𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝚅𝙸𝙸
Ihre Fingerkuppen berührten den Boden des Faches. Es fühlte sich ungewohnt kalt an. Auch das Material passte nicht zu dem ehemals schönem Paket.
Trotzdem musste sie feststellen, dass es dort nichts gab. Nichts in diesem Fall der Fakt, dass sich dort keine Spuren befanden. Spuren, die ihr sagen könnten, wo Seth war. Vielleicht auch, wo ihre Mutter und ihr Vater waren.
Raven war schon bereit, ihre Hand nach oben zu ziehen. Dabei berührten ihre Fingerspitze etwas Rundes.
Es hatte nur einen geringen Durchmesser, denn die kalte Metallstange – wie sie vermutete – ließ genügend Platz, um mit zwei ihrer Finger hindurch zu tauchen. Anschließend umschlossen sie den Griff und mit einem starken Zug schoss die Klappe schlagartig nach oben.
Dort traf Metall auf Holz. Raven dachte schon, der Deckel würde wieder umklappen, doch zu ihrer Erleichterung wankte er nur kurz abwechselnd nach vorne und hinten, dann kehrte Stille ein.
Bis auf die leisen Schritte, die sich ihr näherten. Doch sie passten so perfekt zu der Stille, dass sie fast nicht auffielen.
»Was ist deine Intention?« Seine Stimme wirkte rau, ein bisschen, als wäre er müde. Raven drehte sich nicht um, sie wusste, was sie erwarten würde.
Ayaz hatte etwas gesucht, genau wie sie. Und das Etwas würde er jetzt in der Hand halten. Immer noch mit ihren Blutstropfen darauf.
»Und deine?«, fragte sie knapp. Möglichst bedacht nur so viel zu sagen, wie auch nötig war. Sie hatte sich langsam auf dem Boden herumgedreht und bedachte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue.
Seine Mundwinkel gingen hoch und er entblößte leicht seine Zähne. Das Lächeln war messerscharf. Gefährlich. Und es entfaltete seine Wirksamkeit mit Erfolg.
Das Lächeln hatte etwas an sich, etwas Bezauberndes. Bezaubernd. Nicht mehr, nicht weniger.
»Du hast vergessen, dass ich zuerst gefragt habe.« Die Stimme durchbohrte sie mit all ihrer Kraft.
Langsam blickte sie über ihre Schulter. Dies ging ihn nichts an. Es war eine Sache zwischen ihr und Seth. Seth, der nicht hier war. Vielleicht aber woanders.
Schulterzuckend schaute sie zu ihm hoch. Unwillkürlich erwischte sie sich dabei, wie sie in seine Augen blickte. Lange und tief. Nur um das Funkeln und Glitzern in seinen Augen zu beobachten. Wie es wanderte, mal schwächer, mal stärker wurde.
Nie verlor sie seine Augen. Viel mehr verlor sie sich in ihnen. Sie hatten etwas Besonderes an sich. Etwas Besonderes. Etwas, was sie anzog. Auf eine unerklärliche Weise.
»Ja?« Die Worte rissen sie aus ihrer Starre. Doch nicht sofort. Es vergingen erst mehrere Sekunden bevor sie zu Boden schaute und versuchte seinem Blick – Nein, allem, was sie mit ihm in Verbindung brachte – auszuweichen. Fühlte sie sich schuldig?
Rutschend bewegte sie sich auf dem von Dreck übersäten Boden. Versucht immer weiter nach hinten zu gelangen, um die Vertiefung abzudecken.
Sie wusste nicht, was heute oder gestern geschehen war. Sie verstand es nicht, zumal alles in ihrem Kopf nur ein einziger Knoten war. Kein erkennbarer Faden. Alles nur ein Gewirr aus Informationen, welches sortiert werden musste.
Doch sie war nicht in der Position zu sortieren oder zu bestimmen. Das war sie nie. Heute war es nicht anders. In ihrem Herzen wusste sie, dass er es jedoch konnte. Er hatte die Macht. Ayaz.
Sie konnte es nicht übersehen. Durfte es nicht. In den letzten zwei Tagen war viel Unerklärliches passiert. Er war bei allem dabei gewesen, hatte über sie gesprochen. Sie, wer auch immer dies sein mochte.
Auch er war es, der sie gekränkt oder gar verletzt hatte. Gebrochen. Einmal hatte sie das Gefühl von Geborgenheit gespürt.
Sie wich weiter zurück. Fast war sie bei der Stelle angekommen, wo vielleicht die gesamte. Wahrheit auf sie wartete. »Könntest du vielleicht draußen warten – bitte?« Gebrechlich. So klang ihre Stimme. Obgleich sie das nicht wollte, obgleich sie es nicht verstand.
