𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝚅𝙸

Die Luft wurde mit einer sanften Steinschicht begleitet und ließ sie husten.

Bei jedem Atemzug merkte sie deutlicher, wie sich der Steinregen nicht nur fürs Auge sichtbarer machte, ebenfalls auch in der Luft war er zunehmend zu bemerken. 

Hustend griff sie nach ihrer Schwester. Sie wusste nicht wirklich, was sie tun sollte, jedoch riet ihr Instinkt ihre Schwester näher an sich zu drücken. Vielleicht hatte sie so mehr das Gefühl die Kontrolle zu haben, weil sie ihre Schwester in unmittelbarer Nähe zu wissen wusste. 

Ohne eine Ahnung davon zu haben, was passierte, sah sie sich selbst – ihre Schwester mit Armen umschlungen – in der Spiegelung des Fensters. Es gab viele Momente, die sie gerne übersprungen hätte in ihrem Leben, doch dieser war mit diesen nicht zu vergleichen. 

Es war einen Moment, den man nie erleben wollte. So wie vieles in ihrem Leben. Aber dies war anders. Komplett anders. 

Ihre Augen huschten zwischen der Tür und der Decke umher. 

Langsam begannen sich die Steine von der Decke zu lösen und vielen mit einem lauten Geräusch zu Boden. Der Knall war laut. Aber nicht laut genug. Zumindest nicht so laut wie ihr Herz. Denn das Geräusch hätte so leise sein können, dass man es kaum gehört hätte, das Kreischen des Steines und das Ächzen des Bodens waren eine Pein in ihren Ohren. 

Immer wieder versuchte sie abzuschätzen, wie wahrscheinlich der Absturz eines Steines auf sie wäre, wenn sie sich auf die Türe zu bewegen würden. Mit jeder Minute oder Sekunde, die verstrich, wurde die Wahrscheinlichkeit zunehmend höher. 

Jetzt oder nie, dachte sie sich. Sie war schon bereit gewesen, den Arm von Kyra zu packen, doch als sie sich aufgerappelt hatte, zitterten ihre Beine mit dem Boden. Sofort wurden ihre Beine wieder weggezogen und sie fiel unbeholfen auf den Boden zurück. 

Raven nahm einen tiefen Atemzug, während sie mit ansehen musste, wie immer mehr Gestein von der Decke krachte und nur wenige Zentimeter neben ihren Körpern aufkam. 

Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie hatte sie fest gepackt, verlieh ihr allerdings auch Sicherheit. Ein Seitenblick verriet ihr, dass es ihrer Schwester ähnlich ergehen musste. 

Staub rieselte auf ihre schwarzen Haare nieder und ihre Vorahnung bestätigte sich, als ein Stein direkt auf sie zu flog. Etwas Hartes wurde ihr in die Hüfte gerammt. Ihre Augen zuckten zusammen. 

Sie hatte sich schon tot gesehen, doch als sie ihre Augen öffnete, schaute ihr ein monotones Gesicht entgegen. 

Die gleiche schmale Form, die gleichen ernsten Gesichtszüge und die gleichen grauen, kalten Augen, die ihr erneut Gänsehaut verliehen. Diesmal mit einem leichten funkeln.  

Alles passte und das alles ließ sie für einige Sekunden die Realität vergessen. 

»Danke« hauchte sie so leise, dass nur er es verstehen konnte. Keine Regung war auf seinem Gesicht zu vernehmen. Er wandte sich einfach von ihr weg und schaute zurück. 

Mit wässrigen Augen beobachtete sie, wie er Kyra auf die Beine half und dann drängend mit seinen Augen zu dem Ausgang wies. Als Raven sich nicht bewegte – und ihre Beine noch immer unkontrolliert zitterten – packten sie die schützenden Hände erneut und zogen beide hinter sich her. 

Es war mehr ein Sprint, als, dass sie liefen, doch es stellte sich als nützlich heraus. Der Boden knarzte bei jeder Bewegung gefährlich. An der Treppe fehlte beinahe das gesamte Geländer einschließlich einzelner Stufen, die unter der schweren Last des Gesteins zerbrochen waren. 

In der Dunkelheit suchte sie mit halb offenen Augen die Hand ihrer Schwester und fand sie gleich darauf. 

Um einmal Luft zu holen war keine Zeit, deswegen rannte sie die Treppe fast herunter und achtete nur wenig auf das herumliegende Geröll. Ein Fehler, wie sich bereits nach wenigen Sekunden herausgestellt hatte. 

