𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙸𝙸𝙸

Neben den Lettern prangte eine einfache Zeichnung. Sie war mit einem roten Stift gezeichnet.

Zuerst fand Raven die Zeichnung merkwürdig, weil es für sie nur ein großer Strich war, von dem unten zwei kleinere wegführten und ein Dach bildeten. Etwas über der Mitte führten zwei weitere Striche nach oben. Sie waren kleiner als die anderen und bildeten ein Dach. Doch anders als das untere zeigte die Sputze nach unten. Oben, wo der Strich aufhörte, war der Mensch, der dies gezeichnet hatte, mehrmals mit dem roten Stift darüber gegangen. Somit hatte diese Stelle einen besonderen Ausdruck.

Nach einer Weile stellte sie allerdings fest, dass es ein Strichmännchen ohne Kopf sein musste. Sie schluckte schwer. Wollte irgendjemand da draußen sie Tod sehen? Warum? Raven zupfte an ihrem Ärmel und schaute die Zeichnung an.

Sie wollte ihren Kopf davon abwenden, vergessen, dass es da draußen jemanden gab, der sie Tod sehen wollte – außer sie selbst, aber sie konnte nicht.

Starr blickte sie auf die Zeichnung und hielt unbewusst den Atem an. Erst als sie sich dazu zwingen konnte, die Letter anzuschauen, merkte sie wieder den ungleichmäßigen Rhythmus ihres Atems.

𝐖𝐢𝐫 𝐰𝐨𝐥𝐥𝐞𝐧 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐝𝐞𝐧 𝐓𝐨𝐝, 𝐬𝐨𝐧𝐝𝐞𝐫𝐧 𝐝𝐞𝐧 𝐊𝐨𝐩𝐟. 𝐁𝐫𝐢𝐧𝐠 𝐮𝐧𝐬 𝐰𝐚𝐬 𝐰𝐢𝐫 𝐰𝐨𝐥𝐥𝐞𝐧 𝐨𝐝𝐞𝐫 𝐰𝐢𝐫 𝐡𝐨𝐥𝐞𝐧 𝐞𝐬 𝐮𝐧𝐬.

Erschrocken wich sie zurück und ließ den Zettel fallen. Er segelte ruhig in aller Gemütlichkeit zu Boden. Als wüsste er nicht, was für eine schwere Last er trug. Als wüsste er nicht, dass er alles zerstörte.

Wenn sie alleine gewesen wäre, hätte sie aufgeschrien, doch das war sie nicht. Nicht ganz. Hastig schlug sie ihren Spind zu und hob die Drohbotschaft auf und stopfte sie in ihren Rucksack. Ganz sicher wollte sie jetzt nicht mehr die restlichen lesen.

Mit schnellen Schritten verließ sie den Platz, wo sie vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte. Immer wieder schaute sie nach hinten. Aus Furcht, ihr würde jemand folgen, der ihren Kopf wollte.

Ihr Leben war schon beschissen genug, da brauchte sie etwas ganz sicher nicht. Neugierig – wer es war, war sie nicht. Denn wer die Wahrheit wollte, musste immer mit etwas Schrecklichem rechnen.

Sie hatte gerade die schweren Türen der Schule hinter sich gelassen, als sie vor sich eine bekannte Gestalt wahrnahm. Sie lehnte an einem Baum und unterhielt sich mit mehreren Leuten. Allesamt waren ihr bekannt. Mehr als ihr lieb war.

Bemüht nicht aufzufallen, lief sie in die entgegengesetzte Richtung. Es würde länger dauern, aber immerhin würde sie nicht auf ihre Feinde treffen. Eigentlich hasste Raven das Wort Feinde, es passte jedoch einfach zu gut.

Ihre Beine trugen sie von selbst so schnell wie möglich aus der Situation. Eine Begegnung wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Doch das Glück war nicht auf ihrer Seite. Wenn es überhaupt Glück gab. Und wenn sie genau überlegte, hatte sie nie Glück.

