𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙸𝚅
Eine laute Stille umgab sie. Kein einziges Geräusch störte ihr Gehör. Ganz anders sah es in ihrem Inneren aus.
Schließlich waren ihre Hände und Beine immer noch mit Klebeband fixiert. Ihr Inneres tobte. Aus Wut, Verzweiflung oder Trauer. Sie wusste es nicht. Vielleicht wirkten auch alle diese Faktoren zu diesem einen Sturm.
Ein Sturm, der sie weinen ließ. Nicht schluchzend. Sondern einfach nur leise in die Stille hinein. Als wäre sie selbst ein Teil davon. Die Stille selbst.
Wie sollte sie hier jemals wieder herauskommen? Dieser Raum wurde seit Jahren nicht mehr benutzt. Niemand würde sie finden. Außer vielleicht ein paar Mäuse.
Die Gefangenschaft würde sie verrückt machen. Wenn sie es nicht schon tat. Es war keine körperliche Qual, eher eine seelische Pein. Ein Schmerz, der sie verrückt werden ließ und sie daran hinderte, klar denken zu können.
Ihre Gedanken drehten sich nur um eines – die Folgen. In ihrem Kopf konnte sie sich nur das schlimmste ausdenken. Verhungerungstod, Verdursten, seelische Schäden. Das alles war nur ein Bruchteil von dem, woran sie sterben könnte. Es gab etliche Möglichkeiten. Viel zu viele. Und alle davon qualvoll.
Die einzige Flamme Hoffnung war erloschen, nachdem sie feststellen musste, dass die Türe verschlossen war. Selbst wenn nicht Klebeband um ihre Gliedmaßen gewickelt wäre, hätte sie nicht die geringste Chance.
Ihr Herzschlag beruhigte sich nicht mehr und raste. Sie musste immer tiefer atmen, damit sie das Gefühl bekam, zumindest ein wenig Luft zu bekommen.
Ihre Augen blickten ratlos im Raum umher. Es musste doch irgendetwas geben, womit sie ihre Fesseln durchtrennen konnte. Und wenn es nur ein Stück Holz war und sie Ewigkeiten brauchen würde.
Die Dielen knarzten zwar, ließen sich jedoch kein Stück verschieben, als Raven sich wieder hinsetze und probeweise mit den Händen hinter dem Rücken an den Dielen rüttelte.
Das einzige Fenster, welches in diesem Raum existierte, war mit Brettern abgedeckt. Die Nägel hingen schief und nur halbherzig reingehämmert an den Brettern. Als würden sie jeden Moment herunterfallen.
Ein Lagerregal zierte die Wand. Darauf verschiedene Porträts. Für sie war dies ein komisches Bild, da die Rahmen der meisten Bilder edel verziert aussahen und das nicht zu diesem schäbigen Raum passte.
Auf dem größten Porträt war eine strahlende Frau abgebildet. Sie schaute frontal in die Kamera und trug einen weißen Blazer. Darunter konnte man nur schemenhaft ein champagnerfarbenes Oberteil erkennen. Die schulterlangen Haare waren streng zu einem Zopf gebunden. Mit geschwungener Handschrift hatte jemand einen Untertitel hinzugefügt. 3-3-6.
Raven wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber im Moment war es ihr egal. Sie wollte einfach weg. Abstand. Zu allem.
Ihre Augen musterten ein zweites Mal die Umgebung. Schließlich musste sie feststellen, dass die Nägel an dem Fenster die beste Alternative darstellten. Doch was wäre, wenn das nicht klappte? Dann wäre sie wirklich verloren. Und selbst wenn. Die Türe stellte ein großes Problem dar. Denk einfach nicht daran. Erst, wenn es so weit ist.
Hüpfend bewegte sie ihren Körper zu ihrem mutmaßlichen Retter. Wie lange war sie schon hier? Es hatte sich wie Stunden angefühlt. Doch wie viele Minuten waren wirklich vergangen? Mit dem Rücken stellte sie sich zu dem Fenster und schaute angestrengt über den Rücken.