Doch sie wollte hier raus. Keine einzige Sekunde, geschweige denn zehn oder mehr konnte sie hier verbringen. Es würde sie umbringen. Verrückt machen. 

Ihre Füße blieben an einer halb eingestürzten Stufe hängen. 

Während einer einzelnen Stufe schaffte sie es noch ihr Gleichgewicht zu halten, doch danach berührten erst ihre Knie, dann ihr Gesicht, die von einer Steinschicht überzogene Treppe. 

Sie merkte wie ihr Knie anfing zu prickeln, bis es zu einem qualvollen Brennen wurde, welches lange anhalten sollte. 

Warm tropfte es von ihrem Knie auf die Stufe. Ihr Kopf hatte sogleich angefangen zu pochen. Benommen blieb sie liegen. Ihr Kopf versagte. Was sollte sie tun? 

Ihr Kopf pulsierte in einem fortwährendem Tempo und sie konnte klar das Rauschen ihres Blutes vernehmen. 

In ihren Ohren hörte sie eine Stimme. Für sie war sie weit weg. Als wäre ein ganzer Ozean zwischen ihr und der Person, die dies sagte. Sie verstand nicht einmal, worum die Person sie bat. Nur den drängenden Unterton hatte sie bemerkt. 

Wieder packte sie eine Hand. Diesmal an den Händen. Das Blut, welches sie erst jetzt bemerkt hatte, klebte halb feucht an ihren Händen. 

Die Hände drückten sie mit einer gewaltigen Kraft nach oben. Für einen weiteren Moment hatte sie das zerstörte Haus vergessen, doch es fiel ihr schlagartig ein, als der Boden erzitterte. Fast wäre sie hingefallen, doch die Hände hielten sie und ihre Schwester oben. Es waren schützende Hände. Schon viel zu oft hatten diese sie heute vor dem Tod bewahrt. 

 »»————- ★ ————-«« 

Die kühle Luft umhüllte ihr Gesicht. 

Sofort entlockte ihr die frische Luft einen tiefen Atemzug. Sie hatte überlebt. Ihre Schwester ebenfalls. Doch die malerische Landschaft, die das kleine Dorf schmückte, schockierte sie. 

Mehrere Felder hatten Feuer gefangen und brannten lichterloh. Sie meinte, die Hitze spüren zu können und der unangenehme Geruch hatte sich schnell verbreitet. 

Funken flogen in die Höhe und wurden von der leichten Brise zu einem neuen Punkt geweht, wo nach einigen Sekunden die Flammen Futter fanden. Schnell breitete sich das Feuer über den Feldern aus und hatte kein Erbarmen. 

Das Pochen in ihrem Kopf – dazu das Rauschen ihres Blutes, welches sie zu hören vermochte – und das Brennen ihres Knies schmiegte sich an die zerstörerische Atmosphäre und verlieh ihnen etwas Besonderes. Negativ oder Positiv.

Die Häuser waren ebenfalls fast alle eingestürzt. Aus manchen konnte sie Qualm emporsteigen sehen. Nur wenige Menschen tummelten sich auf dem Platz. Die Mehrheit davon Kinder. Bei der Erkenntnis, wie wenige Leute sich außerhalb der Häuser befanden, zog sich ihr Magen zusammen. 

Ihr wurde übel und sie schrie. Es waren Namen. Namen, die ihr etwas bedeuteten. 

»Seth, Mum, Dad!« Leute drehten sich zu ihr um und starrten sie regelrecht an. Ihr Blick aber galt nur dem Haus, welches immer mehr zerstört wurde. 

Tränen liefen ihr langsam über die Wangen, als sie ihre Füße in Bewegung setze. Sie gehorchten nur ihrem Herzen. 

Die Worte, die sie vor kurzem noch laut geschrien hatte, konnte sie nur noch leise wispern. 

Ihre Beine hatten sie direkt vor das Gebäude getragen. Mit großen Augen schaute sie an den Wänden hoch. 

Viele Risse zogen sich durch die gesamte Mauer. Daran hing ihr Blick jedoch nicht. Er blieb an einem der zersprungenen Fenster hängen. Fast schon sehnsüchtig. 

Sie wollte weiterlaufen, doch ein Schatten stellte sich ihr in den Weg. »Alle Art von Lebewesen, die sich dort noch befinden – sind tot.« Er sezte eine taktvolle Pause, bevor er die grauenvollen Worte über die Lippen brachte. 