Mit verrenkten Armen stellte sich der Junge, welcher am Baum gelehnt hatte, vor sie. Er hatte einen hellblauen Pullover, kombiniert mit einer beigen, weiten Hose.

Seine leicht lockigen, braun - blonden Haare wehten sanft im Wind der aufkommenden Böe. Er grinste sie verschmitzt an. Früher hatte es noch eine andere Bedeutung gehabt. Eine schöne, aber jetzt – verhieß das sicher nichts Gutes.

»Was willst du?« Ihr gelang es nicht, die Stimme nicht beben zu lassen. Das Zittern unterstrich ihre Gefühle.

In seinen strahlend blauen Augen lag etwas Zufriedenes. Er hatte die Mundwinkel leicht nach oben.

Von einem auf den anderen Moment spürte sie, wie seine Finger sich um ihre Arme schlangen und er ihren Rucksack gewaltsam herunter zerrte. Raven schrie leise auf, als sein Griff immer fester wurde.

Sie wollte sich losreißen und wegrennen. Doch er war zu stark.

Bewegungslos musste sie mitanschauen, wie seine Freunde ihren Rucksack öffneten und ihr Handy herauszogen. Ein Junge mit schwarzen Haaren hob es in die Höhe und begutachtete die Hülle kritisch.

Raven spannte ihre Muskeln an und versuchte sich ein weiteres Mal von dem festen Griff zu befreien. Diesmal gelang es ihr. Jed musste wohl zu fixiert auf ihr Handy gewesen sein.

Überrascht weiteten sich seine Augen und er taumelte wenige Schritte rückwärts. Nachdem er sich gefasst hatte, nahm er ihr Handy und holte das Bild aus ihrer Hülle. Das Bild, wo ihrer Mutter in die Kamera lächelte. Jenes, welches ihr so viel Schmerz bereitet hatte.

Er teilte es. Erst in zwei Hälften. Dann in drei. Bis auch das letzte Stück zu Boden gerieselt war.

Tränen flossen ihr über die Haut. Ihr Magen drehte sich um, als sie die restlichen Fetzen Papier im Wind davon tragen sah.

Es war eine Reaktion. Nie hatte sie das beabsichtig. Es kam einfach aus ihrem Inneren. Es war eine Art Abwehr. Sie konnte nichts dagegen tun, als ihre Hand sich anspannte und sich zu einer Faust formte.

Mit all den Gedanken im Hinterkopf, was er ihr je angetan hatte und was er gerade getan hatte. Das einzige Bild, was von ihrer Mutter in ihrem Besitz war. Zerstört. All diese Gedanken gaben ihr vermutlich die Kraft hierfür. Denn sonst hätte sie nie die Kraft gehabt.

Sie war gebrochen worden. Tag für Tag. Aber jetzt fühlte es sich an, als würde sie ihre verdiente Rache bekommen. 

Ihre Faust stoß auf Widerstand. Sie tat zugegebener Maßen weh, aber die Befriedigung stillte ihren Schmerz. Besonders während ihre Augen genugtuend funkelten. Jed war durch die plötzliche Wucht nach hinten getaumelt und krümmte sich.

Die Mundwinkel von ihre zogen sich weiter nach oben. Sein schmerzerfülltes Gesicht nahm sie mit jeder Sekunde auf. »Was steht ihr noch so blöd rum?« Er hatte sichtlich Mühe, in einem ganzen Satz zu reden, denn bei jedem Wort krümmte er sich erneut und setze eine Grimasse auf.Raven wollte ihren Rucksack aus den Händen der fassungslosen Jungen schnappen, doch einer von ihnen packte sie an den Haaren. Bevor sie sich versuchte aus dem Griff zu winden erhaschte sie einen blick auf seine eiskalten, braunen Augen.

Das dauerhafte Ziehen an ihrer Kopfhauf wurde immer anstrengender. Es kostete sie immer mehr Mühe, die Position so zu ändern, dass der Schmerz noch aushaltbar war. 