War das ein leises Schluchzen, das sie von sich gab? Nein, warum tat sie das? Sie durfte das nicht. Nicht trauern seinetwegen. Über eine Person, die sie fliegen ließ, nur um sie gleich darauf wieder fallen zu lassen.
Die Tränen trafen geräuschlos auf den Boden und schwemmten für eine kurze Zeit den Staub an einen anderen Punkt. Raven beobachtete, wie eine weitere ihren Weg nahm, ohne dass sie es verhindern konnte.
So wie sie nicht verhindern konnte, dass die Tränen sich auf ihrem Handrücken, als sie versuchte, sie wegzustreichen, grau färbten. In dem gleichen Grauton wie seine Augen. Mit dem gleichen Funkeln. Nur mit dem Unterschied, dass sie ihren Blick nur quälend darauf richten konnte. Es quälte sie. Ließ sie unwohl fühlen.
Er verfolgte sie.
Sie hasste es, zu ihren Gefühlen zu stehen. Für sie musste immer alles perfekt aussehen. Ein Lächeln, wenn auch ein falsches und alles war Perfekt. Zumindest für alle, die nicht in ihr Inneres blicken konnten. Wie oft hatte sie schon innerlich geschrien, aber ihrer Familie nie etwas gesagt. Jetzt könnte sie es nicht einmal mehr tun.
Und jetzt brauchte sie alle. Doch niemand war da. Da war nur sie und Ayaz. In einem Raum.
Ayaz, der sich immer noch nicht von der Stelle bewegt hatte. Raven, die nicht wollte, dass er sie so sah. Schluchzend. Weinend.
Trotzdem waren sie hier. Beide. Nein, hier durfte es kein Beide geben. Er war es, der in all das hier verstrickt war.
Sie brachte nur ein einzelnes Wort heraus. Schwächer als davor. »Bit – te« eine Pause zwischen dem einzelnen Wort, welches eigentlich so leicht auszusprechen sein müsste, verdeutlichte, wie wenig Kraft sie hatte. Auch wenn es zu Beginn hatte aussehen können, als würde sie überlegt haben, dieses Wort wirklich zu sagen.
Im Augenwinkel konnte sie Bewegungen ausmachen und ein leichtes Nicken, bevor die leisen Schritte wieder ihren Weg aus dem Raum fanden.
Das war es, was sie wollte. Es fühlte sich nicht richtig an.
Schniefend wandte sie sich der Vertiefung zu. Mit Bedacht ließ sie ihre Hand hineingleiten und holte den Inhalt heraus. Ihre Augen blickten auf das königsblaue Samttuch. Das stimmte nicht. Sie starrte.
Mit ihren Fingern strich sie über das blaue Tuch. Es zeigte keine Spuren von Staub oder Dreck. Das hieß, dass das Tuch erst vor ein paar Tagen hineingelegt wurde.
Ihre Hände zitterten, während sie das Tuch aufwickelte und den Inhalt entblößte. Der Gegenstand glitzerte Silber im sanften Mond und Sternenschein.
Erst war nur ein Teil eines schwarzen Displays zu sehen, schließlich ganz. Ein Handy. Keines, das sie kannte.
Sie nahm das Handy in die Hand und hob es eine Weile. Das Gewicht wirkte normal, aber die Last, die es eigentlich trug, die mentale Last, war enorm.
Dann drehte sie es um, begutachtete es von allen Seiten. Damit sie einen Hinweis fand. Wie sich herausstellte einen Hinweis, den es nicht gab. Denn jede Seite schien normal. Keine Auffälligkeiten.
Nur ein weißer Zettel war mit Tape an der Rückseite befestigt, den sie sofort abgezogen hatte, um weiterhin das Objekt untersuchen zu können.
Sie betätigte den Knopf an der Seite. Das Display erhellte sich für eine kurze Zeit bis das Licht wieder erstarb. Raven wartete. Was sonst sollte sie tun. Es war keine Frage. Es war eine Bestätigung, dass sie warten sollte. Musste.
Die Sekunden verstrichen. Nichts regte sich auf dem Handy. »Das ist okay«, flüsterte sie und versuchte es dabei ihrem Gewissen einzuflößen, welches ganz und gar damit nicht einverstanden war. Denn das war es nicht. Trotzdem versuchte sie so zu tun.
Jetzt nahm sie den weißen Zettel, der sorgfältig zu einem kleinen Turm gefaltet worden war, und faltete ihn Stück für Stück wieder auf.