Sie drückte das Klebeband gegen den Nagelkopf. Hoffnung entflammte sich in ihr, als sie ein Geräusch vernahm, welches sie wie das Reißen von Klebeband anhörte.
Metall auf Holz. Viel zu spät realisierte sie, dass der Nagel heruntergefallen war. Geradewegs in einen Spalt zwischen zwei Dielen. Es kostete sie einige Anstrengung, nicht weiter darauf zu achten und in Tränen auszubrechen.
Nach einem weiteren kurzen Blick nach hinten erlosch der Funken Hoffnung in ihr gänzlich. Kein Nagel war auch nur in der Nähe ihrer fixierten Handgelenke. Es gab kein Entkommen. Sie durfte nicht aufgeben! So durfte es nicht enden. Und wenn es ihre Bestimmung war?
Ihr Körper fühlte sich schwer an. Wie Stein. So sank er auch zu Boden. Hart und unbeholfen. Ihr Herz umhüllt von Aussichtslosigkeit. Sie wollte sich selbst dazu bewegen, etwas zu machen. Etwas zu ändern. An dieser Situation. Doch ihre Kraft war erloschen. Sie hatte sich aus ihrem Körper heraus gesogen.
Energie hatte sie nicht ebenso den Willen, den sie brauchte, um zu entkommen. Nicht einmal die Kraft für das hier reichte. Einfach nur zu versuchen den Nagel aus dem Spalt zu bekommen. Irgendwann würde es ihr gelingen.
Doch irgendwann konnte alles bedeuten. Es war relativ.
Heute, Morgen, doch wenn sie der Wahrheit in die Augen blickte, wusste sie, dass sie vermutlich noch als Geist hier sitzen würde. Es war ein undurchdringliches Grab. Der Tod verfolgte sie.
Sie hatte recht gehabt. Die Zukunft zerstörte. Nie hatte sie sich vorstellen können zu sterben hinsichtlich ihres ehemaligen besten Freundes. Trotzdem war sie nun hier. Geknebelt und gefesselt. In voller Verzweiflung. Jedoch nicht weinend. Nicht mehr.
Vielleicht war dies hier wirklich ihre Bestimmung. Vielleicht hätte sie Jed danken sollen. War es nicht das, was sie die ganze Zeit wollte? Sterben. Ja. Dennoch fühlte sich dies alles hier falsch an. Ihr Leben. Der Tod. Ihre falsche Freundschaft, die sie vor Jahren begonnen hatte. Im Kinderheim.
Warum – dachte sie ausgerechnet jetzt daran? War sie wirklich so verzweifelt, dass sie lieber in die verdammte Vergangenheit schaute. Eine Vergangenheit, die sie gebrochen und zerstört hatte.
Sie sollte Gefühle wie Angst, Verzweiflung oder Unsicherheit haben. Jedoch war das einzige, was sie spürte der wiederkehrende Sturm. Er tobte. Noch mehr als in den Minuten davor.
Warum war es hierzu nicht schon früher gekommen? Dann hätte sie den ganzen Mist, der davor passiert, ist nie miterleben müssen. Es gab keinen Ausweg aus der Hölle. Sie verfolgte sie. So wie der Tod.
Kayra. Ihre Schwester würde todunglücklich sein, wenn sie sie verlassen würde. Ihr Vater würde vermutlich glücklich sein.
Doch was war der Sinn des Lebens, wenn sie nicht mehr leben wollte, weil es keinen Sinn mehr hatte? Viele erzählten, das Leben sei ein Segen. Für sie war es eine Bestrafung. Eine unendliche Bestrafung, die ein Ende haben sollte. Jetzt.