Hände berührten ihre Arme und drückten sie verschenkt zueinander. Sofort schoss eine stechende Qual durch ihre Arme. Das Stechende wurde zwar weniger, dafür aber schlich sich der Schmerz nun langsam durch ihre Arme, bis er ihre Oberarme erreichte.

Schleichend, aber immer da. Immer mit einer Bedeutung.

Ihr Körper wurde nach vorne gestoßen. Dabei strich ihre Wange an eine Wand. Der Schmerz war kleiner als jener, der sie durchgehend verfolgte, doch es war demütigend.

Energisch wurde sie von den Händen gestoßen. Stolpernd kam sie ungelenk auf dem Boden auf. Etwas Nasses tropfte auf ihre Haare. Nach vielen Augenblicken wiederholte sich das Gefühl.

Erst jetzt bemerkte sie, was es war. Jed stand über ihr und spuckte voller Abscheu auf ihren Kopf. Sie tat nichts. Denn ihre erste Befriedigung hatte sie jetzt in diese Lage gebracht.

Es war purer Hass, der in ihren Augen aufloderte, als sie ihm in die Augen blickte. Seine blauen Augen zeigten keine Regung. »Es gefällt dir nicht wahr?« Lachte er.

Nein, tat es nicht. Sie schwieg, denn Reden würde alles schlimmer machen. Mit ihnen Zähnen biss sie sich auf die Lippen. Nur so gelang es ihr nicht zu stark zu zittern oder aufzustehen und ihn anzubrüllen.

Ihre Augen nahmen das plötzlich aufleuchtende Licht wahr. Es hatte sofort ihre Aufmerksamkeit. Auch wenn es nur das Handy von ihm war. Das Display war so von ihr abgewandt, dass sie kaum etwas erkennen konnte.

Doch dadurch, dass das Licht auch die Umgebung etwas erhellte, konnte sie nun die Hülle mustern. Es lenkte sie ab. Davon, dass an ihren Haaren gezogen wurde, sie immer wieder gegen die Wand gepresst wurde und dutzende Male beschimpft wurde.

Einfach fokussiert bleiben. Einfach nicht auf diese Mistkerle hören. Doch was war, wenn sie recht damit hatten? Mit allem. Im Grunde war sie doch hässlich, dumm und für nichts zu gebrauchen.

Ihr Verstand sagte ihr, sie solle damit aufhören, ihnen zuzuhören. Ihr Herz jedoch war nicht standhaft genug, um alles an sich vorbei ziehen zu lassen ohne Wirkung. Nicht ohne an sich noch mehr zu zweifeln, als sie es schon tat.

Fokus! Sie brauchte ihn und zwar dringend. Die Handyhülle. Das Einzige, was für sie ein Ausweg schien. Es war ein Artlogo. So zumindest sah es für ihre Augen aus.

Doch es war merkwürdig. Für sie sah es wie ein Auge aus, in welchem sich etwas leicht spiegelte. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie mehrere Menschen, die in exakten Reihen standen. Ihr wurde erst später bewusst, dass dies keine normalen Menschen waren. Sie waren aus Holz. Mithilfe mehrerer Nägel waren Einzelteile zusammen gebracht worden. Einzelnen Holzfiguren fehlte der Kopf. Es war ein erschreckendes Bild. Vor den Reihen stand eine Frau mit schulterlangen, hellblonden – fast weißen – Haaren.

Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr Herzschlag hämmerte gegen den Brustkorb und wurde immer schneller. Verdammt, nein! Erneut hatten sich Hände gegen ihre Arme gepresst. Diesmal mit mehr Nachdruck.

Ihr Kopf wurde zur Seite gedreht und berührten die Holzdielen. Ein Splitter stach in die helle Haut. Im Augenwinkel vernahm sie das Aufleuchten eines Displays. Sie konnte nur erkennen, wie Jed sich im Raum umblickte und dann auf sein Handy schaute.