Raven war bei dem letzten Schritt angekommen und atmete einmal durch. Aus dem halbierten Papier wurde schnell ein ganzes. Nachdem sie gesehen hatte, was es war, runzelte sie die Stirn.
Ihre Geburtsurkunde strahlte ihr mit all den Informationen, die sie beinhaltete, entgegen. Sie hatte viel erwartet. Wirklich. Aber nicht das.
Ihr Blick fiel auf eine von Bleistift umrundete Stelle. Daneben befand sich eine Notiz. Zunächst konzentrierte sie sich auf den eingekreisten Text. Es war ein Name. Der Name ihrer Mutter. Anscheinend. Denn das meinten die Vorgaben der Felder. Doch das war nicht ihr Name. Nicht der, den sie kannte. Nicht der, mit dem sie ihre Briefe für sie unterschrieben hatte. Und doch stand es hier. Schwarz auf weiß. Ebenso ihre Unterschrift.
Es gab zwei Möglichkeiten, die es in Betracht zu ziehen gab. Entweder die Worte mit dem ihre Mutter – wenn es überhaupt ihre Mutter war – ihre Briefe – ihre Hinterlassenschaft gezeichnet hatte, waren nur Lügen.
Aus für sie unergründlichen Gedanken.
Oder die einzige Lüge war, dass sie dachte, dass ihre Mutter sie geschrieben hatte.
»Bex« so lautete der Name ihrer Mutter. Der Nachname war immer noch derselbe. Wheatly. Nicht einmal einen Zweitnamen.
Jemand hinter ihr räusperte sich. Ein letzter Blick reichte, um ihr die kleine Notiz mitzuteilen. Liflic.
Ihr Bruder schrieb schrecklich. Seine Schrift war schwungvoll und kaum lesbar. In der Zeit, wo sie hier aufgewachsen war, hatte sie genügend Zeit gehabt, seine Schrift zu entziffern. Heute reichte ein einziger Blick. Trotzdem hatte sie das Gefühl, etwas falsch gelesen zu haben. Sie kannte das Wort nicht. Wusste nicht, was es bedeutete und noch weniger, ob dieses Wort wirklich existierte. Doch um darüber nachzudenken, brauchte sie Zeit. Die hatte sie nicht. Nicht jetzt.
Sie faltete das Blatt wieder und steckte es in ihre Hose. Ebenso das Handy. Wenn sie wüsste, was gerade um sie herum passierte, könnte sie sich weiter dem Blatt zuwenden.
Unschuldig – das war sie diesmal wirklich – drehte sie sich um. Sie wurde ertappt. Wobei genau konnte sie sich selbst noch nicht erklären. Es musste jedoch etwas sein, was Seth nicht preisgeben wollte. Nicht jedem. Er wollte es verstecken.
Das letzte Mal hatte sie sich geirrt und seine Hände waren leer gewesen. Diesmal hatte er etwas gefunden. Das Tuch. So wie sie es erwartet hatte. Ihre Hand streckte sich autonom nach vorne und deutete darauf. »Warum hast du danach gesucht?« Mit wenig Kraft rappelte sie sich auf und lief langsam auf ihn zu.
»Ein Erbstück.« Seine monotone Stimme schrie förmlich danach sie zu provozieren. Wie konnte er nur so ruhig sein?
Sie wollte ihren Mund öffnen, doch Ayaz hob seinen Finger dicht an ihre Lippen und forderte sie mit stummen Mundbewegungen dazu auf, nichts zu sahen. Er schien etwas in der Art wie: Sei leise zu formen.
Es war ihr egal. Alles. In dem Moment. Er sollte ihr gehören. »Waren meine Eltern oder Seth noch da, als du kamst? Wie bist du hier überhaupt hereingekommen, und warum?« Fragen über Fragen. Auf eine Antwort würde eine weitere Frage folgen. Sie hoffte, dass sich dadurch eine Ordnung in den wahllosen Fäden in ihrem Kopf bildete.
Er hatte die Macht dazu, denn er kannte die Antwort zu all ihren Fragen. Vorerst. Bedrohlich kam sie auf ihn zu. Sie wollte Antworten. Jetzt.
Es war Zeit dazu. Die Kraft nahm sie aus ihrer endlosen Trauer. Sie wiederholte die Fragen. Schrie. Riss sich von seiner Hand weg, als er versuchte, sie zu beruhigen. Das konnte niemand. Das Schreien tat gut. Es schmerzte in ihrem Hals. Doch nach langer Zeit des Schweigens wehrte sie sich. Befreiend wirkte es. Auf eine spezielle Art und Weise.
Dann vernahm sie einen Knall. Eine Explosion.
Nein, ein Schuss.
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