

Effektiv war es wohl nicht. Sie kam immer zu dem gleichen Schluss. Es war viel Zeit vergangen und sie hatte immer noch nichts wegen ihrer Schwester unternommen. Woran es lag, konnte sie sich nur teilweise begründen.

Was wäre, wenn Kyra freiwillig gegangen war und nicht gefunden werden wollte. Nicht von ihr. Sie hatte Kyra im Stich gelassen, als sie ihre Schwester gebraucht hatte. Wie konnte sie nur denken, dass das Verschwinden ihrer Adoptiveltern und Seth nur sie etwas angingen.

Und du denkst, dass alle außer dir ein glückliches Leben führen? Wenn ja, hast du die Welt noch nicht verstanden. Für Kyra musste es noch schwieriger gewesen sein.

Einer egoistischen Person wie dir. Langsam sog sie in ihren Gedanken all die Wörter auf, die Seth an dem letzten Abend zu ihr gesagt hatte. Er hatte recht gehabt. Mit allem. Sie hatte sich nie in der Lage gefühlt, andere nach ihrem Befinden zu fragen. Sie war immer davon ausgegangen, dass nur sie dieses beschissene Leben führte.

Jeder führt sein Leben auf seine weiße.

Voller Wut ballte sie ihre Hand zu einer Faust. Zeit, die kostbar war, hatte sie verschwendet. In dieser Zeit hätte sie Kyra vielleicht schon gefunden gehabt oder zumindest Spuren.


»»----- ★ -----««


Ihre Atmung war unregelmäßig, als sie bedachtsam durch die asphaltierten Straßen lief. Ihre Augen nahmen immer wieder zerstörte Häuser auf. Es wunderte sie, denn manche waren heil geblieben, andere sahen immer schrecklicher aus. So als hätten sie einen Wettbewerb veranstaltet, wer am schlimmsten aussähe.

Ihre Füße hatten kein bestimmtes Ziel. Sie wusste nicht, wohin die Straßen sie führen würden. Nicht genau. Alles sah so verändert aus.

Mülltonen lagen zerstreut auf den Böden. Der strenge Geruch stieg in ihre Nase. Die Straßen waren wie leer gefegt. Niemand wagte sich nach draußen. Außer ihr.

Risse zogen sich gefährlich durch manche Abteile der Straßen. Sie ging meist einen großen Bogen um sie herum, aber der Gedanke, dass genau dahinter vielleicht Kyra war, wollte nicht aus ihrem Kopf gehen und stellte sich jedes Mal als ein großes Problem dar.

Manchmal verstrichen Minuten, bis sie den Entschluss zog, weiter zu gehen. Alles andere wäre naiv und dumm gewesen, versuchte sie sich einzureden.

Menschen waren ihr noch keine begegnet. Es fühlte sich ein wenig einsam an, aber nicht direkt schlecht. Würde sie einem Menschen begegnen, wäre dies gewiss eine skurrile Situation.

Ungewiss, wohin sie die Straße führen würde, bog sie in eine kleine Nebenstraße. Die Häuser waren alle mit Graffiti besprüht. Raven las sich einige davon genau durch. Es waren viele, aber ein Graffiti reichte, um ihr zu zeigen, was das für Menschen waren.

𝐎𝐧𝐥𝐲 𝐨𝐮𝐫 𝐠𝐮𝐚𝐫𝐝𝐢𝐚𝐧 𝐚𝐧𝐠𝐞𝐥𝐬 𝐜𝐚𝐧 𝐩𝐫𝐨𝐭𝐞𝐜𝐭 𝐮𝐬. 𝐓𝐡𝐞𝐬𝐞 𝐜𝐨𝐧𝐭𝐫𝐨𝐥 𝐟𝐫𝐞𝐚𝐤𝐬 𝐜𝐚𝐧'𝐭 𝐝𝐨 𝐚𝐧𝐲𝐭𝐡𝐢𝐧𝐠 𝐰𝐡𝐞𝐧 𝐭𝐡𝐞𝐲'𝐫𝐞 𝐰𝐢𝐭𝐡 𝐮𝐬. 𝐅𝐢𝐠𝐡𝐭 𝐛𝐚𝐜𝐤.

Autonom strichen ihre Finger über die unheilvoll prangenden Letter.

Sie waren in einem Blutrot geschrieben und es wirkte, als würde wirklich Blut herunter tropfen.

Sie vernahm einen Pfiff und als sie hochschaute, entdeckte sie zwei Gestalten in der Nähe. Beide trugen schwarze Kleidung und hatten ihre Kapuzen ins Gesicht gezogen.

Lange starrte sie einfach nur, doch dann schienen sich die Gestalten besonnen zu haben. Ihre Beine rannten in die entgegengesetzte Richtung und schon bald bogen sie rennend in eine andere Straße ein.

Raven wusste nicht, wie sie das einordnen sollte. Waren sie vor ihr weggerannt? Bestimmt nicht. Sie hatte nichts getan.

Ihre Beine trugen sie weiter durch die enge Gasse und bewunderte die einzelnen Kunstwerke. Oft handelte es sich um Sprüche wie ein solcher, den sie gelesen hatte. Manchmal waren aber auch kleine Bilder zu erkennen.

