𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝚅
Ihre Beine zitterten, als sie die kleinen Stufen zu ihrer Haustüre erklomm. Nicht aus Kraftlosigkeit. Zumindest machte die Kraftlosigkeit nicht den gesamten Teil davon aus. Es waren vielmehr die Momente, die sie gerade erlebt hatte. Zu viel auf einmal und viel zu absurd als, dass sie ihrem eigenen Verstand glauben könnte.
Und doch konnte sie sich noch genau erinnern. An alles. Jedes kleinste Detail hatte sie in sich aufgenommen. Auch an seine grauen Augen, die nichts verrieten, konnte sie sich bestens erinnern. In den Augen, in denen sie sich verlieren könnte, hätte er sie nicht angeschrien.
»»————- ★ ————-««
»Geh – bitte!« Sein Tonfall war verletzend und brach ihr das Herz. Er war nett zu ihr gewesen, aber jetzt? War dies vielleicht seine richtige Seite?
Raven blickte ihm direkt in die Augen. Sie verstand nicht. Erst rettete er sie und jetzt verriet er sie. Verrat. Das einzige Wort was ihr hierzu einfiel.
Seine Hand wies auf den Wald, der die Lichtung umschloss. Dabei war sein Ärmel hochgerutscht. Sie konnte einen Blick auf seinen Arm werfen, bevor er seine Hand wieder herunternahm.
Eine Zahl. 1-1-0. Doch als sie in seine Augen blickte, wusste sie, dass es Zeit war zu gehen. Die ganze Ausdruckslosigkeit war verschwunden und machte den Blick auf seine wahren Augen frei. Voller Wut. Es hatte keinen Sinn, zu bleiben. Er würde immer nur das Gleiche sagen.
»Renn. 10-9-8« Er zählte. Was würde passieren, wenn er bei null angekommen war. Sie wollte es nicht wissen. Nicht, wenn er so bedrohlich auf sie blickte. Sie wollte nicht mehr in seiner Nähe sein.
Ihre Beine wirbelten. Blindlings rannte sie durch die kühle Nacht. Schlamm spritzte ihr entgegen. Immer wieder rutschte sie aus. Ihre Kleidung war fast gänzlich mit Schlamm bedeckt. Als sie ein weiteres Mal hinfiel, blieb sie liegen.
Sie konnte nicht mehr. Sie wusste nicht einmal mehr, wo sie hier war. Im Wald. Immer noch. Seit Stunden. Oder auch Minuten. Ihr Zeitgefühl war verloren. So wie sie selbst gerade. Verloren. Ohne Aussicht auf eine Zukunft. Eine Zukunft mit ihrer Familie.
Raven spannte ihre Hände an und grub sie in die Erde. Sie waren sowieso schon beschmutzt. Doch so konnte sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Ohne jemanden zu verletzen. Jemanden zu verletzen, so wie er es bei ihr getan hatte. Gebrochen wurde sie. Stück für Stück. Ihr Retter war zu ihrem Gefürchteten geworden. Sie wusste nicht einmal, warum.
Jedoch sagte ihr etwas, dass es nicht sein Wille gewesen war. Oder sie hatte sich gewaltig geirrt. Es war ja nicht das erste Mal, dass ihr Gespür gegenüber Menschen versagt hatte.
Ein Schrei hallte durch den Wald, direkt auf sie zu. Ihr Körper war sofort in Alarmbereitschaft. Er hatte sich weit weg angehört. Doch das konnte täuschen. Raven sammelte ihre gesamte Kraft und zog sich an einem Baum hoch.
Mehrere Sekunden blieb sie dort. Angelehnt und völlig erschöpft. Ihre Ärmel waren aufgerissen. Regelrecht zerstört. An manchen Stellen brannte ihre Haut und hatte leicht begonnen zu bluten. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie ein weiteres Mal den Schrei vernahm. Er klang näher. Dichter und bedrohlicher. Voller Kraft.
Der Schrei davor war angstvoller gewesen. Jetzt hatte sie nur noch einen Unterton von Bedrohlichkeit oder Macht.
Ein Ast brach. Dann hörte sie das Rascheln mehrerer Blätter. Sie wirbelte herum, mit den Augen versuchte sie in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Es gelang ihr nicht. Sie konnte sich einzig und allein auf ihr Gehör verlassen. Nicht einmal das, da sie nur wie betäubt da stehen konnte und in die unendliche Nacht schaute.
Die Nacht, in der sie sterben würde. Sterben, ohne zu wissen, was passiert war. Sie würde sterben durch jemanden, den sie kannte oder zu kennen geglaubt hatte.
Ihr Herz raste. Endlos drehte sie sich in Kreisen. Als würde es etwas bringen. Sie konnte ihnen nicht entkommen. Nicht heute. Wenn sie es heute nicht schaffte, würde sie morgen noch mehr scheitern.
Bei einem ihrer vielen Umdrehungen bemerkte sie ein Licht. War dies das Licht am Ende eines jeden Tunnels? Tunnel, in ihrem Fall der Tod.