Sie konnte nur die letzte Nachricht erkennen, bevor ihr Kopf zu der anderen Seite gedreht wurde. 𝑯𝒆𝒖𝒕𝒆 𝑵𝒂𝒄𝒉𝒕.

Ihr Kopf krachte zur Seite. Die Stelle, wo der Splitter immer mehr in ihre Haut gedrückt wurde, brannte. Mit jedem Atemzug mehr.

Etwas Nasses berührte ihr Gesicht. Ihre Augen weiteten sich, nachdem sie Jed dabei beobachtete, wie er auf sie mit voller Abscheu spuckte.

Demütigung. Reine Demütigung. So wie sie festgehalten wurde und belastet wurde. Physisch und psychisch. Wie sie beleidigt wurde. Schimpfwörter fielen. Viel zu viele. Sie versuchte jedes einzelne Wort, das gesprochen wurde, auszublenden. Zu vergessen. Doch es gelang ihr nicht. Nicht in diesem Moment und auch nicht in dem nächsten.

»Hört auf – bitte.« Es war ein einziges Krächzen, was aus ihrem Mund kam. Und dennoch hörte man die Verzweiflung darin. Verwunderlicherweise ließen sie von ihr ab. Sie hatte nicht die Kraft aufzustehen. Deswegen drehte sie ihren Kopf und blieb liegen.

»Was immer du befiehlst.« Jed lächelte sie dabei verschmitzt an.

Hastig griff er mit seinen Fingern nach dem Klebeband, welches er aus seinem Pullover zog. Er kniete sich auf den Holzboden neben ihr. Die Dielen knarzten dabei. Ohne eine Anweisung nahm sein Freund ihre Arme und hielt sie auf dem Rücken zusammen.

Ich bin tot, aber das sagt nicht darüber aus, was ich in der Welt bewirke oder bewirkt habe. Ich rede nicht von dieser Welt. Ich rede von einer Welt, die noch fern ist, aber glaube mir, manche Leute würden alles tun, um Kontrolle zu erlangen. 

Sie würde auch sterben. Heute. Doch sie hatte anders als ihre Mutter nichts bewirkt und würde es auch nie tun.

Das Gefühl war unangenehm. Doch Jed verstärkte dieses Gefühl. Erst langsam, dann immer schneller wickelte er das Klebeband um ihr Handgelenk. So fest wie er nur konnte.

Sie wurde unsanft nach vorne geschoben. Das Holz kratze an ihrer Haut. Ihr Instinkt riet ihr, sich zu wehren, doch ihre Vernunft war größer.

Immer mehr spürte sie auch das Klebeband an ihren Beinen. Sie waren so fixiert, dass sie sich kaum mehr bewegen konnte. Ihr Kopf wurde gedreht. Sie sah, wie Jed mit einem großen Stück auf sie zu kam.

Es bedeckte gänzlich ihren Mund. Denn sie merkte, wie ihre Lippen dadurch aufeinandergepresst wurden und sich nicht mehr öffnen ließen.

Die beiden ließen von ihr ab, doch Jed stand nicht auf. Er musterte sie eindringlich, bevor er sich nah an sie beugte. Sie konnte seinen Atem spüren und hören. Genau wie seine Worte.

»Falls du hier rauskommen solltest. Wage es ja nicht, irgendjemanden zu erzählen. Sonst mache ich dich fertig!«

Dann schloss er die Türe. Ein Geräusch und eine böse Vorahnung bewegte sie dazu aufzustehen, was sie als schwieriger als gedacht herausstellte.

Zuerst zog sie ihre Beine zu sich, und nach einiger Anstrengung schaffte sie es auch, ihren Oberkörper aufzurichten. Mithilfe ihrer Hand, die ihr zumindest ein wenig Halt gaben.

Sie stemmte sich gegen die Türe. Verschlossen.


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