Mit angestrengten Kräften zwang sie sich aufzustehen. Langsam kam sie voran. Ihr Ziel war das Lagerregal. Mit großen Augen schaute sie ein letztes Mal auf die vielen Porträts. Danach schmiss sie mithilfe ihres Kopfes das Größte herunter.
Das klirrende Geräusch erfüllte angenehm ihre Ohren. Das Bild von dutzenden von Scherben brannte sich in ihren Kopf ein. Sie lagen überall verteilt. Größtenteils waren sie so groß wie ihr Handballen, doch es gab immer wieder kleinere, die herausstachen.
Raven bückte sich. Sie konnte ihre Schwester nicht im Stich lassen. Auch wenn dies für sie bedeutete, dass sie ein beschissenes Leben führen würde.
Mit ihren Fingern griff sie nach einem der größten Scherbe. Jetzt musste sie nur noch hoffen, dass es diesmal klappen würde. Die Scherben waren spitz und Raven bemerkte, wie sie in ihre Haut einschnitten, als sie versuchte sie, als Messer zu benutzen.
Das Klebeband leistete Widerstand. Nicht genug. Denn nach einigen stillen Minuten – vielleicht auch Sekunden – wurden ihre Handgelenke von der Last befreit. Das Klebeband war gerissen und ihre Hände frei.
Mit schnellen Bewegungen riss sie das Klebeband von ihrem Mund und Füßen. Es war ein gutes Gefühl. Auch wenn es kurz schmerzte. Zuletzt entfernte sie die Reste an ihrem Handgelenk.
Sie hatte es nicht beabsichtigt. Dennoch merkte sie, wie sich ihr Mund öffnete. Aus ihm kamen die lautesten Laute, die sie jemals von sich gegeben hatte. Sie wollte Leben. Nicht für sich. Für ihre Schwester. Trotzdem, sie wollte.
Niemand hörte sie. So weit war sie gekommen. Jetzt scheiterte es an der Tür. Sie stand auf und stemmte sich ein weiteres Mal gegen sie. Nichts bewegte sich.
Seufzend ließ sie sich wieder auf den Boden sinken. Es hatte keinen Sinn. Versagt. Das hatte sie wirklich. Die Erkenntnis leben zu wollen – wenn auch nur für ihre Schwester – kam zu spät. Es war ihr Wille. Vielleicht ihr letzter. Allerdings einer, der ihrem Leben wieder Sinn gab. Auch wenn sie unglücklich wäre.
Raven hörte das Knarzen, bevor die kühle Luft sie umhüllte. Sie traute sich nicht, sich umzudrehen. Lauschend saß sie da und hörte jeden einzelnen Schritt, die die Person hinter ihr auf dem Holzboden tat.
»Was machst du hier?« Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Allenfalls Jed oder einer seiner Freunde. Nicht aber einen Fremden. Seine Stimme war kalt und ausdruckslos. Ohne wirkliche Gefühle. Und doch stark, denn sie verlieh ihr Gänsehaut.
Nachdem sie sich umgedreht hatte, bemerkte sie, dass seine grauen Augen sie durchbohrten. Als wollten sie die Antwort selbst herausfinden. Es war absurd.
Er zog eine Augenbraue hoch, worauf sie feststellte, dass sie nicht geantwortet hatte. Sie war wohl zu überwältigt gewesen. Er war ihr Retter. Er hatte sie davor bewahrt, zu sterben. Denn jetzt stand dem Weg zurück ins Leben nichts mehr im Weg.
»Nichts« Sonst mache ich dich fertig. Die Drohung hatte sie nicht vergessen und würde es vermutlich auch nie tun. Der immer skeptischere Blick ihres Gegenübers ließ sie wieder an ihrem Ärmel zupfen.
Sie hatte sich immer noch nicht erhoben und es kostete sie einige Anstrengung jedes Mal nach oben zu blicken.