Seelenruhig verließ sie ihren Platz an dem Baum und lief einfach auf das Licht zu. Niemand konnte ihr etwas antun. Nicht, wenn sie bereits tod war.
Das ständige Knacken von Ästen begleitete sie auf ihrer Reise. Sie ignorierte die Geräusche nicht. Im Gegenteil, sie nahm sie intensiv in sich auf und lauschte jedem einzelnem. Aus der vorher noch empfundenen Bedrohung wurde ein lieblicher Begleiter.
Sie mochte die Idee, dass es ihre Mutter war, die sie begleitete. Wenn dies wirklich der Tod war, wollte sie nichts anderes mehr. Es fühlte sich herrlich an. Nie hatte sie so etwas gefühlt. Für sie war dieser Moment etwas ganz Besonderes.
Auch wenn sie die Vermutung nie bestätigen konnte, da ihrer Mutter von den Tiefen des Waldes verschluckt war, wusste sie, dass sie recht haben musste. Das spürte sie.
Sie ignorierte die Dornen, die sich an ihrer Haut verhakten und Blutspuren hinterließen. Oder das ständige Stolpern, denn sie wusste, bald würde sie nur noch glücklich sein.
Ganz falsch lag sie nicht. Sie war nie an den Toren des Todes angekommen. Noch nicht. Doch jemand hatte sie geführt. Nicht dorthin, wo sie geglaubt hatte zu gehen. Nein. Sie hatte eine weitere Chance bekommen. Eine Chance, zu leben. Und diese würde sie mit Sicherheit ausnutzen.
»»————- ★ ————-««
Raven starrte die Türe zu ihrem Haus an. Sie hatte keinen Schlüssel, denn ihr gesamter Rucksack war in dem Besitz von Jed. Ihre Familie würde vermutlich schlafen.
Das Klicken eines Schlosses machte sich bemerkbar, nachdem die Türe hinter ihr hörbar aufgeschwungen war.
»Wo warst du?« Sie wusste, wer hinter ihr stehen würde, wenn sie sich umdrehte. Genau deswegen blieb sie mit dem Rücken gedreht zur Tür. Sie würde es niemals schaffen, in seine Augen zu blicken.
»Unterwegs« Sonst mache ich dich fertig.
»Du erwartest nicht wirklich, dass mir das reicht.« Seine Stimme war brüchig. All die Fröhlichkeit. Sie hatte sie vertrieben. Vielleicht für immer. Mit Sicherheit konnte sie es nicht sagen.
»Es tut mir leid – aber ich kann nicht.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Fast hatte sie Bedenken, er hätte sie nicht gehört, doch die Nacht war so still, dass man vermutlich auch geflüsterte Wörter aus dem Wald gehört hätte.
»Weißt du eigentlich, wie scheiße es mir gerade geht?« Raven wusste nicht, woher sie die Kraft nahm. Sie war einfach da. Einmal wollte sie die Ungerechtigkeit aussprechen. Sie hatte sich umgedreht und starrte in seine Augen. Sie funkelten. Doch sie bereute es nicht, ihn angeschrien zu haben.
»Und du denkst, dass alle außer dir ein glückliches Leben führen? Wenn ja, hast du die Welt noch nicht verstanden.« Er schrie. Lauter als, dass sie es ertragen konnte. Sie presste ihre Hände gegen die Ohren. Es brachte nicht viel, denn nur ein Teil seiner Worte waren gedämpft. Klar hören konnte man sie jedoch immer noch.
»Willst du jetzt Mitleid?« Raven konnte ihn kein bisschen verstehen. Einmal musste sie im Mittelpunkt stehen. Ein einziges Mal. Nur, um endlich mal jemanden zu sagen, wie es ihr ging. Davor hatte sie sich nie getraut. Die Zeiten hatten sich geändert.
»Nein, denn ich wäre naiv, wenn ich glauben würde, von einer egoistischen Person wie dir Mitleid zu bekommen. Ich möchte lediglich, dass du meine Familie respektierst.« Egoistisch. Sie? Niemals. Sie hatte fast nie an sich gedacht.
Er wollte sich schon umdrehen, doch bevor es dazu kam, packte sie ihn an der Schulter. Er zog sie weg, drehte sich aber um. Erst jetzt sah sie die Augenringe um seine Augen. Sie waren in dem Schein der Straßenlampe nicht zur Geltung gekommen.
»Wo sind Mum und Dad?« Ihre Stimmte, hatte sie gesenkt. Wer auch immer da draußen war, hatte definitiv zu viel gehört. Niemand musste wissen, dass sie und ihr Adoptivbruder stritten. Heftiger als je zuvor.
»Sie suchen dich.« Die Worte waren eine starke Last, unter der sie zusammenbrach. Ihre Beine begannen wieder zu zittern, dieses Mal noch stärker.
»Wie lange?« Seth schnaubte. Er glaubte ihr wohl nicht. Doch es interessierte sie.