Er war taktvoller, als sie es je gedacht hatte, dass er sein konnte.

Eine Strähne war ihm in die Stirn gefallen und ließen ihn noch besonderer  wirken. Er, dessen Namen sie nur von dem Tuch kannte. Er, der sie jedes Mal gerettet hatte und er, der sie angeschrien hatte. Und trotzdem konnte sie nicht aufhören ihn anzustarren.

Die Worte schmerzten. Es ausgesprochen zu bekommen, dass ihre Eltern und Seth tot waren. »Warum hast du sie nicht gerettet?« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie sich an ihm vorbei. Sie glaube ihm nicht. Sie konnte es einfach nicht. 

Auch wenn sie hier nie wieder herauskommen würde – auch wenn, das ihr letzter Moment war. Ein letztes Mal blickte sie zurück. Ihr entgingen nicht die unschuldigen Augen ihrer Schwester. 

Schwer seufzend zwang sie ihre Beine noch einmal zurückzulaufen. Das brennen erinerrte sie daran, was vor einigen Minuten noch passiert war und in welche Gefahr sie sich gleich wieder begehen würde.

Sie hatte geseufzt. Weil es ihr schwer fiel alles – ihre Schwester –loszulassen.

Ihre Arme schlangen sich um den kleinen Körper ihrer Schwester. Immer fester bis sie das Gefühl hatte sie zu erdrücken. »Warum tust du das?«, fragte Kyra und schaute sie dabei direkt an. 

Eine Antwort hierzu gab es nicht. Nicht wirklich. Es war kompliziert. Es – die Beziehung zwischen ihr und Seth. 

Ihre Hände ließen ab. Es schmerzte, doch würde sie jetzt nicht gehen, würde sie es nie können. Loslassen

Mit schwerem Herzen drehte sie sich um und lief wieder auf das Gebäude – nun wirkte es eher wie eine Ruine – zu. »Du wirst dort niemanden finden« Ayaz stellte sich ihr erneut in den Weg und schaute sie unscheinbar an. Dabei funkelten seinen Augen. 

Raven versuchte wegzublicken. Ihm zu widerstehen. Seinem Charisma zu widerstehen. Sie versagte. Wie so oft schon. Die grauen Augen waren so schön, dass sie sich darin verlor. »Es hat keinen Sinn mich aufzuhalten, Ayaz«, entgegnete sie ihm schuldbewusst. 

Er hatte sie schon zweimal gerettet und sie begab sich weiter in Gefahren. Sie vertraute in ihn. Sein Gesicht stand unwillkürlich unter ihrer Beobachtung. Somit entging ihr nicht das Zucken seiner Mundwinkel bei der Erwähnung seines Namens. 

»Das Tuch« es war nur ein Flüsterton, den er von sich gab. So leise, dass sie glaubte, die Worte waren nicht wirklich für sie bestimmt gewesen. Trotzdem nickte sie. Sie konnte sehen, wie ihn dies aus seiner Fassung gebracht hatte. »Wo ist es?« 

Jetzt starrten seine Augen sie an und Raven wusste; Ihnen würde nichts entgehen. Sie durchborhten sie. »Irgendwo in diesen Ruinen.« Sie verstand nicht. Was war so wichtig an dem Tuch. Er hatte es ihr doch gegeben. 

Er hatte wieder seine Fassung gewahrt, denn nun klang seine Stimme wieder fest: »Du hast recht, ich kann dich nicht aufhalten dort hineinzugehen, aber ich kann mitkommen« Es war offensichtlich, dass er nicht ihretwegen mitkam. Doch sie hatte nichts einzuwenden, deswegen stieg sie über einen kleineren Stein, um auf den Boden der ersten Etage zu gelangen. 

Ayaz folgte ihr dicht, denn sie konnte seinem Atmen nah an ihrem Nacken spüren. Das Erzittern der Erde hatte aufgehört und auch die Blitze waren weniger geworden. 

Zuerst wollte Raven einfach blindlings durch die Räume laufen und hoffen, dass sie nicht wieder hinfallen würde, die Alternative, die sich ihr bot, stellte sich allerdings als besser heraus. Ayaz hatte sein Handy aus der Hosentasche genommen und die Lampe aktiviert. 

Jetzt, da sie mehr Zeit hatte, konnte sie alles genau begutachten. 

Vor weniger als einem Tag hatten die Wände noch einen soliden Eindruck gemacht. 