Ohne ein weiteres Wort drängte er sich an ihr vorbei und ging ebenfalls in die Hocke. Direkt vor den Scherben saß er, mit dem Rücken abgewendet. Trotzdem meinte sie ein Lächeln zu erkennen. »Warst du das?«
Er hatte zwar gelächelt, doch das bedeutete nichts. Zögerlich schüttelte sie den Kopf. Wenn sie nichts Falsches sagte, konnte sie schnell gehen. Freiheit. Der erste Gedanke, der ihr kam. Sie musste nur noch den Fragen des Jungen antworten, dann wäre sie frei.
Es konnte nicht mehr lange dauern. War das Vorfreude, die sich in ihrem Inneren verbreitete?
»Du blutest« In seiner Stimme war ein Hauch von Angst. Er zog ein Tuch aus der Jeans und reichte es ihr. So nett war schon lange niemand mehr zu ihr gewesen. »Es ist nicht schlimm« lehnte sie dankbar ab und drehte die Handfläche weg von ihm. Warum war er so nett zu ihr? Sie war eine Fremde, die vermeintlich irgendwo eingebrochen war.
»Nimm es und wisch deine Spuren weg. Sie könnten dich sonst finden.« Das Tuch befand sich immer noch in seiner Hand, jetzt aber fast direkt vor ihrer etwas blutenden Hand.
Doch wen meinte er mit sie? Kannte der Junge etwa Jed oder seine Freunde? Raven hatte ihn noch nie an der Schule gesehen. Er musste allerdings in etwa genauso alt sein wie sie. Vielleicht ein Jahr älter. Höchstens.
Nachdem sie sich in ihren Gedanken verloren hatte, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen und nicht auf die Bitte des Jungen einging, wickelte er selbst das hellblaue Tuch um ihre Hand.
Erst jetzt fielen ihr die goldenen Verzierungen auf, welche wohl mühsam von Hand eingearbeitet sein mussten.
Sie konnte einen einzelnen Buchstaben ausmachen. Daneben mussten sich noch weitere befinden. Erahnte sie aufgrund der abgeschnittenen goldenen Verzierungen daneben, die, für sie wie abgebrochene Buchstaben aussahen.
Stimmen. Sie waren ganz dicht an ihrem Ohr. Auch der Junge musste sie bemerkt haben, denn er schrak hoch und hielt ihr die Hand hin. Zögernd ergriff Raven sie und wurde mit einer kräftigen Bewegung nach oben gezogen.
»Sie kommen.« Seine Lippen bewegten sich beinahe lautlos und sie hatte Schwierigkeiten ihn zu verstehen.
»Wer?« Fragte sie. Zu laut. Er presste seine Hand gegen ihren Mund. Ein weiteres Mal wurde ihr das Wort verboten.
Sie spürte, wie er sie näher zu sich zog. Dann rannten seine Beine. Ihre flogen. Immer wieder spürte sie festen Boden, doch jedes Mal wurde sie von ihm weggerissen.
Die Worte wurden immer ferner. Bis sie sich schließlich endgültig in der kalten Nacht verloren gingen.
Der Halt kam plötzlich. Fast wäre sie gegen einen Baum gerannt. Atemlos blickte sie um sich. Wo waren sie hier?
Sie konnte nur dichtes Blattwerk ausmachen, welches die Sterne bedeckte. Der Junge war nicht mehr als ein weiterer Schatten, der mit der Nacht verschmolz. Raven war sich bewusst, dass sie vermutlich ähnlich aussehen musste.
»Du hättest nicht dort sein dürfen. Sie hätten dich erwischen können! Geh nach Hause und bleib dort. Sei für deine Familie da. Denn wenn du so weiter machst, wirst du es bald nicht mehr sein können.«
Bedrohlich kam er näher. Bedrohlich wie seine Stimme. Die Stimme, die durch den ganzen Wald hallen musste, als er sie anbrüllte. Wenn sie wüsste, warum. Was hatte sie falsch gemacht?
»Was soll das?«
»Geh! Solange ich dich noch dazu lasse.«
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