»Seit Stunden.«, antwortete er knapp. Seine Haare wirkten unordentlich und er müde.
»Warst du die ganze Zeit wach?« Ihre Stimme bebte bei jedem einzelnen Wort und war nur ein leises Gemurmel.
»Könntest du schlafen, wenn deine Schwester verschwindet?« Das Gespräch beruhigte sich allmählich, auch wenn sie immer noch den vorwerfenden Ton in seiner Stimme erkannte.
»Dann war wohl alles nur verschwendete Zeit in deinen Augen.« Sie schaute ihm direkt in die Augen und versuchte aus ihnen zu lesen. Normalerweise war Seth ein offenes Buch und man musste ihn nur anschauen, um zu erahnen, was er dachte. Heute war es anders. Heute war alles anders. Die ganzen Gewohnheiten, die sich wohl oder übel in ihr Leben eingeschlichen hatten, waren verändert worden. Es war kein normaler Tag und es würde auch nie wieder einen normalen Tag geben.
»Denkst du das wirklich?« langsam nickte sie. Plötzlich legten sich seine Arme um sie und er drückte sie fest. »Du bist meine Schwester Raven. Jede einzelne Sekunde hat sich gelohnt, denn jetzt bist du hier.«
Die Umarmung hätte Stunden andauern können. Sie tat gut. Raven wollte, dass Seth sie nie wieder loslässt. Geborgenheit hatte sich dadurch in ihrem Körper frei gemacht.
Alles hatte ein Ende. Diese Umarmung auch. Seth ließ seine Arme sinken und bat sie mit einer Handbewegung ins Haus. Das Schließen der Türe war deutlich zu hören.
Die Dielen knarzten bei jedem einzelnen Schritt und waren ihr ein ständiger Begleiter.
Im leichten Schein der Lampe begann sie das blaue Tuch, welches immer noch um ihre Hand gewickelt war, zu mustern. Ohne es abzulegen würde sie nicht viel erkennen, außer die Erkenntnisse, die sie bereits davor gehabt hatte.
Langsam wickelte sie das Tuch von ihrer Hand und ließ es dann in ihre Hand gleiten. Faszinierend schaute sie darauf. Die Verzierungen hatten sich tatsächlich als Buchstaben und schließlich als Name entpuppt.
Bis auf kleine getrocknete Blutflecken schien das Tuch sauber. Raven konzentrierte sich wieder auf den Namen, der in geschwungenen Lettern hinein gestickt sein musste.
Ayaz.
»»————- ★ ————-««
Raven wachte auf. Es war immer noch mitten in der Nacht. Dies schloss sie aus dem dunklen Nachthimmel, der immer noch über der Welt lag.
Sie schaute sich in ihrem Zimmer um. In ihren Augen gab es nichts, was sie hätte wecken können, außer ein Geräusch. Sie lauschte in die Dunkelheit ihres Zimmers. War dort jemand?
Sekunden, die sich in Minuten wandelten, verstrichen. Nichts hatte sich verändert.
Plötzlich ein ohrenbetäubender Knall und ein gelblicher Blitz, der ihr Zimmer ausleuchtete. Ihrem Mund entfuhr ein Schrei, als der Blitz sie einen Blick auf einen Menschen werfen ließ. In ihrem Zimmer. Er hatte sie angestarrt. Regelrecht beobachtet.
Ein weiterer Blitz erhellte den mäßig kleinen Raum. Raven schaute auf dieselbe Stelle, wo der Mann gestanden hatte. Er war verschwunden.
Flink rannte sie zu ihrer Türe und versuchte das Licht anzuschalten. Es gelang ihr nicht. Ihr Puls raste, als sie an Kyra dachte. Was, wenn der Mann auch bei ihrer Schwester war. Raven nahm immer tiefere Atemzüge. Sie musste. Ansonsten – so ihr Gefühl – würde sie ersticken.
Mit schnellen Schritten – fast schon rennend – gelang sie bei der Türe ihrer Schwester an. Es kostete sie einige Überwindung den kalten Türgriff herunterzudrücken.
Knarzend schwang die Tür weit auf. Auch hier war der Raum dunkel. Bis auf ein kleines Licht, welches orientierungslos herumschwenkte. Dann traf das Licht genau in ihr Gesicht.
»Raven!« hörte sie die erleichterte Stimme ihrer Schwester. »Das war doch nicht normal.« Raven musste ihrer kleinen Schwester zustimmen. Es konnte kein Gewitter sein. Der Knall hatte sich viel zu verschieden angehört.
Ohne Vorwarnung wurden sie von einem weiteren Knall zu Boden gerissen. Die beiden lagen fast vollkommen gestreckt am Boden. Sie zog Kyra näher zu sich, als sie bemerkte, wie sanft ein kleiner Steinregen von der Decke auf sie herunterrieselte. Der Boden unter ihnen fing an, sich unregelmäßig zu bewegen. Beide schrien.
Ihr erster Gedanke; die Welt geht unter.
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