Humpelnd bewegte sich ihr Körper stockend auf die Treppe zu. Er, dicht auf ihren Fersen. Wie ein Schatten. 

Raven spürte die Wunde jedes Mal klar, wenn sie sich bewegte. 

Es kostete sie einige Anstrengung, sich selbst über zwei eingebrochene Stufen herüber zu hieven. 

Im Lampenschein bildete sich eine kleine Wolke, nachdem sie die Luft mit ihrem Mund ausgestoßen hatte. Etwas in ihr ließ sie zögern. 

Wenn Ayaz recht hatte, würde sie hier nichts auffinden. Genau dies ließ sie zögern. Wenn er recht hatte, wo war dann ihre Familie. Es würde schmerzen. Alles. Alles, was sie dort erwarten konnte. 

Tod oder die Ungewissheit, wo sie sich befanden, mit einem Funken Hoffnung, dass sie lebten. Diese Antwort – auch wenn sie ihr den Atem rauben würde, befand sich direkt hinter diesen zwei Türen. 

Kälte durchzog ihren Körper noch bevor sie die Klinke in die Hand nahm. Leicht zitternd schwang die Türe auf und fiel dann zu Boden. 

Einige Sekunden lang beobachtete Raven das Spektakel, bevor sie ihren Blick davon abwenden konnte. Nun schweifte er orientierungslos im Zimmer umher. Jegliche Schränke waren von Steinen getroffen und zertrümmert auf den Boden befördert worden. 

Die gesamte Mauer war an einer Seite aufgerissen und gab den Blick auf die Felder frei. Scherben lagen überall verteilt. »Sie sind nicht hier.« Die Worte auszusprechen war nichts als die Wahrheit. Doch es wirkte surreal. Anders ließ es sich nicht ausdrücken. 

Die Worte über ihre Lippen zu bringen, sie wirklich zu sagen – wenn auch nur zu sich selbst – bestärkte ihre Emotionen. Ihr war es egal, was um sie herum passierte. Ihr war es egal, dass er ihr nicht zuhörte. Im Moment. So wie sie im Moment einfach nur da stehen konnte. 

Nicht weil sie Angst hatte, sondern weil sie sich an alles erinnerte. Sie versuchte es. Die ganzen vergangenen Momente. Für alle gab es einen Platz in ihrem Kopf. Und jetzt war es Zeit, sie alle noch einmal zu erleben. In ihrem Kopf. 

Minuten verstrichen, in denen sie einfach nur in alten Erinnerungen schwelgte. Erinnerungen, die zu schön waren, um sie noch einmal zu erzählen. 

Das Zimmer ihrer Eltern war nicht ihr einziges Ziel gewesen. Nicht ihre einzige Hoffnung. Doch bevor sie sich umdrehte, gab ihr Verstand nach. Der Verstand, der ihr sagte, dass ihre Eltern nicht hier waren. 

»Mum, Dad?«, das leise Flüstern war wohl kaum weiter als bis zu dem Bett zu hören. Zu mehr war sie nicht imstande. Keine Antwort. Oder zu leise fuhr es ihr durch den Kopf. 

Sie redete es sich immer noch ein. Ihre Beine drehten sich schon Richtung Ausgang, doch sie wusste, ihr Herz blieb hier. Ob sie es ihr gefiel oder nicht. 

 »»————- ★ ————-«« 

Jegliche Diele, auf der sie sich befand, ächzte verdächtig. Eine Spur von Seth gab es nicht. 

Die Verwüstung sah hier ähnlich aus, wie in dem Zimmer ihre Eltern. Raven wollte sich nicht ausmalen, wie ihr Zimmer aussah. 

Es gab keine signifikanten Unterschiede, wie sie versuchte festzustellen. 

Das war ihre Meinung gewesen, bevor sie unabsichtlich etwas gefunden hatte. 

Mit ihren Schuhen musste sie einen Mechanismus ausgelöst haben, denn in ihrem Ohr konnte sie ein klares Klick-Geräusch hören. 

Ihre Augen suchten hektisch den Boden ab – bis ihre Augen auf die Trümmerteile des Schrankes flogen. Sie kniete sich daneben und hob einzelne Teile an, um den Schrank genauer zu begutachten. 

Erst als sie alles weggeräumt hatte, gab sich ihr ein Blick auf einen Hohlraum, der wohl unter dem Schrank gewesen sein musste, frei.

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