Eines davon war ein Herz, wo ein Messer reingerammt wurde. Eine Schlange wand sich um die mutmaßlich scharfe Klinge.

»Es ist schön, nicht wahr?« Ihr Herz stockte. Diese Stimme wollte sie nicht hören. Nicht jetzt. Es passte nicht. Warum musste ihr das passieren.

Sie wandte sich von dem Graffiti ab und sah, wie sie erwartet hatte Jed. Doch nicht gehässig, wie sie vermutet hatte.

Seine blauen Augen strahlten ihr gequält entgegen. Er saß in einer unbequemen Haltung zwischen Gerümpel eingeschlossen. Vermutlich hätte Raven ihn nicht gesehen, hätte er sie nicht angesprochen.

Angestrengt schob er mit seinen Armen den Müll beiseite und enthüllte nun sein Gesicht gänzlich. Es war mit Schmutz und Ruß bedeckt. An der Wange klafften mehrere blutige Kratzer.

»Etwas brutal«, gab sie spitz von sich und musterte ihn zynisch. So wie er es war. Zynisch. Was sie allerdings nicht sagte.

Sie genoss es fast auf ihn herunter zu blicken. Ihr war es bewusst, dass sie vermutlich auch nicht gerade sauber aussah, aber besser als er. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest.« Sie wollte keine Sekunde mehr mit diesem Widerling zu tun haben. Er war mehr als abstoßend. Sie musste weg. Da war es sogar besser zu sterben.

»Rae, warte - bitte.« Der Spitzname war ein Stich in ihr Herz und ließ sie abrupt auf dem Absatz kehrt machen.

»Nenn mich nicht so!« So hatte er sie früher genannt. Als sie Freunde waren. Bevor alles schief ging.

Er ignorierte ihre Bitte und zog seine Hose hoch, um sein Bein zu entblößen. Ihr wurde übel. Denn abgesehen von vielen Schnittwunden stand sein Bein in einem komischen Winkel ab. An einem Teil konnte sie eine deutliche Verletzung sehen. Sie meinte auch kleine Splitter auszumachen.

Sie wandte sich ab. Ihre Augen konnten das nicht ertragen. Wie konnte ihr so etwas leidtun? Er hatte es verdient. Jetzt wusste er, wie ihr es gegangen sein musste, als ihr niemand geholfen hatte.

»Damit kommst du doch bestens alleine zurecht.« Spöttisch. Das war der Ton dieses Satzes. Wie oft hatte er diesen Tonfall bei ihr benutzt? Oft genug, damit sie es jetzt einmal tun konnte.

»Ich kann nicht laufen. Sie werden mich finden oder ich werde verhungern.« Pech, dachte sie sich.

»Was machst du hier überhaupt? Solltest du nicht jetzt in eurer schicken Villa sitzen und die Bediensteten herumkommandieren?« Er schüttelte seine braunen Haare und schaute sie unruhig an. Immer wieder lugte er nach links und rechts. Als würde er jeden Moment jemanden erwarten.

»Wenn du mir hilfst, kann ich dich zu deiner Schwester führen« dieser Satz hatte die Interesse in ihr geweckt. Woher wusste er, dass Raven sie suchte. Sie hasste ihn zwar, aber war das Leben ihrer Schwester nicht wichtiger als irgendeine Feindschaft.

Wenn sie ihre Schwester hatte, könnte sie ihn auch einfach wieder zurückschicken. Ohne seine Freunde, geschweige denn ohne sein Bein zu gebrauchen, war sie klar im Vorteil.

»Ich helfe dir, aber du hörst auf mich und zu Beginn würde ich gerne noch eine Antwort von dir haben.« Vielleicht würde sie jetzt Zusammenhänge zwischen dem Geschehen erkennen. Oder teilweise den wirren Knäul in ihrem Kopf lösen, indem sie das Puzzle Stück für Stück löste.

Nicht nur Ayaz hatte die Macht etwas zu verstehen und die losen Fäden, die sich verknotet hatten, zu lösen. Er war nur eine Spitze des Sternes. Auch Jed war in der Lage dazu. Denn auch er sprach von sie.

Sie musterte ihn genauestens und beobachtete jede kleinste Bewegung. Die Richtigen - in diesem Fall das Nicken - und die Falschen. Wie er schwer schluckte, als er zu ihr hochschaute.

Von ihr hing sein Leben vielleicht ab. Vielleicht klang es grausam, doch sie genoss es. Reichlich. Sie hätte es immer wieder tun können. »Wer sind sie?« Sie hatte ihre Augen geweitet, um keine Reaktion zu verpassen.

Jed war gut darin keine zu zeigen. Doch sie war besser, jede kleinste Bewegung wahrzunehmen.

Seine Fingerkuppen hatten kurz gezuckt, bevor er die Stimme zu einem Flüstern senkte, was unnötig schien, denn niemand außer ihnen befand sich hier.

»Wenn ich es dir sagen würde, müsste ich dich umbringen. Denn du bist auf der falschen Seite. Wenn ich ehrlich bin, müsste ich mich selbst auch umbringen.«

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